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no. 26: visuelle kultur -> aufgelesen
 

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Besprochen werden:
* Lukas Glajc: Verlust des Negativs. Eine kulturphilosophische Reflexion über die Fotografie.
* Eigner, Christian (Hrsg.); Weibel, Peter Weibel (Hrsg.): Un/Fair Trade. Die Kunst der Gerechtigkeit.
* Heike Schmoll: Lob der Elite. Warum wir sie brauchen.
 

Lukas Glajc: Verlust des Negativs. Eine kulturphilosophische Reflexion über die Fotografie.

Oberhausen: Athena 2008, 103 Seiten.

Der im Titel dieser kompakt angelegten Untersuchung angesprochene Verlust ist in gewisser Weise jedem bekannt, der in den letzten Jahren Fotos geknipst hat. Es waren Jahre, in denen zuerst namhafte Kamerahersteller die Produktion von 35mm-Spiegelreflexkameras einstellten, wenig später unweigerlich gefolgt von der Ankündigung der Firma Eastman Kodak, in Bälde die Entwicklungsarbeit an neuem für eben diese Apparate vorgesehenem Filmmaterial zu beenden. Fotoläden, die noch eigenhändig qualitativ hochwertige Abzüge herstellen? Zunehmend Ausnahmen von der neu instituierten Regel. Diaprojektoren? Nurmehr Relikte der Fotografiegeschichte. Selbst den Polaroidkameras, die ihrerseits in den 50er Jahren angetreten waren, um Amateurfotografen vom bangen Warten auf die Entwicklung ihrer Negative zu erlösen, wird demnächst der letzte Rest der noch auf Vorrat gekauften Filmkassetten ausgehen (Sofern sie nicht ein Investor quasi als Retrophänomen am Leben erhält).

Die digitale Revolution in der Fotografie ist nicht nur in vollem Gange, sondern vollzieht sich mit einer Rasanz, die ihrer theoretischen Erfassung bislang um einige Schritte voraus ist. Klassische Texte der Fotografietheorie wie Benjamins Kleine Geschichte der Photographie, Susan Sontags Über Fotografie oder Roland Barthes' Die helle Kammer werden durch die neuesten Entwicklungen zwar keineswegs über Nacht ungültig, harren aber zweifellos einer sorgfältigen Neulektüre eingedenk der Umwälzung, die das digitale Bild im Verhältnis zum analogen darstellt. Eine der Stärken von Glajcs Buch ist allerdings der Beweis, daß ein zündender Denkanstoß in diese Richtung gut und gerne auch ohne die Materialschlacht umfangreicher Rekonstruktionen der Theoriegeschichte (wie sie z.B. zwei gewichtige Bände von Bernd Stiegler bieten, die 2001 und 2006 im Wilhelm Fink Verlag erschienen) auskommen kann.

Die Radikalität der digitalen Umwälzung besteht, wie Glajc überzeugend feststellt, nicht lediglich in dem, was die Digitalfotografie überhaupt so schnell hat populär werden lassen: die mühelose, weil quasi unmittelbare Herstellung, Archivierung und Verbreitung einer unabsehbaren Masse von mehr oder weniger makellosen Bildern. Hinzu kommt laut Glajc etwas, dem die meisten Benutzer von digitalen Kompaktkameras wohl eher wenig Beachtung schenken: die Tatsache, daß man die so geknipsten Fotos im strengen Sinne gar nicht mehr als 'Lichtbilder' bezeichnen kann. Mit einem Hinweis auf die Differenz zwischen Belichtungszeit und Berechnungszeit (jedem Benutzer einer preiswerten Digitalkamera schmerzlich vertraut in Form der unweigerlichen Auslöserverzögerung) argumentiert der Autor, daß das Licht in der Digitalfotografie nurmehr als Anstoß eines Berechnungsprozesses dient, der vom Sensor aus die Software mit Daten versorgt. In der herkömmlichen Fotografie dagegen hinterließ das Licht selbst seine Spuren auf dem Negativ -- ermöglichte also laut Glajc (der hier Barthes folgt) das Sichtbarmachen einer unmittelbaren Anwesenheit, einer "wirkliche[n] Spur der Realität". Auf dieser grundsätzlichen Differenz zwischen einer der analogen Spur eingeschriebenen Präsenz einerseits und der spurlosen, binären Virtualisierung des Lichts andererseits beruht die Argumentation des gesamten Buches.

