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no. 3: unkultur -> schmutz und schund im kaiserreich
 

Erregte Zeiten

Schmutz und Schund im Kaiserreich

von Ina Jekeli

zum artikel:

* anmerkungen
* literatur
* druckbares
* diskussion

Kolportageromane und Groschenhefte erregten das wilhelminische Deutschland. Die einen ließen sich von ihnen anregen, die anderen empörten sich über sie. Im Schundkampf trafen sie alle aufeinander.

 
Der Doktor lachte leise.
"Haben Sie schon einmal geliebt?" fragte er. Jost von Mahlsberg wurde rot. Er dachte an seine flotte Leutnantszeit, an das vergnügte Leben in der heiteren Garnison, das seinem einsamen Junggesellendasein als Erbe und Besitzer von Mahlsberg vorausgegangen war. Manches hübsche Mädel hatte sein Blut entflammt, mancher Schönen von einem Ball hatte er Blumen und Komplimente dargebracht; einmal, als er noch Kadett war, hatte er sogar Verse gemacht. War das Liebe gewesen, das alles? Hätte er um das eine oder andere dieser Mädchen auf sein Erbe, das bescheidene aber Jahrhunderte alte Haus seiner Väter Verzicht leisten mögen?
"Nein," sagte er bei sich und laut sagte er auch:
"Nein!"

[Exposition: Militärromantik, Standesbewußtsein und Liebesideal]

In einer Gesellschaft, in der Prüderie und scharfe sittliche und moralische Normen herrschen, wandert das Verdrängte, das Verbotene in den Untergrund ab. Dort lebt es weiter, wächst und gedeiht, weit davon entfernt, durch das Verbot vernichtet oder auch nur geschwächt zu werden. Es ist Teil des Wertesystems, von dem es hervorgebracht wurde, untrennbar mit ihm verbunden. Es kann noch so sehr seine Gegnerschaft beteuern, seinen Haß auf die geltenden Normen herausschreien, versuchen, brave Bürger zu verführen; es hilft gerade dadurch auf seine Weise mit, das System am Leben zu erhalten, es zu stabilisieren.

Doppelmoral ist eine zweischneidige Sache. Nicht nur, weil die moralisch Strengsten sich in der Heimlichkeit ihrer Schlafzimmer am Verbotenen ergötzen, sondern auch, weil dieses, ganz gegen seinen Willen, das System stützt, dessen Werte es doch zu konterkarieren versucht. Beide Seiten sind voneinander abhängig. Es entsteht ein Kreislauf, ein selbstverstärkendes System aus Zensur und Produktion, das Michel Foucault als "Lust-Macht-Spirale" bezeichnet.

Denn die Ausübung von Macht ist lustvoll. Für den Zensor ist also das Beobachten, Ausschnüffeln, Kontrollieren und Durchsuchen, das Fassen und Bestrafen lustvoll bis sexuell erregend. Für den Produzenten (nehmen wir einmal das Beispiel der Pornographie) dagegen ist es lustvoll, dem Zensor zu entkommen, ihn zu überlisten, seine Tabus zu brechen -- da es Macht für ihn bedeutet. Die Macht läßt sich von der Lust anstecken, die sie verfolgt, und die Lust gewinnt Macht, indem sie Macht bricht. Pornograph und Zensor spielen ein Spiel der zirkulären wechselseitigen Erregung, jeder findet seine Lust in der Machtausübung über den anderen und zieht seine Macht aus der Lust; jeder braucht den anderen, befriedigt ihn durch sein Handeln und ermuntert ihn gleichzeitig, weiterzumachen, immer mehr, immer härter.

Ähnliches läßt sich -- mutatis mutandis -- im Schundkampf beobachten, dem Kampf der Gebildeten und Erziehungsbeflissenen gegen "Schmutz und Schund", der sich in den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte und in der Dekade vor dem Krieg einen vorläufigen Höhepunkt erreichte.

Schon lange war, bei aller Aufklärung, das Lesen als eine doch letztlich irgendwie suspekte Tätigkeit angesehen worden, jedenfalls was die "Erziehungsbedürftigen" -- Unterschichten und Kinder -- betraf. Das Lesen zur Unterhaltung hält von der Arbeit ab, es führt zu Sinnlichkeit und Weichlichkeit, und es kommen falsche und unverdaute Ideen in Umlauf, die der "einfache Verstand" nicht fassen kann. Unzufriedenheit und Mißmut, wenn nicht gar Aufstand und Revolution sind die Folgen. Und so schrieb der preußische Politiker und Historiker Christian Wilhelm von Dohm 1796: "Der gemeine Mann wird zu allen Zeiten nur wenig lesen, und ich nehme keinen Anstand zu sagen -- er muß nur wenig lesen."

Dieser Standpunkt wirkte im Kaiserreich kaum verändert fort. Im Zuge der Volksbildungsbewegung mit ihren Leihbüchereien und Volkshochschulen wurde das Lesen auch und gerade für "das Volk" als notwendiges und sinnvolles Erziehungsmittel angesehen, aber der Geruch des Suspekten haftete ihm weiterhin an. Der inhärente Anarchismus der Lesefähigkeit (wer gelernt hat, zu lesen, könnte auf die Idee kommen, diese neue Freiheit weiterzuentwickeln und auch die Wahl seiner Lesestoffe selbst in die Hand zu nehmen) wirkte beängstigend und führte zu strengen Restriktionen in Bezug auf die Akzeptanz und Propagierung des Lesens. Lektüre, gleich ob zur Weiterbildung oder zur Unterhaltung, muß in jedem Fall zur sittlichen Erziehung beitragen. Und: immer in Maßen, eher weniger als mehr.

