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no. 26: visuelle kultur -> simon levy
 

Jüdischer Patriot im islamischen Königreich

von Mohammed Khallouk

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Vor allem in muslimischen Kreisen wird Juden häufig ein elitäres Bewußtsein nachgesagt. Sie setzten sich nur für andere Juden ein und hätten außerhalb Israels ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Der 1939 in Essaouira geborene marokkanisch-jüdische Intellektuelle und Historiker Simon Levy beweist mit Blick auf die Geschichte Marokkos ebenso wie durch sein eigenes Leben das Gegenteil. Als Unternehmer, als Politiker, als Wissenschaftler ebenso wie als Leiter des einzigen Museums für jüdische Kulturgeschichte in der arabischen Welt gilt sein beständiger Einsatz dem respektvollen Miteinander von Juden und Muslimen in Marokko.

 

Es findet sich neben Marokko kaum ein Land, in dem über praktisch alle historischen Epochen hinweg eine bedeutende jüdische Gemeinde sich nachweisen läßt, die immer wieder ihren Beitrag zur majoritär nichtjüdischen Kulturentwicklung eingebracht hat. Bereits in den römischen Küstenstädten im westlichen Nordafrika sind jüdische Artefakte belegt, und auch für die kulturelle Blütezeit im maghrebinisch-arabischen Hochmittelalter kommt den Juden ein nicht zu vernachlässigender Anteil zu. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts hatte quasi jede marokkanische Stadt ihre eigene Mellah, ihr Judenviertel, das sich in der Bauweise erkennbar von der muslimische dominierten Umgebung abhob, mit dieser jedoch permanent in einem kulturellen wie ökonomischen Austausch stand. Es stellt sich die Frage, woraus gerade Marokko diese Attraktivität für die Existenz und Praktizierung des Judentums immer wieder bezog. Sind die marokkanischen Juden von der in anderen Regionen reichhaltigen Erfahrung der Diskriminierung ihrer Glaubensgenossen durch die nichtjüdische Bevölkerungsmajorität ebenso wie von der Repression seitens einer der islamischen Tradition sich verpflichtenden Obrigkeit verschont geblieben?

Um einen tieferen Einblick in das historische Verhältnis zwischen jüdischer Minorität und muslimischer Mehrheitsbevölkerung in Marokko zu bekommen, erscheinen die gesellschaftspolitischen Ansichten und wissenschaftlichen Erkenntnisse des bekanntesten gegenwärtigen jüdischen Intellektuellen und Historikers des Landes, Simon Levy, von besonderem Interesse. Levy, geboren 1939 in Essaouira, war nicht nur einziger jüdischer Parlamentsabgeordneter eines arabischen Landes. Er ist auch einer der angesehensten Unternehmer des gegenwärtigen Marokko und hat sich mit jeglichen Epochen der marokkanischen Geschichte und dem jeweiligen Stellenwert der Juden in den damaligen Gesellschaften wissenschaftlich auseinandergesetzt.

Levy kennt durchaus Phasen in der Geschichte Marokkos, in denen es gefährlich war, ein jüdisches Leben in der religiös vorgeschriebenen Weise durchzuführen. Repression und Einschränkung der individuellen Freiheit als Phänomene haben weder Marokko noch seine jüdische Bevölkerungsminorität ausgenommen. Levy zufolge gilt besonders die Almohadendynastie (1147-1269) als Periode, in der gegen das jüdische Bekenntnis gerichtete Aktionen ein bedeutendes Ausmaß annahmen. Politisch motivierte Repression hat Levy sogar am eigenen Leibe erfahren. Schließlich war er als aktives Mitglied der kommunistischen Partei des Landes (P.P.S.) während der Ära Hassans II. mehrmals inhaftiert. Eine gegen das Judentum gerichtete Grundeinstellung in der marokkanischen Gesellschaft und ihrer muslimischen Herrschaftseliten schließt Levy daraus jedoch ebensowenig wie er das patriotische Engagement der marokkanischen Juden im Sinne der seit dem 7. Jahrhundert majoritär muslimischen Nation in Abrede stellen würde. Das Beispiel Marokkos ist für ihn vielmehr ein Beleg dafür, daß ein aufrechtes Judentum die Identifikation mit dem eigenen Lebensumfeld als 'Heimstätte' und einem Gemeinsinn einschließt, der über die spezifisch 'jüdische Gemeinde' hinausgeht.