Glajc interessiert sich dabei nur zum Teil, nämlich nur im ersten Kapitel, für die rein fotografischen Implikationen dieser Differenz. Darüberhinaus geht es ihm, wie bereits im Untertitel des Buches angezeigt, um eine philosophische Diagnose gegenwärtiger Kultur, die metaphorisch an den Fotografiediskurs andockt. So werden bereits im ersten Kapitel eine Reihe kapitaler kulturkritischer Breitseiten gegen das Computerzeitalter abgefeuert: die Digitalkamera erscheint als "Fremdkörper", der den Menschen kraft der Undurchschaubarkeit ihrer internen Funktionszusammenhänge kognitiv verarmen läßt und so die Unmenschlichkeit einer auf Kalkulation, oberflächlichen Effekt und maximalen Profit ausgehenden Kultur versinnbildlicht. Ein mechanisches Werkzeug wie die analoge Kamera konnte noch Teil einer harmomischen Beziehung zwischen fotografierendem Subjekt und fotografiertem Objekt werden -- weil ihre Mechanik einsehbar war, weil deren Fehlleistungen ebenso wie jene des Benutzers ästhetisch mit zum Geschäft gehörten und weil die Mechanik überdies auch bewußt manipuliert werden konnte (man denke zum Beispiel an die Holga-Kameras, die gerade durch die Manipulation ihrer primitiven Plastikinnereien zum ästhetischen Faszinosum und Kultobjekt geworden sind). Bei der Digitalkamera, so Glajc, entfällt eine solche Einbindung des Subjekts in den fotografischen Prozeß, was der Autor als unmißverständlich antihumanistisches Zeichen deutet.

Das zweite Kapitel bietet einen philosophisch-ästhetischen Rückblick auf die Entwicklung der Theorie des "gegenwärtigen Lichts", welches in der Interpretation Glajcs von Platons gleichnishafter Höhle aus über die Malerei des Mittelalters hinweg bis ins 19. Jahrhundert hineinscheint, wo dann das historische Auftauchen der Fotografie dieses Licht auf dem Negativ materiell einschreibt. Der Autor zeichnet diese Linienführung gekonnt nach, um zu zeigen, daß die klassische Form der Fotografie nicht, wie die ästhetischen Debatten des 19. Jahrhunderts rund um ihr Antreten gegen die Kunst bisweilen gedeutet worden sind, einen absoluten Bruch gegenüber der malerischen Tradition darstellt, sondern daß über den Weg einer philosophischen Betrachtung des Lichts in der Tat eine Kontinuität beschrieben werden kann, die erst von der Digitalfotografie unterbrochen wird. Während der klassischen Fotografie, die die Perspektivität der Malerei als ein Konstrukt enthüllte und somit auch den Weg für die Malerei des 20. Jahrhunderts ebnete, ein aufklärerischer Impuls zugeschrieben wird, beschränkt sich die Digitalfotografie für den Autor auf eine reine Nachahmung der Oberflächen. Anstatt Wahrnehmungsprozesse bewußt zu machen, täuscht sie eine Sichtbarkeit vor, die letztlich nur auf eine unbewußte, passive Teilnahme an einem kollektiven Verblendungszusammenhang hinausläuft.

Mit der Erwähnung der kritisch-aufklärenden Funktion führt Glajc bereits im zweiten Kapitel den Negativ-Begriff in einer Weise ein, der weit über den unmittelbar fotografischen Zusammenhang hinaus- und in die Sphäre der Kulturkritik hineinreicht. Dies wird im dritten Kapitel dann philosophisch weiter ausgearbeitet, wo eine Dialektik von Positivbild und Negativ entwickelt wird, derzufolge nur beide in ihrer Einheit "das ganze Bild" liefern. Das Negativ ist das "poetische Gegenbild" zur Prosa der positiv bestehenden Verhältnisse, und als solches ein integraler Bestandteil einer substantiellen Gesellschaftskritik -- oder, wie Glajc schreibt, einer "Korrektur der Sicht auf die Dinge".