Die Schundliteratur, massenhaftes Lesefutter breitester Bevölkerungsschichten, lief diesem Ideal natürlich völlig zuwider. Entsprechend drastisch waren die Reaktionen derer, die sich berufen fühlten, über die "sittliche Gesundheit" des Volkes zu wachen. Die Empörung über die "Pest und Seuche" dieser "Verbrecherschulen" mit ihrem "schmutzigen, aller Sittlichkeit und Wohlanständigkeit spottenden Inhalt" brachte den Schundkämpfer Arthur Heldt in seiner berühmten Schrift von 1908 zu dem Ausruf, er könne es "vor Schauder und Ekel nicht fassen, wie es einem zu Gottes Ebenbild geschaffenen, denkenden und fühlenden Menschen möglich war, mit solcher Verkommenheit zu schreiben und es auch noch in die Öffentlichkeit dringen zu lassen."

Edith Sendlers Gesicht war's, in das sich das weiße Briefblatt verwandelt hatte. Nun lächelte sie ihn an mit ihrem etwas koketten und verheißenden Lächeln, und Jost fühlte wieder, was er stets in ihrer Nähe empfand: dies Mädchen begehrte ihn. Er brauchte nur die Hand auszustrecken und die reiche Edith Sendler war sein. Von ihr ging der Wunsch aus, ihm ihre Villa sozusagen auf die Nase zu setzen. Das sollte ihm ihren Reichtum demonstrieren. Sie hatte die Einladungen in das Haus ihres Vaters vermittelt, sie ließ ihn wieder zum Gartenfest bitten und verhieß ihm durch den Mund des Vaters den Platz an ihrer Seite.
Weiter konnte ein Weib eigentlich nicht gehen, um dem Manne zu zeigen: ich begehre dich! Und für Jost von Mahlsbergs Geschmack war's schon reichlich weit gegangen.
Aber war er denn nicht ein Narr, daß er da nicht zugriff?
Das Mädel war hübsch, war wohlerzogen, jedenfalls hatte sie die Allüren einer Dame. Sie würde als Frau von Mahlsberg wissen, was sie zu tun und zu lassen hatte. Und sie würde ihm das Geld ins Haus bringen, dessen er so dringend bedurfte, um das Haus seiner Väter auf der Höhe zu halten. Warum streckte er die Hand nicht aus und griff zu?
Ich liebe sie nicht, sagte eine Stimme in ihm.

[Grundkonflikt: Geld oder Liebe]

Doch was war es eigentlich, worüber sich die Bildungsbeflissenen der Zeit so ereiferten? Was steckt hinter dem Begriffspaar "Schmutz und Schund", das seit Beginn des Jahrhunderts gemeinsam und fast formelhaft gebraucht wurde?

Die Antwort ist einfach: Es ging um alles, was schlecht geschrieben, bunt, reißerisch, billig, abenteuerlich und kitschig war und -- offen oder heimlich -- von fast allen gern gelesen wurde. Einblattdrucke mit sensationellen "Nachrichten", Bilderbogen mit pikanten Szenen, "Familienzeitschriften" unterschiedlichsten Inhalts, vor allem aber Kolportageromane und Groschenhefte, Trivialliteratur übelster Sorte, in Millionenauflagen vertrieben und heute nicht nur radikal aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt, sondern auch faktisch nur noch in Spuren erhalten; das, was die umfangreichste und vielleicht auch von ihrer Bedeutung her wichtigste Literaturform des 19. Jahrhunderts war, ist heute buchstäblich zerfallen.

Warum wichtig? Diese Literatur stellte den häufig einzigen Lesestoff breitester Bevölkerungsschichten dar, prägte damit ihre Vorstellung von Lektüre an sich und ihr Weltbild. Schulkinder lasen heimlich nachts unter der Bettdecke; Dienstboten verstohlen neben der Arbeit; Fabrikarbeiter zur Erholung nach der Schicht, und für die Betuchteren gab es teure Sonderausgaben. Und alle erstaunten sich über die exotischen Gegenden, die da geschildert wurden, fieberten mit dem unschlagbaren Heroen, genossen den Nervenkitzel unnennbarer Schrecken und die Zweideutigkeit pikanter Szenen. Männer identifizierten sich mit harten Helden, deren Wege mit Leichen gepflastert waren, Frauen mit keuschen Heldinnen, die in größter Gefahr treu ausharrten, um am Ende mit wahrer Liebe belohnt zu werden.

An sich war das nichts neues; Trivialliteratur gab es schon lange. Doch mit dem Wandel der vormodernen zur modernen Gesellschaft, funktional differenziert, arbeitsteilig, industrialisiert, entstand auch eine neue Form der Trivialliteratur: die Massenliteratur, industriell produziert und den Erfordernissen des kapitalistischen Marktes angepaßt. Der wachsende Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, die Einführung der Gewerbefreiheit und neue Reproduktionsverfahren und Vertriebsformen öffneten den Weg für einfallsreiche und risikofreudige Unternehmer, die mit dem stets weiter wachsenden Markt der Neuleserschaft experimentierten. Heraus kam eine Literaturform, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Markt dominierte -- der Kolportageroman: Man nehme einen endlos langen Roman, zerhacke ihn in 20-200 Häppchen zu je 8-48 Seiten (meist waren es 24 oder 32), versehe diese mit einem reißerischen Titelbild und bringe sie auf dem uralten Vertriebsweg der Kolportage unters Volk.

