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no. 3: unkultur -> artaud - jenseits von kunst und kultur
 

"Es ist hart und schwer, mich zu lieben"

Jenseits von Kunst und Kultur: Antonin Artaud

von Alexander Schlutz

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Es hat ohne Zweifel etwas Voyeuristisches, in einer Kulturzeitschrift über Unkultur schreiben zu wollen -- so als ginge man in den Zoo, um im sicheren Abstand der Gitterstäbe den Atem des Tigers zu schnuppern. Antonin Artauds radikaler Angriff auf die Grundlagen dessen, was wir Kultur nennen, erlaubt es dem Voyeur jedoch nicht, die eigene Position unhinterfragt zu lassen: Er untergräbt die scheinbare Sicherheit der Unterscheidung von Kultur und Unkultur selbst.

 
"Man soll mich doch in Ruhe scheißen lassen."
Antonin Artaud

 

"Was heißen soll, daß ich, der Verrückte und der Momo, 9 Jahre lang wegen Ausübung von Exorzismus und Magie in der Irrenanstalt festgehalten, und weil ich mir angeblich vorstellte, eine Magie gefunden zu haben, und das verrückt war,
man muß glauben, daß das stimmte,
denn keinen einzigen Tag während der 3 Jahre meiner Internierung in Rodez, Aveyron, hat Dr. Ferdiére versäumt, um halb 11 morgens, zur Zeit der Visite, zu kommen und mir zu sagen:
Herr Artaud, alles was sie wollen, aber die Gesellschaft kann nicht akzeptieren, und ich bin hier der Vertreter der Gesellschaft.
Wenn ich verrückt war, bei meinen magischen Praktiken, was kümmerte es dann die Gesellschaft, die sich doch weder betroffen noch verletzt fühlen konnte und die mich nur zu verachten und zu vernachlässigen brauchte."[Anm. 1]

Wo es aber um den Widerstreit von Kultur und Unkultur geht, da kann es keine schweigsame Duldung, sei es auch aus Verachtung, und erst recht keine Toleranz geben. An dieser, durch den Begriff Kultur selbst gesetzten Grenze ist immer das System Gesellschaft als Ganzes in Frage gestellt, das sich über "seine" Kultur definiert und offenen Widerspruch gegen die Grundlagen seiner Werte nicht akzeptieren kann, ohne diese Voraussetzungen aufzugeben. Schon das Wort Un-kultur impliziert die Un-möglichkeit der Kommunikation: So verschieden die Kulturbegriffe im einzelnen auch sein mögen, so beruhen sie doch letzten Endes alle darauf, daß Kultur die gemeinsame Praxis einer Gruppe von Menschen ist, unabhängig davon, wie weit oder eng diese Praxis dann anschließend gefaßt wird. Die Vorsilbe "Un-" aber schließt von dieser Praxis radikal aus, von ihrer Grenze an ist kein Reden mehr möglich, denn eine gemeinsame Sprache garantierte ein Minimum an gemeinsamer Kultur und von Unkultur kann so keine Rede sein. In der Kommunikation ist Unkultur immer schon aufgehoben und mutet so entweder der Kultur zu, einzugestehen, daß sie von ersterer so radikal nicht verschieden ist, oder sie assimiliert die Unkultur in einer Weise, die diese mit der Differenz auch jede Identität verlieren läßt. Wo aber grundsätzlich die Kommunikation verweigert wird, bleibt schließlich nur offene Gewalt -- auf der einen wie der anderen Seite:

"Dr F., leitender Arzt der Anstalt von Rodez, hat von der Aufseherin 1 gr Heroin konfisziert, das sie mir bringen wollte, hat sie gleichfalls unter Entlassungsandrohung in seinem Büro genommen und hat mir vier Abfolgen von Elektroschocks aufgezwungen, daß heißt 40 Komas den bereits 10 vorausgegangenen hinzugefügt, denen er mich unterzogen hat, weil ich ihn um 25 Tropfen Laudanum bat. -- Ah das nun nicht, zum Beispiel, Herr Artaud, ich werde ihnen kein Laudanum geben, sondern ihnen ganz im Gegenteil Elektroschocks verabreichen; und ich bin der Insulintherapie entkommen, eine weitere Behandlung tiefster Erniedrigung, weil ich ihm sagte, daß ich ihn erdrosseln würde, wenn er fortführe, mich für krank zu halten und mich behandeln zu wollen."[Anm. 2]