Diese poetisch inspirierte Kritik mündet dann im letzten Kapitel des Buches in eine Evokation dessen, was dem Autor zufolge der Gegenwart abhanden gekommen ist: eine substantielle Beziehung zur Negativität im Sinne eines Bewußtseins der Verschollenheit jener Dinge, die im Archiv der Geschichte schlummern. Im Gegensatz zur jederzeit unmittelbaren Verfügbarkeit des digitalen Archivs im Internet oder der eigenen Festplatte denkt Glajc hier offenbar an vorindustrielle Zeiten zurück und bemüht ein Vokabular mit unverkennbar Heideggerscher Schlagseite, ohne sich in diesem Kapitel allerdings direkt beispielsweise auf dessen späte Technikkritik zu beziehen, die hier gleichwohl mitklingt (im dritten Kapitel dagegen wird explizit eine konstruktive Lektüre eines Passus aus Kant und das Problem der Metaphysik unternommen). So baut der Autor ausgehend von der Idee der Verschollenheit ein Wortfeld auf, das von der Existenz in "dunkelsten Assoziationen" zur "Scholle", zum "Erdhaften" und schließlich bis hin zum "Bauer" reicht, der kraft seiner bewußten Handarbeit hinter dem Pflug als Modell eines gegenüber der sinnentleerten Gegenwart "erneuerten Menschen" der Zukunft aufgeführt wird. Ist dann auch noch von der Gefahr der Entwurzelung und der Wahl "zwischen dem Überflug und dem Untergang" die Rede, so stellt sich Glajc bemerkenswerterweise allein aufgrund seiner Wortwahl in die Nähe einer kulturkritischen Tradition, die in deutschen Landen auf eine in Teilen höchst zweifelhafte Vergangenheit zurückblickt und sich mit der Aufklärung, an welcher dem Autor an anderer Stelle doch explizit gelegen zu sein scheint, nur schwer vereinbaren läßt. Ein kurzes Postskriptum relativiert die unmittelbar vorangegangenen schicksalsschwangeren Worte dann bis zur Verwirrung des Rezensenten, denn hier heißt es versöhnlich, daß "auch mit einer Digitalkamera noch alles gerettet" sei, solange man sich nur der "Verschollenheit" der Bilder, die diese produziert, bewußt werde oder bleibe. Da aber, wie Glajc selber zuvor durchaus schlüssig argumentiert hat (wenn man sich denn mit ihm auf den Heideggerschen Feldweg begibt), die Digitaltechnik nicht darauf aus ist, ein solches rettend-erinnerndes Bewußtsein wachzuhalten oder zu produzieren (man könnte auch sagen: der Seinsvergessenheit entgegenzuwirken), ist nicht unbedingt einzusehen, woher genau hier die Rettung im Gleichschritt mit der Gefahr wachsen sollte.

Glajcs Aufweis einer zentralen Differenz zwischen digitalem und analogem Bild sowie deren Anbindung an die Betrachtung des Lichts im theologischen und ästhetischen Denken der Vergangenheit sind originell und verdienen weitere Diskussion und Reflexion. Was den kulturkritischen Blick auf die Gegenwart und den gegen Ende des Buches eigenartig post-apokalyptisch eingefärbten Blick auf die Zukunft angeht, kann man dem Autor nur schwer folgen. So schätzt Glajc beispielsweise den Philosophen Vilém Flusser -- ein einflußreicher Denker des Virtuellen -- als Advokaten eines "Heimischwerdens" in der Isolation des Subjekts vor dem Computerbildschirm ein, läßt aber dabei Flussers eingehende Problematisierung eben jenes Heimatgedankens unbeachtet, der rein terminologisch von Glajcs "Scholle" und "Erdhaftem" nicht allzuweit entfernt ist; eine substantielle Beschäftigung mit Flussers eigenen Gedanken zur Fotografie oder zum Heideggerschen Erbe findet hier nicht statt.

Auch drängt sich die Erinnerung an die von August Sander in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vollständig analog fotografierten Gruppen und Familien von Westerwälder Bauern auf, die zwar wohl noch der von Glajc evozierten "natürlichen Schollenarbeit" nähergestanden haben mögen als wir, denen dies aber -- und dies war ein zentraler Angelpunkt von Sanders enzyklopädischem Fotografieprojekt Deutsche Menschen des 20. Jahrhunderts -- auf Negativ oder positivem Abzug keinesfalls anzusehen ist. Ihre Sonntagskleidung ist in vielen Fällen von jener, die die von Sander ebenfalls fotografierten Metzgersöhne oder Banklehrlinge tragen, kaum zu unterscheiden. Man könnte dies dahingehend verstehen, daß auch dem analogen Bild bereits eine Virtualität innewohnt. Schon in Sanders handwerklicher Herstellung von Lichtbildern zeigen sich so Inkonsistenzen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren -- beispielsweise zwischen dem durch die Bildunterschrift als solchen identifizierten realen Bauern vor der Kamera und seiner verdeckten Absicht, gerade nicht als ein solcher aufzutreten --, aus denen sich das von Glajc angestrebte "Ganze" einer gesellschaftlichen Welt nicht unbedingt zusammenfügen läßt.

(Martin Klebes)

 

Eigner, Christian (Hrsg.); Weibel, Peter Weibel (Hrsg.): Un/Fair Trade. Die Kunst der Gerechtigkeit.

Wien, New York: Springer 2008, 436 Seiten

 

Prada in the Middle of Nowhere -- oder: wer braucht das?