Der Preis von meist 10 Pfennig war auch für die Ärmeren erschwinglich, und die Verleger vertrauten (nicht ganz zu Unrecht) darauf, daß die Leute nicht in der Lage sein würden, die erhebliche Summe zu kalkulieren, die sie auf diese Weise nach und nach für den ganzen Roman ausgaben. Niemand hätte diesen Preis auf einmal bezahlt, und niemand wäre überhaupt auf die Idee gekommen, einen Roman von 3000 Seiten zu kaufen. Doch die dünnen Heftchen, die ein- bis viermal pro Woche von einem äußerst beredten Kolporteur an die Haustüre gebracht wurden, waren zu bewältigen, und die Spannung auf die Fortsetzung (denn natürlich endet die Folge genau an der richtigen Stelle) motivierte ebenfalls zu dem schwierigen und ungewohnten Geschäft des Lesens.

Das junge Mädchen blickte in ein bräunliches, offenes Männergesicht mit schönen, treuen, grauen Augen, wurde blutrot und stotterte: "Entschuldigen Sie, daß ich hier wie ein Kamel hereingetrapst kam, aber der Zugführer schubste mich und der Zug ruckte an und überhaupt, wenn ich wieder nach Trautenhagen zurückkomme, werde ich dem Jochen den Marsch blasen." Ueber die ernsten Züge des Mannes flog ein heiteres Lächeln. "Gnädiges Fräulein kommen aus Trautenhagen", setzte er, anscheinend nicht ungern, das Gespräch fort und verstaute Hellis Koffer und Schirm im Gepäcknetz, "das ist ja das Damenstift. Für eine Stiftsdame sehen Sie aber noch nicht würdevoll genug aus, mein gnädiges Fräulein." Helli hatte ihre Locken geordnet, den Hut behielt sie in der Hand. Sie sah sich im Abteil um und stellte fest, daß sie mit ihrem aufmerksamen Begleiter allein war. "Sie meinen, weil ich einem Herrn auf den Schoß gefallen bin", lachte sie. "Das war Tücke des Objekts", war die schlagfertige Antwort, "ich hatte mehr das Alter im Auge." Die grauen Augen blickten so prüfend in Hellis errötendes Gesichtchen, daß diese unwillkürlich verlegen wurde, aber nur für einen Augenblick.

[Der Held und die Heldin: Schöne Menschen, edle Züge]

Die Inhalte waren oft altbekannt, Adaptationen alter Schauer- oder Räubergeschichten, alter französischer Romane oder vertrauter Abenteuergeschichten wie Robinson oder Lederstrumpf. Sehr beliebt waren auch Lebensgeschichten historischer Figuren, vor allem zeitgenössischer, etwa Ludwigs des Zweiten. Die europäische Aristokratie der Zeit gab ja auch genug Stoff her: Wo sonst gab es so saftige Skandale, so anrührende Selbstmorde? Der Sensations- und Enthüllungsroman war geboren, und so war denn auch ein durchgängiges Stilmittel des Romans die Authentizitätsbehauptung, oft in Verbindung mit abenteuerlichen "Beweisen", von der notariell beglaubigten Unterschrift des Meisterdetektivs bis hin zum -- zur Besichtigung freigegebenen -- Totenschädel des Mädchenwürgers.

Der Stil war der Lesefähigkeit des Publikums angepaßt -- einfache Sätze, eine unverstellte Mündlichkeit, die an das Volkstheater der Zeit erinnert und eine abenteuerliche Kumulierung von Plots und Effekten. Dabei waren die Romane, um geschlechts- und generationenübergreifend vermarktbar zu sein, genretypisch wenig festgelegt. Liebe, Verbrechen und Abenteuer, Schicksal, Schuld und Sühne, all das verband sich, um ein "Treffer ersten Ranges" zu werden, wie der Roman Das rote Sefchen, die Tochter des Henkers oder Das Geheimnis einer Mädchenseele beworben wurde -- die Form des Doppeltitels war zwar schon für die Zeit veraltet, im Kolportageroman aber äußerst beliebt.

Und das Geschäft blühte. Die Gesamtzahl der in Deutschland vertriebenen Kolportageromane wird auf 2000-2300 geschätzt, in der Hochzeit in den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es rund 200 Verleger speziell in diesem Gewerbe. Um 1900 waren rund 26000 Personen in der Kolportage beschäftigt (gegenüber 22000 im gesamten restlichen Buchhandel). Denn es ließ sich gutes Geld verdienen: Allein der berühmte Scharfrichter von Berlin -- Sensations-Roman nach Acten, Aufzeichnungen und Mittheilungen des Scharfrichters soll einen Umsatz von drei Millionen Mark gemacht haben; der Gesamtumsatz der Branche wurde von Zeitgenossen auf jährlich 50 Millionen Mark geschätzt, eine Zahl, die kritisch betrachtet werden muß, aber doch auf die Größenordnung hindeutet, mit der wir es zu tun haben.

Gegen Ende des Jahrhunderts kam ein neuer Typus auf, der rasch große Erfolge erzielte und den Kolportageroman, dessen Bedeutung schon im Abnehmen war, fast völlig verdrägte: die Romanserien, Heftchen von 24-130 Seiten, in denen es für 10, 20, maximal 50 Pfennig einen abgeschlossenen Roman (selten auch zwei) zu lesen gab. Sie wurden nicht auf dem Weg der Kolportage vertrieben, sondern vor allem in Bahnhofskiosks, Schreibwarenhandlungen und Zigarettenläden, wo sie alle Bevölkerungsschichten erreichten. Die Serien waren durch die relative Unabhängigkeit der einzelnen Heftchen in der Lage, flexibler auf Änderungen des Lesergeschmacks zu reagieren, sie waren in ihrer Typenbildung differenzierter, die Charaktere waren genauer gezeichnet, es entwickelten sich unterschiedliche Serien für die verschiedenen Publikumsmilieus, kurz: sie waren moderner. Mit den Heftserien haben wir endgültig ein Produkt moderner Massenunterhaltungsindustrie vor uns. Der Kolportageroman war bei aller industriellen Vermarktung doch ein sehr träges Wesen, das über Jahre hinweg Lieferung für Lieferung vertrieben wurde, mit ständig abnehmenden Abonnentenzahlen und ohne die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Ein Roman, dessen erste Folge mit der stolzen Auflage von 1,5 Millionen erschien, konnte von Glück reden, wenn 10000 Leser ihm bis zur letzten Lieferung treu blieben.