An dieser Grenze stellt auch die Kunst, Mittel der Selbstreflexion und Grenzüberschreitung, keine Ausdrucksmöglichkeiten mehr zur Verfügung:

"denn mir ist plötzlich klar geworden, daß die Zeit vorbei war, Menschen in einem Theater zu versammeln, selbst um ihnen Wahrheiten zu sagen und daß man mit der Gesellschaft und ihrer Öffentlichkeit keine andere Sprache mehr sprechen kann als die der Bomben, der Maschinengewehre, der Barrikaden und allem, was daraus folgt."[Anm. 3]

Und das obwohl der Krieg, der hier erklärt wird, der Bewegung der modernen Kunst immer schon eingeschrieben ist: das radikal Neue und damit das radikal Individuelle fordernd, entsteht sie ständig in Kritik und Verneinung der etablierten Formen der gesellschaftlichen Kommunikation und ist damit, im Gegensatz zu anderen Formen der Kunst grundsätzlich anti-sozial. Die Konfrontation mit Artaud ist unweigerlich mit der Frage verbunden, wie weit man diesen Implikationen zu folgen bereit ist, die Artaud an ihre äußerste Grenze führt, wo sie den Sicherheitsbereich "Kunst" verlassen und ins Leben umschlagen:

"Mach' revolutionäre Kunst, aber mach' Kunst,
trage die Revolution nicht ins Leben, wo man dich dafür umbringt.
Dies höre ich mich durch das okkulte Bewußtsein Aller Tag und Nacht sagen."[Anm. 4]

Kunst, selbst in ihrer kritischen Funktion, beruht stets auch auf einem Pakt mit der Gesellschaft, eben Kunst zu bleiben -- ein Pakt, an den Artaud sich nie gehalten hat und auch nicht halten konnte, stand doch für ihn immer weit mehr als nur eine Poetologie auf dem Spiel. Die Texte Artauds, wie auch seine Zeichnungen, Inszenierungen und Radiosendungen sind -- und sei es auch in seiner Zerstörung -- nicht auf den Rahmen der Ästhetik zu beschränken. Es geht in ihnen vielmehr um eine radikale Verneinung und Vernichtung der scheinbar unhintergehbaren Auffassungen grundlegender Aspekte menschlichen Daseins und Zusammenlebens, wie Subjekt, Körper, Denken und Sprache, um so der Existenz eines ganz Anderen Raum zu geben, das Gesellschaft und Kultur zugunsten ihres Funktionierens ausschliessen und das zu beschreiben das Wort Unkultur genauso unangemessen ist wie jedes andere.

"Ja, die ganze Erde behext// Artaud// um zu leben// und sie lebt nur vom täglichen Tod// Artauds//"[Anm. 5]

So ist dieses ganz andere eben Antonin Artaud, Artauds erlebte Existenz außerhalb sozialer, kultureller und kommunikativer Strukturen, Strukturen, die auf der Negierung eben dieser Existenz beruhen, welche sich in ihnen nicht auszudrücken vermag, in ihnen stirbt und einer toten Hülle, einer leeren Maske Platz macht. Die immerwährende Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft spielt sich hier auf ihrer grundlegendsten Ebene ab: Die Identität, die die Gesellschaft dem Individuum abfordert und die schon der Benutzung der Sprache und dem Wort "Ich" eingeschrieben ist, empfindet Artaud im Wortsinne als körperliche Vergewaltigung. Der Widerstand der Kunst oszilliert mit der Erfahrung der Schizophrenie, bei der die Sprache der Gesellschaft ganz unmetaphorisch den eigenen Körper in Besitz nimmt und strukturiert.