Eine Kulisse, wie man sie aus Wim Wenders' Filmen kennt, oder, wer schon selbst dort war, aus Amerikas tiefem Südwesten: Der Asphalt einer schnurgerade verlaufenden Straße flirrt unter einem wolkenlosen, stahlblauen Himmel. Tief hängt der über dem flachen trockenen Land, wo ein paar Grasbüschel auf einen Luftzug warten. Das Blau strahlt in vorbildlichem Komplementärkontrast zum Gelb des Mittelstreifens. Und ab und an säumt ein hölzerner Strompfahl den staubigen Straßenrand.

Hier steht auch Prada Marfa. Das blitzblanke weiße Gebäude wirkt wie ein überdimensionaler Schuhkarton, der nutzlos seinen scharfkantigen Schatten zur Seite wirft. Auf und über den Markisen der polierten Schaufenster aus Panzerglas prangt der bekannte Schriftzug der Nobelmarke Prada. Prada Marfa befindet sich direkt am Highway 90 abseits der Kleinstadt Marfa in der Halbwüste von West-Texas. Hinter den Scheiben ist die Taschen- und Schuh-Winterkollektion des Jahres 2005 ausgestellt.

 

Die Kunst der Gerechtigkeit I

Doch das Bild entspringt nicht etwa einem Film. Prada Marfa gibt es wirklich. Die Prada-Boutique -- vom Synonym für Luxus allein durch seine Deplaziertheit fernab von gewohntem, urbanem Kontext am Seitenstreifen einer Wüstenstraße zur Kapitalismuskritik werdend -- ist das Kunstwerk von Michael Elmgreen und Ingar Dragset. Eine Skulptur in Realgröße.

Prada Marfa ist eine der Arbeiten, die (in diesem Fall als Fotografie) 2007 in der Ausstellung Un/Fair Trade -- Die Kunst der Gerechtigkeit der Neuen Galerie am Landesmuseum Johanneum in Graz zu sehen waren -- eine Ausstellung, die über die Präsentation von Kunstwerken zum Thema globaler un-/gerechter Handel hinaus begleitet wurde von einer Art Blog zum Thema. Jeder Netzbesucher, jede Netzbesucherin konnte dadurch Teil der Ausstellung werden, denn die im Blog veröffentlichten Nachrichten, Kommentare oder auch Kunstwerke wurden in der Ausstellung wiedergegeben.

Zu dieser Ausstellung ist ein gleichnamiger Buchkatalog erschienen, der weit über das hinausgeht, was man von einem Ausstellungskatalog erwartet. Vielmehr bietet die Aufsatzsammlung einen reichhaltigen Rundumschlag zum Thema fairer Handel.

Das im Buchklappentext gegebene Versprechen, eine Antwort auf die Frage zu liefern, was passiert, wenn Kunst und Ökonomie zusammenkommen, löst allerdings nur der Klappentext selbst ein, und das bleibt natürlich etwas dünn: "Wo Kunst und Ökonomie einander begegnen, kann sich der gerechte (Welt)handel oder Tausch als Mega-Thema präsentieren; als der Mainstream von morgen, dem es schon heute Rechnung zu tragen gilt", heißt es dort verheißungsvoll -- und bleibt eine Verheißung. Denn im Buchinneren wartet lediglich ein Kapitel zum Thema "Kapital. Kunst. Gerechtigkeit", nur wenige Gedanken zu genau diesem Zusammentreffen. In der Buchmitte ("Kunst und Künstler") finden sich zwar neben der Fotografie von Prada Marfa 29 weitere Abbildungen der ausgestellten Kunstwerke sowie kurze Texte zu deren Urheberinnen und Urhebern. Weitere Erläuterungen bleiben aber aus. Vielleicht ist es hier wie meist bei Ausstellungskatalogen: das eigentliche Kunstwerk kommt als Fotografie kaum mehr zum Ausdruck. Um seine Wirkung, seine Intention zu erleben, muß man die Ausstellung persönlich besucht haben. Hier bleibt das Buch eben 'nur' ein Ausstellungskatalog.

Alle weiteren Kapitel, noch über 300 Seiten (die Kunstwerke in der Mitte belegen knapp 100 Seiten), lassen dafür wenig aus an Information, Grundlegendem und Neuem zum Thema un-/gerechter (Welt)handel.