Die Romanserien dagegen boten echte, endlose Periodizität verbunden mit äußerer und innerer Flexibilität, wozu auch das Redaktionsprinzip beitrug, nach dem sie gestaltet wurden. Sie waren standardisiert und stets präsent; ab einem bestimmten Tag konnte man überall das nächste Heft erwerben (oder es lassen, ohne den Faden zu verlieren), und wenn eine Serie nicht gut lief, setzte man sie ab und machte eine neue.

1905 gelang dem Dresdner Verleger Adolf Eichner der große Wurf: Er kaufte die Rechte der amerikanischen Serie Buffalo Bill, wenig später auch die an Nick Carter, der zu einem der erfolgreichsten Serienhelden überhaupt werden sollte. Die neue Form der Serien mit durchgängigen Titelhelden, die Folge für Folge ein abgeschlossenes Abenteuer vollbrachten, setzte sich durch. Die Bindung des Lesers an die Serie, vorher eines der Hauptprobleme der Heftserien gegenüber dem Kolportageroman, wurde so erleichtert, die Identifikation mit dem Helden erhöht, die Motivation zum Kauf des nächsten Heftes verstärkt. Und die Helden sprossen nur so aus dem Boden wilhelminischer Wunschträume und Machtphantasien. Es gab einen wahren Boom an "Meisterdetectivs" (der englische Plural wurde übernommen); neben dem schieß- und prügelwütigen Nick Carter tummelte sich Sherlock Holmes in verschiedenen Variationen, der edelmütige Sportsmann Lord Lister und Nat Pinkerton, König der Detectivs, sogar "weibliche Detectivs" wie Ethel King und Wanda von Brannburg. Sprache, Stil und Inhalt hatten sich ansonsten kaum geändert. Immer noch ging es darum, möglichst einfach, möglichst nervenkitzelnd und möglichst sensationell zu sein.

Eigentlich war er hergekommen, um der reichen kleinen Sendler, wie sie sich selbst bezeichnete, einen Antrag zu machen. Und die Gelegenheit war doch unglaublich günstig und von dem Mädchen selbst herbeigeführt. "Warum, zum Donnerwetter, spreche ich denn nicht?" fragte er sich im Stillen selber. "Ich brauche jetzt bloß den Arm um sie zu legen und in einer Viertelstunde ist die Verlobung perfekt. Ich bin dann aus allem Dilemma. Warum also sitze ich hier wie ein Stockfisch!"
Mahlsbergs Phantasie gab ihm die Antwort. Sie zauberte ihm ein schwarzlockiges Mädchenhaupt vor die Augen, zwei blaue Sterne, die ihn treuherzig und doch neckisch ansahen und ein Stimmchen, das burschikosen Unsinn schwatzte.

[Dramatische Zuspitzung des Konfliktes: Geld gegen Liebe]

Ein kleines Beispiel: Auf den 32 Seiten eines einzigen Heftes der Serie Aus den Geheimakten des Weltdetektivs (Sherlock Holmes) werden ein Priester, eine Brigantin, zwei Polizeibeamte, ein junger Mann, ein Schurke, eine Verbrecherin und zweimal eine größere Menschenmenge auf zum Teil sehr originelle Art und Weise getötet; ein Weib wird in den Starrkrampf versenkt; eine Leiche wird eingemauert, eine andere in einem Götzentempel als Göttin aufgestellt; ein Zug und die Tochter des deutschen Gesandten in Peking werden entführt; der Zug entgleist, die Tochter wird unter den Hammer einer Glocke gebunden, um beim Stundenschlag zermalmt zu werden; der Herzogin von Padua werden die Juwelen gestohlen; ein Gefangener wird gefoltert ("War aber nur ein Chinese"), ein Duell mit einem elektrisch geladenen Säbel ausgefochten, Bomben werden in Menschenmengen ("nur Boxer") und Menschen von Türmen geworfen. Trotz alledem entkommt der Verbrecherkönig, um endlich in Heft 93 (Der Henker von London) zur Strecke gebracht zu werden... Genug?

Diese schier unglaubliche Häufung an Spannungsmomenten ist sicher nicht der alleinige Grund für den durchschlagenden Erfolg der Heftchen. Hinzu kam ein hervorragendes Marketing -- es war auf absolute Marktdurchdringung gerichtet, modern und aggressiv. Auf die bunten Umschläge und Titelbilder wurde oft mehr Mühe verwandt als auf die Texte selbst (die denn auch nur selten hielten, was der reißerische Titel versprach). Die ersten Folgen eines Kolportageromans, die dazu dienten, Abonnenten zu werben und zu binden, wurden mit großer Sorgfalt konzipiert. Die zahlreichen "Authentizitätsbeweise" und heftige Werbung mit Lotterien und zum Teil kostbaren Prämien taten das Ihrige (die Prämien wurden meist aufgrund trickreicher Klauseln im Kleingedruckten nicht ausgegeben und 1883 verboten).

Und die Leser hatten das Gefühl, neben der spannenden Unterhaltung auch etwas gelernt zu haben. Zum Rezept des Romanschreibens gehörten eingestreute "lehrhafte" Passagen über die exotischen Orte, an denen viele Romane spielten, und ihre nicht minder exotischen Bewohner, über die technische Funktionsweise einer Höllenmaschine oder über die Schlachtordnung Napoleons.