"Ich will sagen, daß die Zwietracht, die sich von allen Seiten erhebt, meinen Körper nicht intakt läßt, ich werde davon befallen wie von einem Krampfaderbruch, von einem Tripper, UND DAS MAG ICH GANZ UND GAR NICHT."[Anm. 6]

Artaud benutzte Schreie, Glossolalien und schlug rhythmisch mit einem Hammer auf einen Stein ein, um diese Fremdeinflüße wieder zu exorzieren und sich der eigenen Existenz erneut zu versichern.

Existieren und dieser Existenz Ausdruck geben ist so nur im Akt der Zerstörung des gesellschaftlichen Diskurses erreichbar, weshalb es auch -- erst recht in einer Kulturzeitschrift -- unmöglich ist, über Artaud schreiben zu wollen. Jegliches Schreiben verbleibt unweigerlich im sicheren Hafen von Kunst und Kultur, entschärft den Sprengsatz Artaud und erweist sich so möglicherweise als die eigentliche Form der Unkultur: Nichts in seiner Alterität bestehen zu lassen, sich alles anzueignen und so in dem sicheren Wissen voranzuschreiten, von nichts aus der Bahn geworfen werden zu können.

Schlimmer wohl nur der Versuch, wie Artaud zu schreiben und seiner Singularität die Lächerlichkeit einer Karikatur aufzuzwingen. "Ich bin allein", -- dieser Gewißheit Artauds ist nichts hinzuzufügen. Mit Artaud zu schreiben ist ein Ausweg, den Roland Barthes vorschlug, doch Bernard Lamarche-Vadel, dessen Buch Barthes' Ansicht nach diesen Ausweg zu verwirklichen schien, nahm letztlich doch von der Veröffentlichung Abstand. Will man mehr, als nur auf Artaud hinzuweisen -- die Edition der OEuvres Complétes umfaßt mittlerweile 26 Bände -- fällt es schwer, ihm gerecht zu werden. "Alles Schreiben ist eine Schweinerei", stellte Artaud schon 1925 in Die Nervenwaage fest: durch Schweigen wird diese Schweinerei jedoch nicht beendet. -- Wenn es so auch nicht mehr sein kann, als eine hilflose Krücke und immer schon dem Schreiben über ihn zu nahe steht, ist es vielleicht doch möglich, zumindest bruchstückhaft von Artaud zu berichten:

Antonin Artaud wurde am 30. September 1937 in einer Zwangsjacke in das Zentralkrankenhaus von Le Havre eingeliefert, nachdem er auf der Überfahrt aus Irland auf dem Dampfer Washington zwei Crewmitglieder angegriffen hatte, die aus ungeklärten Gründen mit einem Schraubenschlüssel in seine Kabine eingedrungen waren. Mit diesem Ereignis begann eine Internierungszeit von neun Jahren, die Artaud in verschiedenen psychiatrischen Anstalten Frankreichs verbrachte, bis im Frühjahr 1946 Freunde mit dem Verkauf von Bildern und Benefizveranstaltungen genug Geld ersteigerten, um ihm ausreichenden finanziellen Rückhalt und somit die Entlassung zu ermöglichen.

Die Überfahrt aus Irland mußte Artaud aufgrund seiner Ausweisung antreten: Die letzten Tage seines Aufenthaltes hatte er im Mountjoy Gefängnis von Dublin verbracht, in dem er nach mehreren provozierten Handgemengen und Schlägereien mit Polizeieinsatz als Obdachloser schließlich landete. Seine Irlandreise, die zweite mythologische Reise nach einem zehnmonatigen Aufenthalt in Mexiko 1936, hatte Artaud sechs Wochen zuvor in der Gewißheit einer kurz bevorstehenden Apokalypse angetreten. Er besaß zu dieser Zeit einen alten, knorrigen Stab, der angeblich St. Patrick gehört haben sollte und den er dem irischen Volk als Zeichen und Auslöser der Revolution überbringen wollte. Den herannahenden Weltumsturz hatte Artaud bereits im Juni 1937 in Die neuen Offenbarungen des Seins angekündigt, einer Sammlung von auf Tarot-Karten basierenden Prophezeiungen. In der Einleitung zu diesem Text wird die Radikalität der Trennung Artauds von der Gesellschaft und die Kompromißlosigkeit seiner Haltung unmißverständlich deutlich:

"Man muß aufhören. Man muß endlich mit dieser Welt brechen, die ein Wesen in mir, dieses Wesen, das ich nicht mehr nennen kann, da ich, wenn es kommt, in die Leere stürze, dieses Wesen immer schon verweigert hat. Es ist getan. Ich bin wirklich in die Leere gestürzt, seitdem alles -- was diese Welt ausmacht -- aufgehört hat, mich zur Verzweiflung zu bringen. [...] Es ist ein wahrhaft Verzweifelter, der zu Ihnen spricht und der das Glück, auf der Welt zu sein, erst jetzt erkannt hat, da er diese Welt verlassen hat und da er von ihr absolut getrennt ist.
Tot sind die anderen nicht getrennt. Sie kreisen noch um ihre Kadaver. Ich bin nicht tot, aber ich bin getrennt."[Anm. 7]

Diese Sätze und die apokalyptischen Visionen, die ihnen folgen, wirken wie der Schlußstrich unter eine Entwicklung, die Artaud im Vorjahr nach Mexiko geführt hatte. Der Ekel vor der Kultur der bürgerlichen Industriegesellschaft und der Versuch, mit poetischen Mitteln eine reinigende Katastrophe zu provozieren, hatten bereits Artauds Theatermanifeste durchzogen. Nach dem Scheitern seiner Theaterprojekte in Paris hoffte Artaud, fasziniert von der Kultur der Azteken, im Jahre 1936 darauf, an einer Revolution Mexikos gegen den europäischen Einfluß mitzuwirken und dazu beizutragen, die mexikanische Kultur der Zeit vor der spanischen Eroberung im Jahre 1519 wiederherzustellen. Auch hier setzte Artaud eine Grundtendenz der Moderne radikal in die Praxis um: auf Negation und Kritik aufgebaut, negiert sie notwendig auch sich selbst und gebiert so stets die Anti-Moderne, die nicht ihr Gegenpol, sondern ihr integraler Bestandteil ist. Von der Romantik bis zum Interkulturalismus gehört der Blick auf das Andere (der Vergangenheit, der Zukunft oder der Ferne) zur Moderne mit dazu: auf der Suche nach Heilung von Rationalismus, Individualismus und Fortschritt, den nicht rückgängig zu machenden "Fehlern" der eigenen Kultur. Artaud aber bleibt nicht, wie so viele andere, bloßer Nostalgie verhaftet. Der Aufenthalt in Mexiko sollte ihm vielmehr die Energien für einen weiteren Anlauf verschaffen. So schreibt Artaud aus Mexiko an seinen Freund Jean-Louis Barrault:

"Tatsächlich haben nur wenige das Ziel meiner Reise nach Mexiko begriffen. Es ging nicht darum, das Leben zu verändern und aus Frankreich zu fliehen, wo ich keinen Platz mehr finden konnte. [...] Ich bin hierhin gekommen, die Mittel zu finden, um bei meiner Rückkehr in Frankreich in Sicherheit zu leben. Und es wird notwendig sein, daß die Dinge sich ändern, um jeden Preis. Ich bin also nach Mexiko gekommen, um die Kraft zu finden, und die Kräfte, um auf diese Veränderung zu drängen."[Anm. 8]

Und für Artaud ging es immer schon um mehr als eine bloße Wahl zwischen unterschiedlichen Kulturen. Sein Ziel war vielmehr die Unterminierung des von ihm erfahrenen Kulturbegriffs, dessen Beschränkung auf die Hochkultur, die Beaux Arts et Belles Lettres vor allem für ihn nicht tolerierbar war. So schreibt Artaud in Das Theater und die Kultur, dem Vorwort des Bandes Das Theater und sein Double:

"Bevor ich wieder auf die Kultur zurückkomme, gehe ich davon aus, daß die Welt Hunger hat und sich nicht um die Kultur kümmert; und daß man künstlich Gedanken auf die Kultur hinführen will, die auf nichts anderes gerichtet sind, als den Hunger."[Anm. 9]

