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no. 3: unkultur -> perspektive
 

perspektive

Un-, Sub-, Hoch-, Gegen-. Alltags-, De-,. Meta-, Sponti-, Jugend-, Körper-, Sozio- oder gar Überhaupt nicht Kultur? -- Das ist hier nicht die Frage -- Einige beinahe gelehrte Anmerkungen zum hochkulturellen Dasein.

von Georg Hehn

"Halt's Maul du Drecksack"
Johann Wolfgang von Goethe

 

Wenige Vokabeln sind so allgegenwärtig und vielfältig eingesetzt in allen passenden oder weniger passenden Kontexten der letzten Jahrzehnte als der Begriff der Kultur. In Anbetracht dieser Omnipräsenz wäre geradezu von einer Renaissance der Kultur zu sprechen nach dem finsteren Mittelalter, das der Kulturbegriff nach der Gründerzeit mit ihrer Arbeiterkultur, Frei- und Körperkultur, ihren Kulturvereinen und Kulturbewegungen durchmachen mußte. Wurde diese erste Kulturmanifestation der bräunlichen Photographien durch das Aufdecken ihres letztlich unterliegenden Charakters von Obrigkeitsdenken und Kadavergehorsam im Zuge zweier Weltkriege zum Kultus und schließlich Kult der braunen Horden kastriert, so erhebt sich der Kulturbegriff seit den siebziger Jahren wieder wie die schaumgeborene Venus in altem opaken Glanz um die blühenden Kulturlandschaften deutscher Stadtverwaltungen zu schmücken. Nicht nur erdreisten sich bürokratische Apparate zum Titel von 'Kulturdezernaten', auch das gemeine Volk läßt sich nicht lumpen und mutet sich eine nicht abreißende Flut von Kulturmagazinen, Kulturveranstaltungen und Kultursendungen wenn nicht gleich ganzen Kultursendern zu. Natürlich will nun auch die Wissenschaft nicht mehr zurückstehen und scheidet mittels ihrer Drüse Kulturwissenschaften von der Alltagskultur über die Championkultur bis zur Soziokultur eine unabsehbare Lawine von Kulturen ab.

Womit haben wir aber nun dieses explosionsartige Wuchern des Kulturbegriffs verdient?

Intuitiv scheint die Vokabel Kultur zwei heterogene Phänomene unter sich zu fassen, denn offensichtlich ist etwas grundsätzlich anderes gemeint, wenn der langhaarige Soziologiestudent die Floskel "soziokulturelle Ausformung habitueller Lebenswelt-elemente" im Munde führt, als wenn der greise Studienrat andächtig zur Hölderlinlesung murmelt: "Es schwingt sich der Geist auf die lichten Höhen der Kultur."

Unterschieden werden sollte darum unter mindestens zwei Kulturbegriffen, die näherer Erläuterung bedürfen, zum einen der engere und 'klassische' Kulturbegriff, den ich 'bürgerlichen Kulturbegriff' nennen möchte, und die aus ihm entspringende, aber divergente Form des 'industriellen Kulturbegriffs'. Ersterer ist wesentlich ein normativer Begriff zur Vergabe von Werturteilen auf einer zivilisatorischen Skala. Er dient offensichtlich der Prämierung zivilisatorischer Ausformungen als höher- oder hochstehend. Kultur zu haben, die hier Umgangsformen, Benimm, Formvollendung gar konnotiert, ist erstrebenswert und Ziel jener Bildungsanstalt des konservativen Elitismus, der sich eben aus der kaiserzeitlichen Antike des Kulturbegriffs speist. Die Funktion scheint somit die Einordnung und Abbildung von Verhaltensnormen innerhalb eines Ausdrucksrepertoires zu sein, die etwa zwischen hinterwäldlerischem und barbarischen Pantagruel und kosmopolitischem Lebemann Marke Industriellensohn als Freizeitdichterfürst aufgespannt ist. Erforschung dieses Kulturbegriffs bestände also in einer Entfaltung der Kriterien, die zur Einordnung herangezogen werden, ihrer Art, Herkunft und Rationalität. Eine solche Analyse kann hier jedoch höchstens schemenhaft angerissen werden.