Gleichzeitig wurden wichtige Bedürfnisse der Leserschaft angesprochen. Die Sehnsucht des Arbeiters nach Reichtum, des Bürgerkindes nach Allmacht, der Dienstmagd nach "wahrer Liebe", sie wurden in der Identifikation mit den Romanfiguren erfüllt. Auch die latenten subversiven Tendenzen, die unterdrückten aber doch populären Bedürfnisse auszubrechen, alles kurz und klein zu schlagen, es ihnen allen zu zeigen... Wenn Nick Carter sich seinen Weg der Gerechtigkeit durch die Menge schoß und prügelte, bedeutete das für die Millionen, die bewußt oder unbewußt phantasierten, dasselbe ihren Vorgesetzten, Herrschaften oder Lehrern anzutun eine tiefe Befriedigung, die das Leben ihnen versagte.

Bertolt Brecht hat auf diese Wirkung des Kriminalromans hingewiesen: "Es bereitet schon Genuß, Menschen handelnd zu sehen, Handlungen mit faktischen, ohne weiteres feststellbaren Folgen mitzuerleben. Die Menschen des Kriminalromans hinterlassen nicht nur Spuren in den Seelen ihrer Mitmenschen, sondern auch in ihren Körpern und auch in der Gartenerde vor dem Bibliothekszimmer. Der Mensch im wirklichen Leben findet selten, daß er Spuren hinterläßt. [...] Das Leben der atomisierten Masse und des kollektivisierten Individuums unserer Zeit verläuft spurenlos. Hier bietet der Kriminalroman gewisse Surrogate."[Anm. 1]

Mahlsberg wollte ihr zuvor kommen, faßte den Hut aber im gleichen Augenblick, wie das junge Mädchen, und ihre Hände berührten sich. Helli wurde rot und unterdrückte ein Zittern. Auch Mahlsberg verfärbte sich. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt, das junge Mädchen wieder zu sehen. Wie sehr hatte er Edith und Frau von Renner verwünscht, die ihn auf Mahlsberg festhielten und es ihm unmöglich machten, nach dem Stift hinüber zu fahren. Nun lief ihm das liebe Geschöpf, an dem er mit allen seinen Gedanken hing, hier unvermutet in den Weg, und er durfte es nicht in seine Arme nehmen, an seine Brust pressen und ihm ins Ohr flüstern:
"Ich sehne mich nach dir, ich liebe dich, sei mein, sei mein!" -- Und unausgesprochenes Leid im Herzen schieden beide wieder voneinander.

[Tragisches Spannungsmoment: Unausgesprochene Liebe]

Die ausgleichende Gerechtigkeit für unverschuldetes Elend, der edle Rächer, das uralte Bild des Räubers, der den Reichen nimmt und den Armen gibt, all diese klassischen Romanstoffe tragen Züge der Subversion. Und dieses Potential der Leserschaft, die Sehnsucht nach Ausbruch und Umsturz, wird angesprochen und soll auch angesprochen werden, denn nur ein befriedigter Leser bringt weiteres Geld, aber die Tendenz muß versteckt bleiben: die stets drohende Zensur verbietet es, offen Sozialkritisches zu äußern. Und so sind die Romane in einen engen Rahmen gezwungen, und ihre Herausgeber wissen es; in den Autoren-Anweisungen für John Drake heißt es etwa: "Der Leser soll seine Wunsch- und Wachträume, die oft gar nicht brav und bürgerlich sind, schwelgerisch nachempfinden. Die anonymen Mächte, der Mißbrauch des Menschen als Schachbrettfigur, die Ausbeutung des Einzelnen für eine Idee, der Automatismus der Macht sind die Ideenfronten, gegen die John Drake zu kämpfen hat." Aber gleichzeitig wird gefordert: "Schädlich ist jede Tendenz, die den Beweis zu erbringen versucht, als sei Opposition gegen die Obrigkeit erstrebenswert." Das Gute siegt, der Verbrecher wird gestraft, die Trinität Gott-Kaiser-Vaterland herrscht ungebrochen.

Doch genau diese sahen die Schundkämpfer in Gefahr. Staatliche Stellen, Schulbehörden und Lehrervereinigungen, kirchliche Organisationen, und unterschiedlichste Vereine, die wie Pilze aus dem Boden schossen, stürzten sich in den Kampf -- in der wilhelminischen Treibhausluft aus Prüderie, Paternalismus und kirchlicher Moral blühte der Antischund.

Die Anschuldigungen waren vielfältig; die geringste, der Schund sei schlicht wertlos, kunstloses Geschmiere. Doch dann geht es richtig los: Er zerstöre den "Sinn für Wahrheit und Wirklichkeit", eine vielfältig und fast formelhaft gebrauchte Wendung, bei der es weniger um die falsche Darstellung von Tatsachen ging, die ja in der Tat im Groschenheft gang und gäbe war, als vielmehr um das dahinterstehende Weltbild, die Haltung zur Welt und zu ihrem Geschehen und damit auch um eine moralische Qualität. Indem das Böse, das Verbrechen, die Falschheit drastisch und unverhüllt geschildert werden, entstehe ein geistiges Klima, in dem aller "Sinn für einfachen, heiteren Lebensgenuß und die geistige Freude am Dasein" verkümmern. Die Konsequenz sei, daß der "innere Halt, der Frohsinn und die Zufriedenheit unserer Nation in bedenkliches Schwanken geraten", so Heldt.