 

Free Trade ist nicht Fair Trade -- Grundlagen

Daß 'free' nicht gleich 'fair' und warum das so ist, erklärt Mitherausgeber Peter Weibel im ersten Kapitel. "Wenn vor Afrikas Küsten Fischer in kleinen Holzbooten mit hochsubventionierten Hightech-Fangflotten um die Wette fischen, dann können sie nur verlieren" (S. 15): Armut ist kein Schicksal, sondern eine Konstruktion. Konstrukteure sind die Industrienationen, in deren Geschichte schon immer Strukturen zerstört wurden. So konnte England nicht einfach nur durch wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt zum Baumwollverarbeiter Nummer 1 werden, sondern indem es zunächst, um der Industrialisierung willen, die eigene Landwirtschaft zerstörte und Indien deindustrialisierte. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts hochentwickelte Textilindustrie Indiens wurde dadurch ruiniert, Indien mußte sich auf den Baumwollanbau spezialisieren, da England Weizen und andere Nahrungsmittel aus den USA bezog. Hungerepidemien waren die Folge dieser Deindustrialisierung Indiens (und ihrem 'Gegenstück', der Industrialisierung Englands). Der 'freie Handel' war noch nie frei, sondern immer nur Vorwand, die eigene Industrialisierung auf Kosten anderer Länder voranzutreiben. Daß dabei auf Freiheit nie besonders viel Wert gelegt wurde, sieht man auch an den Reaktionen der Industrieländer auf die nun drohende eigene Deindustrialisierung durch Billigarbeitskräfte in den Nationen der Südhalbkugel: Sofort werden Schutzzölle erhoben oder andere Handelshemmnisse konstruiert -- "'free trade' endet dort, wo die eigenen Interessen gefährdet sind" (S. 15).

Peter Weibel beschreibt, auf die wichtigsten Zusammenhänge verdichtet, die "Spirale der Armut", "Wie der freie Markt unfreie Knechte erzeugt" und wie durch "Schuldenspirale und Schurkenwirtschaft" der "Finanzmarkt" (Kapitelbezeichnungen in Anführungsstrichen) die Welt regiert. Denn nicht Dollars, sondern Kredite sind die eigentliche Währung im globalen Handel (S. 25). Im Einführungskapitel von Un/Fair Trade finden Autoren wie Adam Smith, Daniel Cohen, Jeffrey D. Sachs, Jean Ziegler u.v.a. mit ihren grundlegenden Gedanken und Werken Erwähnung -- und Platz in der zum Weiterlesen animierenden Bibliographie am Ende des Kapitels.

Weitere Kapitel beschreiben, wie seither die "Quelle der Ungleichheit" (S. 36) auf der Welt nicht mehr versiegt ist, auch wenn einzelnen Entwicklungsländern in den vergangenen 20 Jahren eine Art Aufholprozeß gelungen ist (z.B. in Asien): "Viele Entwicklungsländer sind Rohstofflieferanten geblieben, die sich nicht diversifizieren können und dementsprechend keine komplexen Wirtschaftssysteme hervorbringen" (S. 36). Der Süden produziert, der Norden veredelt -- das deutlich bessere Geschäft, und ökologischer obendrein.

Und so scheint es nicht verwunderlich, daß das Thema Gerechtigkeit in der ökonomischen Theorie wieder zu einer der Grundfragen geworden ist.

Für Amartya Sen, Nobelpreisträger 1999 für Ökonomie, ist Gesellschaft dann gerecht, wenn für alle ihre Mitglieder die Freiheit besteht, zu "wachsen", das heißt, ihre menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln und an gesellschaftlichen Fortschritten teilzuhaben. Je größer also die Verwirklichungschancen für jedes Mitglied einer Gesellschaft sind, desto gerechter ist diese. Dies meint aber nicht nur eine solide Wirtschaft mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen, sondern umfaßt auch soziale Sicherheit, etwa ein funktionierendes Gesundheitssystem. Damit wird die Frage nach Gerechtigkeit zu einem politischen Thema. "Denn die Verwirklichungschancen werden nur dort zunehmen, wo es ein komplexes institutionelles Setting gibt, für das aber nur die Politik sorgen kann" (S. 36).

 

Gerechtigkeit, was ist das?

Die Frage nach Gerechtigkeit wandelt also die Ökonomie zur Sozialwissenschaft (S. 45) und fordert die Politik, sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu besinnen (S. 36). Und die Frage wird drängender, denn wir leben in einer globalisierten Weltgesellschaft, in der die einzelnen Gesellschaften zunehmend voneinander wissen -- es gibt heute kaum mehr einen noch so armen Winkel, in den nicht Fernsehgeräte Bilder von allen anderen Gesellschaften und Lebensformen tragen -- und damit die weltweite Ungerechtigkeit vor Augen führen.