Dieser Kulturbegriff ist jedoch nach wie vor virulent und in gewissem Sinne der rüstige und starrsinnige Großvater des zweiten Aspekts: des industriellen Kulturbegriffs. Dieser zweite ist es, der uns heute von Hochglanzseiten der Lifestylemagazine wie den typfehlerbehafteten Ausdrucken von Seminararbeiten entgegengrinst. Seine Funktion scheint weniger die normative Einordnung zu sein als die Etikettierung der verschiedenen lebensweltlichen Systemfragmente nach dem Paradigma der Fragmentierung moderner Gesellschaft.

Was bedeutet der letzte Satz? Ganz einfach: Im Zuge der Grundannahme, daß die zeitgenössische Gesellschaft im wesentlichen durch Individualisierung und Fragmentierung in zahllose nur mehr rhizomatisch verbundene Lebensformen besteht, können diese 'Lebensformen' nun als Funktionen begriffen werden, die sich subjektiven Zielsetzungen nach zum Multikulti der Postmoderne vernetzen. Der Fragmentierung ist dabei keine systematische Grenze gesetzt, so daß jede subjektive Lebensäußerung, solange sie nur der Wiederholung und Imitation zugänglich ist, als solch ein Fragment begriffen werden kann. Kultur im industriellen Sinne hat nun einfach die Bezeichnungsfunktion solcher Fragmente übernommen. Da die Fragmentgröße letztlich kontingent ist, kann sowohl von einer 'Weltkultur' gesprochen werden, wobei das Fragment identisch mit dem Ganzen ist, wie auch von kleineren Fragmenten jeder Größenordnung: nationalen Kulturen, Freizeitkulturen, Arbeitskulturen, Sportkulturen, Tenniskulturen, bis hinunter zu Kulturen des Turnschuh- oder Nasenringtragens oder In-Straßenbahnen-Einsteigens, je nach Belieben. Jede dieser Kulturen ist ein potentielles Untersuchungsfeld der Kulturwissenschaften und empirischen wie theoretischen Überlegungen zugänglich. Weitere Analysen sind auch hier nicht möglich, es bleibt nur auf das konstituierende Merkmal dieser Art von Kulturen hinzuweisen: ihr längerfristiges und systematisches Auftreten. Nur Akte, die einmalig oder gewohnheitsresistent sind, widerstehen dem Säuretest der Industriekultur. Die potentielle Mannigfaltigkeit menschlicher Ausdrucksformen wird mittels der Systemidee in sich wiederholende Muster umgedeutet, die mit der Konsumidee vorgefertigter Produkte der Lebensgestaltungsindustrie konform gehen und sich den Marktbedingungen jeweils anpassen.