Vor allem für Kinder und Jugendliche wird die Gefahr in der "Entfesselung der Sinnlichkeit" gesehen. Der Schundroman spekuliere auf die "niedrigsten Instinkte und Leidenschaften" und bringe die "noch zarten Nerven eines jungen Körpers zu völliger Überreizung und Zermorschung". Die Folge: Das Kind "bricht im Lebenskampf zusammen", wie es in einem Flugblatt der vereinigten Dresdner Jugendschriften-Ausschüsse von 1909 heißt. Die verdeckt dahinterstehende Argumentation, aus Gründen der Dezenz nicht weiter ausgeführt, ist natürlich die, das Kind werde durch die aufreizende Lektüre zur Masturbation verleitet, welche wiederum die entsprechenden körperlichen, geistigen und seelischen Schäden zur Folge habe. Doch auch die politischen Aspekte des Schundkonsums werden gesehen und sind den Schundkämpfern ein besonderer Dorn im Auge. Durch die gezielte Darstellung von Normverletzungen im Groschenroman werde das sittliche Empfinden abgestumpft, der Glaube an menschliche Gerechtigkeit, göttliche und staatliche Autorität geschwächt, es entstünde eine Unzufriedenheit, die, so die Angst, nur der Sozialdemokratie in die Hände spielen könne. In einem Zitat des Parochialvereins zu St. Johann (Berlin) finden wir um 1890 alles Böse vereint, dessen Ursprung in Schmutz und Schund liegt: Diese Literatur sei "danach angethan unser Volk von Gott zu entfremden, die Morde und Selbstmorde vermehren zu helfen, die Unsittlichkeit zu fördern, die Sozialdemokratie groß zu ziehen und zum 'Klassenhaß' aufzufordern." Sonst noch etwas?

Aber sicher. Abenteuerliche Berichte kursierten, mit Begeisterung immer wieder aufgewärmt, durch die Landschaft der Schundkampfschriften. Die harmlosen, von den Dienstmädchen und Stallburschen, die aus "Lesewut" ihren Dienst versäumen und ihre Stellung verlieren; die Geschichte von dem Knaben, der im Fieber von Indianern phantasiert -- folglich hat die verderbliche Literatur seine Krankheit hervorgerufen; Fälle von "Irrsinn" und "Tobsucht", ausgelöst durch exzessive Lektüre; Sorgfältig ausgefeilte Beschreibungen von Selbstmorden Jugendlicher nach dem Beispiel von Romanheldinnen oder -helden; und schließlich Verbrechen jeglicher Art, Diebstähle, Überfälle, bis hin zu Mord, und immer findet sich im Besitz der jugendlichen Täter der entsprechende Schund. Die Argumentation erinnert in vielem an die heutige "Gewalt durch Fernsehen"-Diskussion. Da wird der kindliche Nachahmungstrieb zitiert, auf Verrohung und Abstumpfung hingewiesen, und die direkte kausale Verknüpfung von Schundkonsum und Gewaltanwendung steht außer Zweifel. Immerhin war die Debatte von einigem Nutzen für die jugendlichen Delinquenten; in den Haftanstalten kursierte der Tip, in der Verhandlung weinend und reuig auf die Verbrechergeschichten hinzuweisen, von denen man zur Nachahmung verführt worden sei -- das gab mildernde Umstände.

Helli schluchzte leise auf.
"Edith sagte mir, daß Sie sie heiraten würden, denn Sie seien arm und sie selber wäre reich. Und Sie brauchten eben eine Frau mit einer Mitgift und ich -- ich habe doch nichts, ach, nun sind Sie mir böse!" Ueber Mahlsbergs Antlitz war eine Röte geflogen, die Röte des Unwillens über Edith Sendler. Nun aber beugte er sich zu dem jungen Mädchen herab und schaute ihm in die Augen.
"Ja", sagte er, "ich bin arm und du auch, aber wenn du mich lieb hast, ein ganz klein wenig lieb, Helli!" "Ich hab dich ja lieb", stotterte Helli, "aber du -- du -- nicht!" Da lachte Mahlsberg glücklich.

[Konfliktlösung Teil I: Erfüllte Liebe]

Doch welches Mittel gegen das Übel anwenden? Die Schriftenflut der Antischmutz-Kampagne diente vor allem dazu, die Eltern aufzurütteln, ihnen die Gefahr vor Augen zu führen. Denn in diesem Punkt waren sich die pädagogisch Interessierten jeglicher politischer und weltanschaulicher Couleur einig: Es ist eine schlimme Gefahr für "unser Volk" und "unsere Jugend", und sie muß bekämpft werden. Doch dafür reichen gesetzliche und schulische Maßnahmen nicht aus, man muß die Eltern erreichen, die den direktesten Zugang zum Kind haben. Die Eltern, die den Schund zwar verbieten, aber nicht konsequent genug die Sachen ihrer Kinder danach durchforsten; die Eltern, die das Zeug schlecht, aber harmlos finden; die, welche -- schlimmstenfalls -- es selber gerne lesen; sie alle müssen erreicht und von der Notwendigkeit des "schärfsten Kampfes" überzeugt werden.

Die zu diesem Zweck angewandten pädagogischen Argumentationsweisen erreichten eine erstaunliche Bandbreite, je nach Autor und Zielgruppe. Einig waren sich alle in einem gewissen patriotischen Grundtenor: "Eltern! Eure Knaben sind Euer Stolz und Eure Hoffnung. Sie sollen auch der Stolz und die Hoffnung des deutschen Volkes sein. Bewahret sie vor der nervenzermorschenden, geistverwirrenden, herzverrohenden Wirkung der Schundliteratur!"[Anm. 2] Hin und wieder findet sich ein äußerst plump-pädagogischer Ton, wie etwa in der Kampfschrift von Karl Brunner, der, nachdem er den Leser ausführlich durch den "furchtbaren Morast" von Schmutz und Schund geführt hat, fortfährt: "Wenn ich auch jetzt noch dir zutrauen wollte, daß du Lust hättest, solche Schriften zu kaufen, zu lesen, oder gar deinen Kindern zu überlassen, dann würdest du wohl darin eine schwere Beleidigung deiner Menschenwürde erblicken. In flammender Entrüstung wirst du solche Machwerke zurückweisen, als einen Hohn auf deinen gesunden Menschenverstand, dein normales Empfinden für Gut und Böse, deine ganze Geistesbildung!"