Da sich "die Weltwirtschaft ist ungerecht" leichter sagt als beschreiben läßt, was Gerechtigkeit eigentlich ist, widmen sich die folgenden Kapitel des Buches dieser Frage und Definition. Und thematisieren, daß Gerechtigkeit nach Ausgleich verlangt. Was nur möglich wird, wenn derjenige, der Gerechtigkeit erfahren soll, von demjenigen, der ihn ungerecht behandelt hat, eine Art Schuldgeständnis zu hören bekommt -- oder sieht, daß dieser für sein Verhalten bestraft wird (S. 64). Ausgleich mag dabei noch so symbolisch oder auch asymmetrisch in Relation zu dem stehen, was "verbrochen" wurde.

Der Doppeltitel Un/Fair Trade steht sowohl für positive neue Entwicklungen sowie für die herrschende Realität. Grundsätzlich wollen die Autoren jedoch nicht klagen und kritisieren, "sondern neue Wege zu einer gerechten Weltwirtschaft aufzeigen -- die allerdings nicht utopisch, sondern praktisch orientiert und bereits erprobt sind" (S. 64).

 

Die Kunst der Gerechtigkeit II

Den Kapiteln zur Bestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs -- etwa Julian Nida-Rümelins Aufsatz "Politik ohne Gerechtigkeit?" --, stellen die Herausgeber voran, daß Gerechtigkeit alles andere als ein einfaches Konzept sei. "Vielfältige Bestimmungen sind möglich, wobei keine dieser Bestimmungen für sich in Anspruch nehmen kann, die absolut richtige zu sein" (S. 72). So findet die Definition des amerikanischen Philosophen John Rawls in der Einleitung Erwähnung, dessen "Theorie der Gerechtigkeit" den Begriff der Freiheit in den Mittelpunkt stellt. Ansätze der experimentellen Ökonomie werden vorgestellt -- einer ihrer wichtigsten Vertreter ist Ernst Fehr -- und zeigen, daß Gerechtigkeit in Verteilungsprozessen eine bedeutende Rolle spielt: In spieltheoretischen Experimenten geben Spieler, die 100 Euro zwischen sich und einem anderen Spieler aufteilen sollen und wissen, daß sie das Geld nur behalten dürfen, wenn der Mitspieler das Angebot annimmt, nicht etwa im Verhältnis 1:99. Zwei Drittel aller Verteiler bieten 40-50 Prozent der Summe an. Diese finden meist auch Akzeptanz, während Summen im 20-Prozent-Bereich zurückgewiesen werden. Was zählt, ist offensichtlich Fairness, nicht die Überlegung "20 Euro sind besser als gar nichts" (S. 73). Die Systemische Forschung kommt zu ähnlichen Ergebnissen: "Systeme scheinen ohne Gerechtigkeit, ohne Ausgleich nicht auszukommen" (S. 74).

Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer präsentieren (im Interview mit Michaela Ritter) im darauffolgenden Kapitel ihre Grundlagen für eine faire Weltwirtschaft. Die beiden sind 'Gerechtigkeitsschaffende' für Systeme und im Beratungskontext tätig. Ihre Kunden sind Systeme -- Organisationen oder sonstige Gefüge, die durch langjährige Unfairness aus der Bahn geworfen wurden und nicht mehr handlungsfähig sind. "Schuld und deren Schwere an den richtigen Systemplatz zu bringen: Das ist dabei das Prinzip, das Entlastung für die Betroffenen bringt" (S. 85). Für Varga und Sparrer steht dabei -- im Gegensatz zu den meisten anderen Ansätzen -- die subjektive Empfindung im Mittelpunkt. Für Gerechtigkeit als einen Verhandlungsprozeß ist es bedingend, daß alle Beteiligten die vereinbarten Prozesse als gerecht empfinden. Varga und Sparrer stellen ihre systemische Dreiheit Allparteilichkeit, Anerkennung und Ausgleich im Gespräch vor.

 

Von Adams Rippe zur Moralisierung der Märkte

Die einzelnen Aufsätze des Buches bauen nicht logisch aufeinander auf und präsentieren komplexe Ideen, so daß es schwer möglich ist, im Rahmen einer Rezension auf alle einzugehen -- daher sind hier nur einige Gedanken wiedergegeben. Die weiteren Kapitel führen zunächst von den Wurzeln aller Tauschbeziehungen über Rahmenbedingungen für eine faire Weltwirtschaft und Grundlegendes zum Fairtrade-System.