Artauds Theatermanifeste sind ein Protest gegen die Vernachlässigung dieser vitalen Kraft und der im Begriff der Hochkultur implizierten Trennung zwischen Kultur und lebensnotwendigen Bedürfnissen. Sie fordern, wie auch andere Avantgarde-Bewegungen, die Rückbindung von Kunst und Kultur an das Leben:

"Protest gegen die getrennte Vorstellung, die man sich von der Kultur macht, als gäbe es die Kultur auf der einen Seite und das Leben auf der anderen; und als wäre die wahre Kultur nicht ein ausgefeiltes Mittel, das Leben zu verstehen und auszuüben."[Anm. 10]

Schrift, Sprache und Literatur als wichtigste Grundlagen des bürgerlichen Kulturbegriffes legten für Artaud den vitalen Möglichkeiten des Theaters die größten Fesseln an, und so gilt es in der Betonung der Körperlichkeit des Theaters (in die die expressiven Elemente der Sprache eingeschlossen sind) die Vormacht dieser Repräsentationsmittel zu zerstören, um das Theater von einem gelangweilten Nachbeten kulturell sanktionierter Texte wieder zu einer relevanten Praxis zu machen:

"Die Sprache zerschlagen, um das Leben zu ergreifen, heißt Theater zu machen oder erneut zu machen; [...] Ebensogut gilt es zu verstehen, daß es sich, wenn wir das Wort Leben aussprechen, nicht um das Leben handelt, wie es in der Äußerlichkeit der Tatsachen erkannt wird, sondern um jene zerbrechliche und lebendige Flamme, die die Formen nicht berühren. Und wenn es in dieser Zeit noch etwas Höllisches und wirklich Verfluchtes gibt, so ist es, sich künstlerisch mit Formen aufzuhalten, anstatt wie Hingerichtete zu sein, die man verbrennt und die auf ihren Scheiterhaufen Zeichen geben."[Anm. 11]

Um in einer industrialisierten Gesellschaft die Kraft der Mythen und Träume wieder sichtbar zu machen und den Blick auf eine unmenschliche und gefährliche Wirklichkeit zu eröffnen, in der die Sicherheiten der bürgerlichen Alltagswelt nichts zählen, müssen jedoch nicht nur die Grenzen von Kunst und Kultur in diesem Rahmen überwunden werden, das Theater muß sich auch einen neuen Mythos schaffen, da es zwar dessen Kräfte freisetzen soll, sich aber nicht mehr auf seine (vorindustriellen) Formen berufen kann. Artauds metaphysisches Theater, das, ohne dabei jedoch sakral oder religiös konzipiert zu sein, sich sprachlicher Kommunikation verwehrend wieder zu einer rituellen Praxis, zu einem magischen Geschehen werden sollte, muß im Paris der 30er und 40er Jahre ohne die einende Grundlage der Mythen auskommen. Es kann so nur in der übermenschlichen Anstrengung einer wohlkalkulierten und konstanten Zerstörung jeglicher Formen Wirklichkeit werden und den billigen Ausweg einer vorgefertigten Alternative nicht bieten. Ohne genügend ausgebildete Schauspieler und bei vollkommen ungeeigneten Bühnenvoraussetzungen verfehlte Artauds Projekt sein ehrgeiziges Ziel und rief Gelächter hervor, anstatt zur Triebfeder einer kulturellen Umwälzung zu werden.

Das Scheitern des Theaters der Grausamkeit warf Artaud verbittert auf sich selbst zurück und machte seine Mission mehr und mehr zu einer persönlichen, die in der Teilnahme am Tutiguri-Ritual der mexikanischen Tarahumara-Indianer ihren vorläufigen Höhepunkt fand.