 

Marokkanischer Patriotismus und jüdisches Bewußtsein gehen Hand in Hand

Levys soziokulturelle und politische Aktivität basiert auf zwei Säulen, die er beide als untrennbar miteinander verbunden begreift. Zum einen fühlt er sich als Geisteswissenschaftler und mittlerweile emeritierter Dozent an der Mohammed V.-Universität Rabat ebenso wie als Beauftragter für kulturelle Angelegenheiten beim Rat der jüdischen Gemeinden Marokkos der jüdischen Kultur und ihrer Geschichte in besonderer Weise verpflichtet. Sein wissenschaftliches Interesse gilt dem jüdischen Leben in der marokkanischen Gesellschaft in den verschiedensten Epochen sowie der Vermittlung von Wissen über die jüdische Stellung im historischen Marokko und über den Einfluß der Juden auf die politische, wirtschaftliche wie kulturelle Entwicklung des Landes. Er bedauert sehr, daß an den allgemeinbildenden Schulen Marokkos über das Judentum generell und speziell über die Juden des Landes so gut wie überhaupt nichts gelehrt wird.

Damit trotz dieses Mankos des staatlichen Bildungswesens und des dramatischen Rückgangs des jüdischen Bevölkerungsanteils in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Wissen der Marokkaner über die seit Jahrhunderten hier beheimatete jüdische Kultur und ihre Gepflogenheiten nicht verloren gehe, hat Levy sich Anfang der 1990er Jahre für die Einrichtung einer Stiftung zur Bewahrung des marokkanisch-jüdischen Erbes, der Fondation du Patrimoine Culturel Judeo-Marocain, eingesetzt, der er mittlerweile als Generalsekretär vorsitzt. Mit den Mitteln dieser Stiftung werden vom Verfall bedrohte Synagogen restauriert, jüdische Friedhöfe erneuert, aber auch alte jüdische Erzeugnisse und Dokumente aufbewahrt, um sie für die Allgemeinheit als Anschauungsobjekte zu präsentieren. In diesem Zusammenhang gründete die Stiftung 1998 das Museum für jüdische Kulturgeschichte in Casablanca, das einzige auf die jüdische Kultur spezialisierte Museum in der gesamten arabischen Welt, dessen Leiter Levy ist. In dem Museum sieht er vor allem für die aus Marokko nach Israel, Frankreich, Kanada oder in die Vereinigten Staaten emigrierten Juden eine Möglichkeit, ihren Nachkommen über einen Besuch ihre marokkanischen Wurzeln lebendig im Bewußtsein zu halten.

Die Aufgabe im Museum und seine universitäre Lehrtätigkeit stehen im Zusammenhang mit der anderen Säule von Levys Engagement, die sich auf die majoritär nichtjüdische marokkanische Gesellschaft bezieht. Sein Judentum faßte Levy schon frühzeitig als Verpflichtung gegenüber dem soziopolitischen Gemeinwesen auf. Mit der vom Zionismus propagierten Idee eines exklusiv 'jüdischen' Nationalbewußtseins konnte sich Levy zu keiner Zeit identifizieren. Eher schon fühlte er sich vom Solidaritätsgedanken des Kommunismus angezogen, woraus sich seine zeitweilige Mitgliedschaft in der P.P.S. erklärt, die ihn in Opposition zur elitären Autokratie Hassans II. brachte. Zu seinem Festhalten an der jüdischen Religion vermochte er hier offenbar ebensowenig einen Widerspruch herzustellen wie zu seinem Werben um jüdisches Privatkapital, sofern es im Sinne der Menschen wie der gesamten Volkswirtschaft eingesetzt werde. Vielmehr ging sein gesellschaftspolitisches Engagement so weit, daß er sich bereit zeigte, als einziger jüdischer Parlamentsabgeordneter eines arabischen Landes überhaupt einen ausschließlich von Muslimen bewohnten Wahlkreis zeitweise in der Chambre des Conseillers, der zweiten Kammer des marokkanischen Parlaments, zu vertreten und seinen gesamten politischen Einsatz der Zukunftsperspektive der Jugend in diesem Wahlkreis widmete. Die hohe Zustimmungsrate, die er bei den Wahlen vom 5. Dezember 1997 erfuhr, kann als Beleg dafür gewertet werden, daß er bei den muslimischen Marokkanern sehr großes Vertrauen genießt und als 'einer der ihren' akzeptiert ist.

Levys Auffassung nach ist die Definition der jüdischen Gemeinde als 'Nation' ein Konstrukt, das dem wahrhaftigen Charakter des Judentums entgegenstehe. Dieser könne nur in der Diaspora erfahren werden. Vielmehr werde durch die Fixierung des gegenwärtigen Judentums auf den Staat Israel die Erinnerung an die historischen Gemeinden an den verschiedensten Orten der Welt wie unter anderem auch Marokko zunehmend aus dem Bewußtsein verdrängt. Dieser Tendenz gelte es entgegenzuwirken.