So beschreibt etwa der Psychoanalytiker und Organisationsberater Ross A. Lazar in seiner "biologisch/theologisch/entwicklungspsychologischen Darstellung" (S. 128-139), wie Mensch-Sein von Beginn an in ein komplexes Gefüge von Austauschbeziehungen eingebunden ist. Und er beschreibt anhand eines psychoanalytischen Ansatzes, wie sich aus der ersten und wichtigsten Austauschbeziehung eines jeden Menschen, der zwischen Säugling und Mutter, schon entscheiden kann, "ob aus dem kleinen Menschen eines Tages ein 'Fairtrader' wird, oder ob doch das 'Unfair' sein Leben bestimmt".

Wolfgang Sachs erklärt im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter, warum der Organisation Fairtrade, die längst über das Stadium einer Protestbewegung hinausgewachsen ist, heute eine fundamentale Bedeutung zukommt.

Margit Franz analysiert, wie der Kommodifizierungsprozeß -- die Umwandlung von Gütern in Waren -- beispielsweise dazu führte, daß die Regierung Indiens gegen die Patentierung von Yoga protestiert und bei Nicht-Erfolg einen internationalen Rechtsstreit gegen alle Yoga-bezogenen Patentierungen initiieren will.

Schließlich stellt das Buch Ideen einer Neo-Politik vor, einer Politik, die mit "experimentellem Mut und ohne Angst vor wohl unvermeidbaren Rückschlägen" (S. 386) Strukturen und Mechanismen etabliert, mit denen sich Gerechtigkeit durchsetzen läßt. Daß solche Strukturen bereits existieren, zeigt Un/Fair Trade.

 

Gedankengut -- gute Gedanken

Un/Fair Trade richtet sich an alle, die Lust haben, eine Alternative zur derzeit angestrebten wirtschaftlichen Zukunft anzudenken und zu entwickeln.

Die Aufsätze von und Interviews mit verschiedenen Denkern geben ein umfassendes Bild des derzeitigen Welthandels, seiner Vorläufer und Folgen sowie aktueller Ideen für ein alternatives Wirtschaften. Der Fokus liegt dabei vor allem auf Ausgleich und gerechtem Tausch -- fernab von gängiger Globalisierungskritik.

Daneben findet sich in Un/Fair Trade -- zwischen den einzelnen Kapiteln -- eine Globalisierungsgeschichte in Stichpunkten vom 9. Jahrhundert bis heute. Und in zahlreichen Info-Kästen zu den Artikeln sind wichtige Begriffe ("Nord-Süd-Gefälle", "Ökologischer Fußabdruck", "Gini-Koeffizient" u.v.a.), Zahlen und Fakten (Liste der "Neuen Verbraucherländer", "Zusammensetzung der Weltbevölkerung nach Einkommen" u.v.a) übersichtlich zusammengefaßt.

Das Buch versteht sich als "Kunst-, Theorie- und Inspirationsband, der zeigt, was fairer Handel alles sein kann."

Das nötige Gedankengut findet sich zwischen seinen Buchdeckeln.

(Nina Rehbach -- greentext)

 

Heike Schmoll: Lob der Elite. Warum wir sie brauchen.

München: C. H. Beck 2008, 173 Seiten.

Daß es sich beim Elitebegriff um einem "nuancenreichen Begriff von schillernder Unbestimmtheit" handelt, wie Hans P. Dreitzel schon 1962 in Elitebegriff und Sozialstruktur feststellte, bestätigt Heike Schmolls Buch. Es belegt zudem, wie mannigfaltig auch die Debatte rund um den Elitebegriff beschaffen ist. Ziel des Buches ist es zu zeigen, daß wir -- in einer demokratischen Gesellschaft lebend -- nicht auf Eliten verzichten können.

Schmolls Buch ist in Teilen historisch aufgebaut und behandelt kenntnisreich das Thema Elite von der Antike über die bürgerliche Gesellschaft bis in die Gegenwart der von Exzellenzinitiativen gebeutelten Hochschulwelt. Gerahmt wird dieser geschichtliche Abriß von einem zusammenfassenden wie moralisierenden Blick auf die Rede über Elite.

Im ersten Kapitel stellt Schmoll fest:

"Nüchtern geht es bei Elitedebatten selten zu. Am Elitebegriff scheiden sich die Geister wie kaum an einem anderen soziologischen Begriff. Häufig bleibt er so parolenhaft wie ideologisch." (S. 10)

Diese Aussage ist quasi programmatisch für die Perspektive, aus der Schmoll Elite betrachtet, und für die Art, in der sie über Elite spricht. Denn nüchtern geht es auch in ihrem Buch selten zu. Vielmehr präsentiert sich Schmoll als kritische und engagierte Verfechterin ihrer Sicht auf eine gute und richtige Elitebildung. Mit anderen Worten: ihr Buch befaßt sich nicht nur mit der Frage, was Elite für verschiedene Beobachter ist, sondern sein sollte. Wie sollte Elite sein? Wie sollte sich Elite zu den anderen in der Gesellschaft stellen? Was sollte Elite tun? Ist es normativ richtig, daß es eine Elite gibt? Ist Elite mit der Staatsform der Demokratie vereinbar? Wie kann eine gute Elite gebildet werden? Das sind in der Tat die neuralgischen Punkte der Elite-Debatte!