Persönlich im engsten Sinne des Wortes aber war Artauds Auseinandersetzung mit der Sprache und den konventionellen Mitteln der Repräsentation und Kommunikation immer schon gewesen: die Erfahrung, der eigenen Person, dem eigenen Denken in der Sprache nicht Form und Ausdruck verleihen zu können, durchzieht bereits den frühen Briefwechsel mit Jacques Riviére, Herausgeber der Nouvelle Revue Française, dem Artaud einige seiner Gedichte zur Veröffentlichung vorgelegt hatte. Am 5. Juni 1923 schreibt Artaud an Riviére:

"Ich leide an einer schrecklichen Krankheit des Geistes. Mein Denken verläßt mich in jeglichem Grade. Von der einfachen Tatsache des Denkens bis zur äußerlichen Tatsache seiner Materialisierung in Worten. Worte, Satzformen, innere Richtungen des Denkens, einfache Reaktionen des Geistes, ich jage ständig meinem geistigen Sein hinterher. Wenn ich also eine Form ergreifen kann, wie unvollkommen sie auch sein möge, halte ich sie fest, in der Angst, das ganze Denken zu verlieren. Ich bleibe hinter mir selbst zurück, ich weiß es, ich leide darunter, aber in der Furcht, nicht völlig zu sterben, willige ich darin ein."[Anm. 12]

Was zunächst einen quälenden Kompromiß darstellte, wurde mit der Zeit immer untolerierbarer, und die Zerstörung kultureller Normen, bis hin zu grundsätzlichen Übereinkünften über Geist, Sprache und Körper, kristallisierte sich für Artaud als notwendig heraus, um den Blick auf ihr von ihm erfahrenes Jenseits freizugeben. Die Teilnahme an den Ritualen der Tarahumaras und die vom mescalinhaltigen Peyotl ausgelösten Visionen machten es für Artaud endgültig unmöglich, die geistige wie körperliche Zwangsjacke einer bürgerlichen Existenz zu akzeptieren:

"Das Peyotl führt das Ich an seine wahren Quellen. Aus dem Zustand einer solchen Vision hervorgegangen, kann man nicht mehr wie vorher die Lüge mit der Wahrheit verwechseln. Man hat gesehen, woher man kommt und wer man ist, und man zweifelt nicht länger daran, was man ist. Es gibt weder ein Gefühl noch einen äußerlichen Einfluß, der einen davon noch abbringen könnte."[Anm. 13]

Artauds Versuch, nun bedingungslos und notfalls mit Gewalt die ihn als Lüge bedrohenden Strukturen zu verändern, mußte ihn zwangsläufig auf anderer Ebene mit den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft in Konflikt bringen.

Neun Jahre Internierung, Drogenentzug, Insulin- und Elektroschocktherapien zerütteten Artaud zwar körperlich, waren aber nicht in der Lage, an seinen Überzeugungen etwas zu ändern, die er 1947 in Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft mit ungebrochener Vehemenz erneut äußerte:

"Und was ist ein wahrer Geisteskranker?
Das ist ein Mensch, der es vorgezogen hat, verrückt zu werden, im gesellschaftlichen Sinne des Wortes, statt eine bestimmte höhere Vorstellung von menschlicher Ehre zu verletzen.
Derart hat die Gesellschaft in ihren Asylen all jene erdrosselt, die sie loswerden wollte oder vor denen sie sich schützen wollte, denn sie weigerten sich, mit ihr bei bestimmten erhabenen Schweinereien gemeinsame Sache zu machen.
Denn ein Geisteskranker ist auch ein Mensch, den die Gesellschaft nicht hören wollte und den sie daran hindern wollte, unerträgliche Wahrheiten zu äußern."[Anm. 14]

Eine dieser unerträglichen Wahrheiten -- nicht nur Antonin Artauds -- ist es, daß unsere zivilisierte Gesellschaft auf Mechanismen der Macht und Gewalt aufgebaut ist, an denen wir unvermeidlich teilhaben, so daß alles, was von einem Standpunkt als Kultur definiert wird, von einem anderen die Fratze der Unkultur erhalten kann und umgekehrt:

"Man kann bei van Gogh von geistiger Gesundheit sprechen, der sich während seines Lebens nichts als eine Hand verbrannt hat und im übrigen nichts weiter tat, als sich einmal das linke Ohr abzuschneiden,
in einer Welt, in der man jeden Tag in grüner Soße gekochte Vagina ißt oder die Genitalien eines Neugeborenen, ausgepeitscht und in Raserei versetzt,
so, wie es beim Verlassen des mütterlichen Geschlechtes erwischt wird.
Und das ist keine Vorstellung, sondern eine ausgiebig und tagtäglich in der ganzen Welt wiederholte und kultivierte Tatsache."[Anm. 15]