Doch erschöpft sich der Kulturbegriff in der Reduktion auf den Systembegriff sich lebensweltlich äußernder Verbegrifflichung von Mannigfaltigkeit? Hier tritt wieder die Differenz der zwei sich überlagernden Kulturdefinitionen hinzu, denn nicht jede Ausformung von Lebensakten nach impliziten und traditionalen Gesetzmäßigkeiten läßt sich intuitiv als Kultur erfassen. Vielmehr scheinen die unterliegenden Muster gewissen Anforderungen genügen zu müssen. Nicht nur, daß Wahnsinn, habe er auch System, nur sehr schwer als kulturelle Ausformung zu akzeptieren sein wird, denn eine Kultur des 'sich für Napoleon Bonaparte-Haltens', und sei es auch noch so sehr kultiviert (worden), verstößt gegen den Kulturbegriff selbst. Aber auch die Differenz des industriellen, weiteren, zum bürgerlichen, engeren Kulturbegriff läßt sich als zusätzliche Anforderung an die jeweiligen systematischen Lebensakte begreiflich machen. Die Kriterien scheinen dabei sowohl inhaltlicher wie systematischer Art. Zu Fragen ist, wieso der industrielle Kulturbegriff ohne Probleme etwa von einer 'Kultur des Kaugummikauens' sprechen kann, während für den bürgerlichen Kulturbegriff das Kaugummikauen auch noch so ausgefeilter Tradition, und sei es, nachdem ganze Zivilisationen es zur höchsten Kunst verfeinert haben, niemals kulturationswürdig werden wird. Es handelt sich also um ein inhaltliches Kriterium. Formale Kriterien scheinen dagegen vorzuliegen im Fall der Nahrungsaunahme. Essen ist als nicht-wahnsinniger Akt in jeder Ausformung ohne weiteres im weiteren Kulturbegriff aufgehoben und eine Kulturgeschichte des Essens durchaus vorstellbar und wahrscheinlich längst in Buchform existent, die auch ausschweifende Kapitel über das gemeinschaftliche Fressen aus Trögen in bestimmten historischen oder kulturellen Situationen enthalten könnte. Satisfaktionsfähig für den engeren Kulturbegriff wird die menschliche Nahrungsaufnahme jedoch erst nach einer Vielzahl zu erfüllender formaler Kriterien, die größtenteils mit dem Gebrauch von Werkzeug verbunden scheinen. Hier scheint ein wichtiger Zusammenhang von Kultur und Technik herauf in noch konkreterer Weise als bei der Diskussion instrumenteller Vernunftkriterien zur Kulturerfassung. Ausgangsfrage müßte nun sein, ob die skizzierten Zusatzanforderungen kontingent sind oder ihrerseits Systematiken einer Metakulturation folgen.

In Anbetracht der Unkultur-Debatte beschränke ich mit jedoch auf einige Konsequenzen des Mischungsverhältnisses der beiden Kulturbegriffe. Ihre gleichzeitige und unreflektiert ineinandergeschobene Verwendungsweise ermöglicht eine äußerst praktische Durchdringung auch heterogenster Phänomene. Der industrielle Kulturbegriff ermöglicht dabei durch seine reine Formalität die Allumfassung sozialer Ausdrucksformung, indem jede letztere sich als Sub-, Jugend-, Gegen-, Underground-, oder Avantgardekultur gegen den Vorzeigefeind bürgerliche Kultur bildet oder an ihr gerinnt und anschließend vom industriellen Kulturbegriff durchdrungen und damit erst zur Kultur gemacht wird, die sich nun einen Platz auf der zivilisatorischen Skala suchen kann und industrieller Vereinheitlichung offensteht. Die offene Dialektik des industriellen Kulturbegriffs sichert dabei die Erfassung aller Soziabilität, die am Fliegenfänger des bürgerlichen Kulturbegriffs gefangen wird und wehrlos vom industriellen Kulturbegriff in sich aufgenommen, wo sie weiter als Disko-, Drogen-, Punk-, Historienvereine- oder Karnevalskultur ihr geregeltes Dasein fristen kann. Der zweifach gebrochene Kulturbegriff ermöglicht also zugleich normative Einordnung wie offene und letztlich amorphe und rein formale Dialektik. Beides zusammen macht den Kulturbegriff so erfolgreich als Begriff, der letztlich alles bedeuten kann und doch sich noch den Anschein zu geben vermag, Bestimmtes zu bedeuten. Das Erfolgsrezept liegt wie bei vielen westlichen Zentralbegriffen in einer inneren Absurdität, die sich den Anschein eines Horts der Rationalität zu geben versteht.

Selbst Anarchosarkasmus pseudowissenschaftlicher Kolumnen mit so vielen verquasten und überfrachteten Sätzen wie diese hier stellt kein Problem dar, eine manieristische Kultur verwirrter Kolumnen mit zu vielen Adjektiven zu initiieren. Garantiert.

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