 

Marokko als Symbol friedlicher jüdisch-muslimischer Koexistenz

Die Attraktivität seines Museums und der von Levys Stiftung organisierten Ausstellungen zum jüdischen Leben Marokkos sowohl bei marokkanischstämmigen Juden als auch bei muslimischen Marokkanern zeige, so Levy, daß Marokko in der Gegenwart noch immer als Vorbild für ein von gegenseitigem Respekt getragenes Miteinander von Juden und Muslimen in einem Gemeinwesen herhalten könne. Natürlich sind manche antijüdischen Tendenzen in Teilen der Gesellschaft auch ihm nicht entgangen. Die hohe Anzahl jüdischer Einrichtungen, die bei den Selbstmordanschlägen von Casablanca am 16. Mai 2003 in Mitleidenschaft gezogen wurde, läßt ihn darauf schließen, daß die Attentäter hier in der Tat auf ein Feindbild 'Judaismus' fixiert waren. Die überwältigenden Solidaritätsbekundungen, welche die jüdischen Gemeinden der Stadt im Anschluß daran aus der muslimischen Mehrheitsbevölkerung erfahren hätten, wertet Levy jedoch als Bestätigung dafür, daß antijüdische Verschwörungstheorien ebenso wie islamischer Extremismus in Marokko keine breite Basis gefunden hätten und zumeist von außen, insbesondere aus den Golfstaaten in die marokkanische civil society hineinzutragen versucht würden.

Indem die spezifischen Eigenheiten des Judentums der Allgemeinheit vermittelt werden und die Divergenz an Lebensmodellen als Wert betont werde, unterstützt man die muslimischen Marokkaner weiterhin, sich für ihre jüdischen Mitbürger einzusetzen und diesen den erwarteten Respekt entgegenzubringen. Spätestens, so Levy, mit Beginn der Alaouitenherrschaft -- der seit Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart Marokko bestimmenden und sich unmittelbar auf die Abstammung vom Propheten zurückführenden Dynastie -- hätten die Juden als religiöse Minorität in besonderer Weise die Achtung seitens der islamischen Obrigkeit erfahren. So zeigt sich Marokko als das einzige majoritär nichtjüdische Land, in dem den Juden zugestanden wird, ihre internen rechtlichen Angelegenheiten nach ihren religiösen Vorschriften zu regeln, die in wesentlichen Bereichen elementar vom sonst gültigen Schariarecht abweichen. Auf diese Weise sei Levy zufolge bei den marokkanischen Juden ein marokkanischer Patriotismus erwachsen bzw. gestärkt worden, der sich in unentwegtem Engagement für die gesamte Gesellschaft und sogar in der freiwilligen Unterstützung des Unabhängigkeitskampfes gegen französische Proktektoratsherrschaft sowie später im postkolonialen Marokko gegen die Sezessionisten der Polisario ausgedrückt habe.

Zwar blieben Juden auch im neuzeitlichen Marokko von staatlicher Repression gegen politische Oppositionelle nicht verschont; doch obwohl Levy sie selbst hat erfahren müssen, liege ihm dennoch fern, ein antisemitisches Motiv hierbei zu unterstellen. Vielmehr weist er darauf hin, daß während der jüngeren Geschichte Juden aus verschiedenen europäischen Staaten vor einer dortigen, durch die christlichen Herrscherhäuser gesteuerten Verfolgung nach Marokko geflohen seien und hier die Aufgeschlossenheit und Toleranz ihnen gegenüber erfuhren, die sie in der 'alten Heimat' vermißt hätten. Antisemitismus könne es -- von der ursprünglichen lexikalischen Bedeutung her -- in einer arabischen Gesellschaft ohnehin nicht geben, da die muslimischen Araber ebenfalls Semiten seien.

Vor dem Hintergrund dieser über Jahrhunderte erfahrenen friedlichen Koexistenz mit der muslimischen Bevölkerungsmajorität sei die zionistische Idee und der damit einhergehende Auswanderungswunsch unter den marokkanischen Juden über lange Zeit weit geringer verbreitet gewesen als in anderen Diasporagemeinden. Erst ein unter mysteriösen Umständen zustandegekommener Deal zwischen Israel und dem marokkanischen König Hassan II. habe diese Tendenzen gefördert, woraufhin seit den 1960er Jahren über 100 000 Juden aus Marokko nach Israel emigriert seien. Die jüngsten Auswanderungswellen aus dem nordwestafrikanischen Königreich hätten jedoch in der überwiegenden Mehrheit Frankreich und Nordamerika als Ziel vor Augen gehabt und damit angedeutet, daß bei den jüdischen Emigranten des Landes wie bei anderen Marokkanern, die ihrem Heimatland in den letzten Jahrzehnten den Rücken kehrten, die ökonomischen Motive im Vordergrund gestanden hätten.