Der Versuch, sich durch Rebellion gegen diese Strukturen der Gewalt zu wehren, verbunden mit dem prophetischen Anspruch, Klarheit über Wahrheit und Lüge zu haben, läuft jedoch stets Gefahr, dem angegriffenen System niemals zu entgehen. Die Rebellion spricht ebenso die Sprache der Gewalt und bleibt damit Teil der Logik von Gewalt und Gegengewalt, aus der die Spirale der Macht ständig neues Leben bezieht.

An der absoluten Notwendigkeit, die für Artaud selbst sein Handeln hatte, ist jedoch nicht zu zweifeln. Er rettete sich vor geistiger und körperlicher Vernichtung mit einer Utopie: der Erschaffung eines autonomen, keinen ideologischen, funktionalen oder sonstigen Zwängen unterworfenen Körpers ohne Organe, ein Zustand, der eine radikale Neukonstruktion der individuellen Existenz in allen Belangen voraussetzt:

"Der Mensch ist krank, weil er schlecht konstruiert ist. Man muß sich dazu entschließen, ihn bloßzulegen, um ihm diese Mikrobe abzukratzen, die ihn zu Tode reizt:
Gott
und mit Gott
seine Organe.
Denn binden sie mich, wenn sie wollen,
aber es gibt nichts Nutzloseres als ein Organ.
Wenn sie ihm einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden sie ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wahre Freiheit zurückerstattet haben.
Dann werden sie ihm wieder beibringen, wie im Delirium der Musetten verkehrt herum zu tanzen, und diese Kehrseite wird seine wahre Seite sein."[Anm. 16]

Die Radiosendung Um mit dem Urteil Gottes Schluß zu machen, hatte der Versuch sein sollen, in einer "haargenauen, tobenden Ordnung" diesem neuen, autonomen und explosiven Körper Ausdruck zu geben, der als zentralstes und provokantestes Konzept Artauds Texte von 1946 bis zu seinem Tode im März 1948 bestimmt und an dessen Konstruktion er schon in der Psychatrie unermüdlich gearbeitet hatte. (Die hierzu notwendige radikale Umformulierung und Rekonstruktion seiner Identität waren es gerade, die dort seine andauernde Behandlung provozierten.) Übereinandergeschnittene Tonspuren mit rhythmischen Geräuschen, Xylophonspiel, Schreien, Gelächter und Glossolalien Artauds sollten die Textstruktur aufbrechen und den heterogenen, vielgestaltigen und damit vielstimmigen Körper zum Vorschein bringen, den die Sprache in ihrer gesellschaftlichen Funktion stets assimiliert und verdeckt. Doch am 1. Februar 1948, einen Tag vor dem geplanten Sendetermin unterband der Intendant der Radiostation die Übertragung unverzüglich, nachdem er die Aufnahme zum ersten Mal gehört hatte. Artaud, der die Hoffnung gehegt hatte, mit dieser Sendung ein breites Publikum zu erreichen, erlitt, außer sich, damit die letzte Enttäuschung seines Lebens. Sein Versuch, dem von ihm verabscheuten "reinen Geist" einen "reinen Körper" entgegenzustellen, hat jedoch nichts von seiner Wirkung verloren:

Postskriptum
Wer bin ich?
Woher komme ich?
Ich bin Antonin Artaud,
und auf daß ich es sage,
wie ich es sagen kann,
auf der Stelle
werdet ihr meinen Körper
in Stücke zerspringen sehen
und unter zehntausend
notorischen Aspekten
einen neuen Körper
sich zusammenraffen,
in dem ihr mich
nie mehr
vergessen könnt.
[Anm. 17]

 

autoreninfo 
Dr. Alexander Schlutz leitet die parapluie-Redaktion, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn, Tübingen und Seattle, und unterrichtet zur Zeit Englische Literatur am John Jay College of Criminal Justice in New York City.
E-Mail: alexander.schlutz@parapluie.de

 

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