Sehr viel geschickter argumentiert der Dürerbund, dessen Flugblatt sich vornehmlich an den organisierten, bildungswilligen Arbeiter wendet. Dessen potentieller Standesdünkel wird gezielt hervorgelockt und ausgenutzt: "Laßt Ihr Eure Kinder Schnaps trinken? Der Lumpenproletarier tut das vielleicht, der Verkommene, der Gewissenlose oder auch der -- Dumme, aber ganz gewiß nicht der gescheite Mann und die helläugige Frau, die ihren Menschenwert fühlen und die wollen, daß ihre Kinder heranwachsen zu gesunden und starken Menschen, zu Glücklichen, die's einmal womöglich besser haben, als ihre Eltern selbst." Der Arbeiter wird in seiner Aufstiegsorientierung bestärkt, die Schundliteratur als drohendes Gegenbild gezeichnet: "Vorwärts kommen kannst du mit so verdorbenem Kopfe nimmer und nie." Gleichzeitig entsteht aus der sozialdemokratischen Grundhaltung ein gewisser Legitimationsdruck: "Wir, die wir hier zu Euch sprechen, wir dünken uns nicht besser oder vornehmer oder gescheiter, als Ihr seid [...]. Durch unseren Beruf aber sind wir gerade über diese Dinge besser unterrichtet, als Ihr, wie Ihr Eurerseits auf anderen Gebieten besser unterrichtet seid, als wir sind. Wir dürfen also zu Euch guten Gewissens reden."

Wirklich originell dagegen erscheint die Argumentation bei Arthur Heldt. Um die Eltern von den Gefahren der Schundliteratur für ihre Söhne zu überzeugen, wählt er den Umweg über die im Schundkampf oft vernachlässigten Mädchen. Er hält den Eltern vor, sie wären schockiert, wenn ihre Töchter ähnliches lesen würden wie die Jungen (was sicher oft genug der Fall war) -- warum also sollten sie es den Jungen erlauben? Er skizziert er ein Horrorszenario des "gleichberechtigten" Schundkonsums, indem er ironisch spezielle Schundserien für Mädchen fordert, die, anders als die Jungen, keine spezielle Unterweisung in Bezug auf Laster, Schandtaten und Verbrechen erhalten. "Ist es aber nicht unsere Pflicht, unsern Töchtern dieselben erzieherischen Vorteile zu gewähren, welche ihre Brüder besitzen, um auch sie für ein ernstes, eifriges Verbrecherleben geeignet zu machen?" Mit großer Begeisterung entwickelt er diese Idee über etliche Seiten, entspinnt ausführlich -- und nicht ohne Talent -- die entsprechenden Geschichten von der "Einbrecherkönigin" und der "Mädchenmörderin", die ohne mit der Wimper zu zucken die greulichsten Schandtaten begehen und mit Begeisterung und Überzeugung jeglicher Moral zuwiderhandeln... und dabei steigert er sich derart in die Inhalte seines Denkspiels hinein, daß er Foucaults Spirale gar nicht bemerkt, die grinsend in der Ecke sitzt und sich die Hände reibt...

Doktor Bach tauchte zwischen den Rankengewächsen auf und in seinen Augen lag ein seltsames Leuchten. "Nein", sagte er, "nicht ich habe hier meinen Segen zu erteilen. Ich kann mich nur freuen über zwei junge Menschen, die sich in Liebe gefunden haben. Das entscheidende Wort aber hat mein Freund, Graf Pfeil, zu sprechen." "Ich?" fragte dieser erstaunt. "Lieber Karl", bat der Doktor mit bewegter Stimme, "wirst du deinem Freunde eine kleine Komödie verzeihen können, die er dir zu Liebe ins Werk gesetzt, geleitet von den reinsten und edelsten Motiven, dich glücklich zu sehen? Wirst du mir verzeihen, daß ich dir deine Enkelin unter falscher Flagge ins Haus führte?" "Meine Enkelin!" stammelte der Graf und starrte Helli an.

[Konfliktlösung Teil II: Geld und Liebe (und Stand)]

Was nun die Mittel anbetrifft, um die Seuche einzudämmen, so wurden vielfältige, zum Teil nicht unoriginelle Vorschläge gemacht, so etwa Boykott aller Läden, die Schund verkaufen -- nicht dumm, aber utopisch. Immer wieder wurde auf die Pflicht der Eltern hingewiesen, peinlich genau den Besitz ihrer Kinder zu durchsuchen, gefundene Hefte zu konfiszieren und zu vernichten und die Kinder strengstens zu ermahnen, auch zu strafen. Die Lehrer nahmen ähnliche Razzien vor, bei denen oft Tausende von Heften feierlich auf dem Schulhof verbrannt wurden. Es gab aber auch Schundgegner, die bei der Bekämpfung tiefer ansetzen wollten. Sie kritisierten die Praxis des Schulunterrichts, das langweilige Aneinanderreihen von Merkmalen, die ewige geistlose Auswendiglernerei und forderten einen anregenden, strukturierten Unterricht, durch den das Denken der Kinder gefördert wird, statt den Kopf mit Fakten zu überladen -- durchaus moderne Gedanken. Sie gingen sogar noch weiter und kritisierten die Lehrkräfte, die, selbst ohne Verständnis für die deutsche Literatur, unfähig seien, dies in den Kindern zu wecken. Doch das grundlegendste und meistverwandte Argument lautete stets: Das schlechte Buch bekämpft man mit dem guten. Schund wird gelesen, weil er spannend ist, bunt illustriert und (scheinbar) billig. Also muß man nur gute, spannende, bunte und billige Literatur zur Verfügung stellen und den Leuten genau so aufdrängen, wie der Schund sich aufdrängt, dann werden sie sie schon lesen.