An der gegenwärtigen Debatte über Elite bemängelt die Autorin deren Vielstimmigkeit und Zersplittertheit, ja sie konstatiert gar eine "Verramschung" (S. 11, S. 35) des Begriffs. Äußerst zweifelhaft sei es, daß "das Gütesiegel 'Elite' unbedacht ganzen gesellschaftlichen Gruppen" verliehen werden kann (S. 10). Die Tatsache, daß der soziologischen Forschung verschiedene Eliten in den Blick geraten, wird als unzumutbar empfunden.

Schmoll wünscht, man wüßte, wovon man redet, wenn man das Wort Elite verwendet -- was nachzuvollziehen ist. Die zwangsläufig aufkommende Frage nach ihrer eigenen Definition von Elite beantwortet das Buch allerdings nur mit einem Wunschkatalog, wie Elite zu sein habe. Zusammengenommen bilden die Erwartungen der Autorin das fulminante Bild einer idealen Elite. Das titelgebende Lob ist somit wohl das Lob einer Elite, die Schmolls Idealbild entspricht -- die es, von soziologischer Warte aus gesprochen, aber nicht gibt!

Wirft man einen genaueren Blick auf die Beschaffenheit dieses Idealbilds von Elite, so zeigt es sich als Mischung idealisierender Elitebeschreibungen von der Antike bis heute: Elite soll sich, knapp formuliert, auszeichnen durch Leistung, Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein, Weitsicht und Urteilsvermögen. Betont wird der Konnex zwischen Elite und Demokratie: Aus der Möglichkeit des Zugangs zur Elite für alle und einer transparenten Auswahlmethode soll eine sozial heterogen zusammengesetzte Elite entstehen. Diese soll sich nicht vom Rest der Gesellschaft abschotten und ihre Vorrechte haltlos oder selbstherrlich genießen, sondern sich bewußt sein, daß weder Herkunft noch Bildung oder Leistung allein Elitestatus garantieren. Elite soll Macht zum Guten für die ganze Gesellschaft gebrauchen und Einfluß nehmen -- aber immer nur für begrenzte Zeit -- und keine dauerhaften Herrschaftsansprüche stellen. Eigene Interessen soll die Elite zum Wohle aller hinten anstellen. Zudem streicht Schmoll die Bedeutung der Vermittlungs- und Kommunikationsfähigkeit von Elite heraus:

"Wichtiger als Funktionen und Positionen sind Überzeugungsfähigkeit, Argumentationskunst, sprachliches Differenzierungsvermögen, die Fähigkeit genau hinzuhören, persönliche Integrität, die Bereitschaft, für eine Überzeugung öffentlich einzutreten und sie auch denen plausibel zu machen, die möglicherweise intellektuell unterlegen sind." (S. 159)

Ein Abgleich des Idealbilds von Elite mit der Realität führt freilich zu einer negativen Bilanz. Er mündet in Forderungen an die gesellschaftlichen Akteure, die Elite sind oder Elite hervorbringen wollen -- in erster Linie das Bildungssystem mit Schulen und Hochschulen und zweitens solche Institutionen, die Weltsichten, Deutungsangebote und Einstellungsmuster vermitteln wie Familien, Kirchen, Medien. Auch wenn kein Akteur allein entscheidend sein kann: Alle sind aufgefordert, das ihnen mögliche zu einer guten Elite beizutragen. Auf welche Weise das konkret geschehen soll, bleibt ob der Vielzahl von Schmolls Forderungen und Seitenhieben allerdings diffus.

Liest man das Buch von Heike Schmoll mit dem Bewußtsein, daß es sich um einen normativen Beitrag zur Elite-Debatte handelt, so ist es -- nicht zuletzt dank der ausführlichen Darstellung der Geschichte der Elite(-Debatte) -- ein interessanter Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit dem Thema, der fundierte Informationen und Reibungsfläche bietet. Der thematisch bereits gebildete Leser findet in dem Text einen Diskussionsbeitrag unter anderen, der bildungsbürgerliche Aufgeregtheit um und Idealvorstellungen von Elite facetten- und exkursreich darstellt -- wodurch es dem Text zuweilen leider auch an Stringenz und Logik mangelt.

(Christine Kestel)

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