 

Einsatz für ein Fortbestehen des Judentums als elementarer Bestandteil des Landes

Levy bedauert den dramatischen Rückgang der jüdischen Bevölkerung in Marokko in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von über 220 000 auf nunmehr ca. 5000 jüdische Einwohner sehr, und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ist er darum bemüht, die Attraktivität für zukünftiges jüdisches Leben in seinem Land wieder zu erhöhen sowie die Emigranten zur Rückkehr zu motivieren. Sein politischer Einsatz gilt Investitionen jüdischer wie nichtjüdischer Unternehmer, für die er Marokko als geeigneten Standort anpreist. Das Engagement in der Fondation zur Restaurierung und Erneuerung von Synagogen und jüdischen Friedhöfen ist ebenso vor diesem Hintergrund zu verstehen. Das Judentum begreift Levy als nicht aus dem Land wegzudenkendes kulturelles Element, das über die gesamte Historie hinweg Marokko geprägt habe und auch in der Zukunft prägen sollte. Die marokkanischen Juden mögen sich weiterhin mit ihren spezifischen jüdischen Charakteristika von ihren muslimischen Mitbürgern unterscheiden lassen, zugleich aber sollten sie sich diesen als Mitglieder der marokkanischen Volksgemeinschaft patriotisch verbunden fühlen. Wie in der Vergangenheit gelte es in der Zukunft, marokkanische Vaterlandstreue und Identifikation mit dem jüdischen Glauben wie der jüdischen Kultur als untrennbar zusammengehörig zu begreifen.

Wenn das Judentum weiterhin als Verpflichtung gegenüber dem multikonfessionellen Gemeinwesen verstanden wird, besteht die Basis für den Respekt seitens der nichtjüdischen Umgebung und es fehlen die Motive für antijüdische Einstellungen. Die Juden finden dann ihrerseits gesellschaftliche Bedingungen vor, die zur Niederlassung und zur Praktizierung ihrer Rituale in Marokko einladen. Marokko könnte, so hofft Levy, den Ausgangspunkt für eine erneute jüdisch-muslimische Symbiose wie im mittelalterlichen Maghreb darstellen, die sich nachfolgend auf die gesamte orientalische Welt ausdehnt und letztlich ein friedliches Miteinander zwischen Israelis und Palästinensern einschließt. Für eine Emigration marokkanischer Juden besteht in diesem Fall allerdings kein Anreiz mehr, da sie sich bereits in ihrem Heimatland integriert haben und dort sowohl als Juden als auch als Mitbürger geachtet leben. Aus der Tatsache, daß trotz nicht zu leugnender, für die Juden schwierig zu bewältigender historischer Epochen, jüdisches Leben in Marokko immer weiter fortbestehen konnte, schöpft Levy die Zuversicht, auch die zweifelsohne wenig ermutigende gegenwärtige Abwanderungstendenz könne umgekehrt werden, so daß das marokkanische Judentum, getragen von Gottvertrauen und persönlichem Einsatz wieder zu voller Blüte gelange.

 

autoreninfo 
Dr. Mohammed Khallouk ist Politologe, Arabist und Islamwissenschaftler. Von 1993 bis 1997 studierte er Arabistik an der Mohammed V. Universität Rabat. 1999 nahm er an der Philipps-Universität Marburg das Studium der Politikwissenschaft auf, wobei er sich in besonderem Maße Konflikten im Arabo-Islamischen Raum und dem Kulturaustausch zwischen Europa und der Islamischen Welt zuwandte. Für seine 2003 erschienene, über den Nahostkonflikt handelnde Magisterarbeit ist er mit dem DAAD-Preis für hervorragende Leistungen ausländischer Studierender ausgezeichnet worden. Von 2004 bis 2007 promovierte sich Khallouk über islamischen Fundamentalismus in seinem Herkunftsland Marokko. Er verfaßt Artikel und Essays zu politischen und zeitgeschichtlichen Themen, die bei den verschiedensten Zeitschriften und Internetportalen veröffentlicht wurden. Zugleich rezensiert Khallouk deutschsprachige Gegenwartsliteratur und übersetzt sie ins Arabische. Zur Zeit habilitiert er sich an der Universität der Bundeswehr München über Juden in Marokko und lehrt Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg.

 

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