Diese Rechnung ging natürlich nicht auf. Schund wurde und wird gelesen, eben weil es Schund ist, genau so soll er sein und nicht anders, genau so dumm, reißerisch, unlogisch und herrlich kitschig. Die "gute" Literatur erfüllte diese Bedingungen nicht; sie war einfach zu langweilig, um konkurrieren zu können.

Dessenungeachtet versuchten die verschiedenen Vereine und Lehrerbünde, sich mit ihrer Vorstellung von "Volksliteratur" auf den Markt zu drängen. Es erschienen zahlreiche Broschüren mit wegweisenden Titeln wie Der Gesundbrunnen, in denen sich Auflistungen guter, sittlich wertvoller Literatur für jedes Alter fanden. Die entsprechenden Bücher konnten sich auch einen gewissen Marktanteil erobern, doch es gelang ihnen auch nicht annähernd, Schmutz und Schund von ihrem nun schon angestammten Platz zu verdrängen.

Aber Mahlsberg ließ sie los und eilte in den Salon. Hier stieß er auf eine sehr merkwürdige Gruppe. Frau von Renner stand am Fenster und sah angelegentlich hinaus. Auf dem Rokokosofa aber saß Edith und vor ihr kniete Schwarzer. Als Mahlsberg eintrat, wurde Edith rot und Schwarzer stand auf. Der Tenor war weit davon entfernt, sich zu verfärben. "Herr von Mahlsberg", sagte er theatralisch, "ich habe in Ihrem Hause das Glück meines Lebens gefunden. Ich habe mich soeben mit Fräulein Sendler verlobt."

[Konfliktlösung Teil III und vollkommene Harmonie: Auch die Nebenbuhlerin findet ihr Glück]

Unzweifelhaft ist, daß der Schundkampf, bei allen hehren Zielen, in hohem Maß auch Produktionskampf war: Es ging immerhin um einen Absatzmarkt mit einem Umsatz von jährlich 50 Millionen Mark, und warum sollte dieses Geld nicht in die eigenen Taschen fließen...

Doch gleichzeitig ging es um Werte, um Werte, die in hohem Maß emotional besetzt waren, die einem Kollektiv, die sich für das Wohl der ganzen Gesellschaft verantwortlich fühlte, als Leitsystem dienten. Die Schundkämpfer betrieben die systematische Durchsetzung ihres Weltentwurfs in dem sicheren Wissen aller Missionierenden, auf dem einzig richtigen Weg zu sein.

Denn was auf dem Spiel stand, war emotional hochbrisant: das sorgfältig gehütete soziale Tabu der heilen und unschuldigen Kinderwelt, das in keinem Fall angetastet werden durfte. Diese Konstruktion der kindlichen Unschuld dient der als schuldhaft und sündig empfundenen Erwachsenenwelt als Gegenbild und Refugium, zumindest noch ein Ort auf dieser Welt, an dem alles gut ist, behütet, geborgen, frei von Schmutz, Schuld und Sünde. Eine allgemeine Bekanntheit Freudscher Ideen war noch in weiter Ferne, und wenn Kinder Verhaltensweisen zeigten, die mit diesem heilen Bild unvereinbar waren, dann bot sich die Schundliteratur an, die als diabolus ex machina aus einem reinen, unschuldigen Kind im Handumdrehen ein moralisch und gesundheitlich zerrüttetes Wesen machen konnte, das zu allen Schandtaten fähig war.

Die Schundliteratur hat hier eine Stellvertreterfunktion; an ihr und durch sie werden gesellschaftliche Konflikte ausgetragen, die mit ihr zunächst wenig zu tun haben, daher auch unser leicht amüsiertes Befremden, wenn wir Schund von damals lesen und uns fragen, worüber sich eigentlich alle so aufregten. Der Schund wird zum Sündenbock für Fehlentwicklungen einer Gesellschaft, die nicht fähig und bereit ist, ihre sozialen Probleme zu lösen. Das Thema ist alt und die Konflikte immer noch nicht ausgetragen, finden wir doch heute genau dieselben unsäglichen Debatten um die Geschmacklosigkeit und moralische Verwerflichkeit der derzeitigen Talkshow-Schwemme.

Nichts hat sich geändert. Ein modernes Medium ist an die Seite der mittlerweile etwas antiquierten (wenn auch immer noch massenhaft gelesenen) Groschenhefte getreten, um ihnen Unterstützung zu leisten in ihrer großen Aufgabe, das Bedürfnis der Menschen nach Schmutz und Schund zu befriedigen. Denn ob wir nun selbst gern Schund lesen oder uns in Foucaultscher Lust über die erheben, die es tun -- Spaß haben wir doch alle daran.

 

autoreninfo 
Dr. Ina Jekeli, Jahrgang 1972, studierte Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Tübingen und Paris. Sie promovierte in Tübingen mit der Dissertation: Ambivalenz und Ambivalenztoleranz. Soziologie an der Schnittstelle von Psyche und Sozialität. Osnabrück 2002. Parallel war sie an der Uni Tübingen in einem Forschungsprojekt zur Heimerziehung taetig. Seit 2002 lebt sie in Amsterdam und arbeitet im Bereich der Familiendiagnostik und Supervision bei kommunikativen und familienstrukturellen Problemen. Ina Jekeli ist seit 1997 Mitglied der parapluie-Redaktion.

 

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