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no. 19: worte, worte, worte -> Überredungsbegriffe
 

Aktiv, offen und ganzheitlich

Überredungsbegriffe -- treue Partner des pädagogischen Besserwissens

von Roland Reichenbach

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Pädagogische Sprachen sind voller Überredungsbegriffe, unreflektierten Konsens erheischenden 'guten' Wörtern und ebenso unreflektierten Abscheu bewirkenden 'bösen' Wörtern. Mit ihrer Hilfe transformieren sich die Vokabularien, die Deutungsmuster und damit die pädagogische Praxis selbst. Unabhängig von der Bewertung solcher Transformationen kann postuliert werden, daß zur pädagogischen Bildung die Entwicklung eines Repertoires an pädagogischen Vokabularien gehört und die Sensibilität für die Moralvorstellungen, die damit jeweils transportiert werden, ein Blick auf ihre 'blinden Flecken' und Fokussierungen, ein Interesse an den strategisch bedeutsamen Figur-Hintergrunds-Manövern im politisch korrekten und politisch inkorrekten Diskursraum der Pädagogik.

 

Einleitend: Pädagogische Aktivitis

Das Pädagogenherz weiß meist alles besser, es weiß zum Beispiel auch alles über das Verbessern selbst und es weiß, daß wir -- wir alle -- aufgerufen sind, die Welt zu verbessern. Mit dem jüdisch-christlichen Erbe beladen, weiß das pädagogische Aktivherz, daß verbessern heißt: sich interessieren, sich engagieren, involviert sein, intervenieren, transformieren. Ein pädagogisch-sinnvolles Leben bemüht sich so stets aktiv um die Verringerung des Bösen, des Unrechts und des Elends. Nur auf dieser religiösen Grundlage, ohne welche moderne Moral kaum denkbar ist -- ob sich die Stimme Gottes nun im kategorischen Imperativ säkularisiert oder in einem anderen obersten Moralprinzip --, kann es zu der von konkreten Inhalten, Zwecken oder Zielen völlig unabhängigen Bewertung kommen, wonach 'aktiv sein' prinzipiell gut sein soll, 'passiv sein' aber fast immer schlecht, 'engagiert sein' und 'involviert sein' prinzipiell gut, 'desengagiert sein' aber schlecht, 'offen-transformativ sein' immer gut, 'bewahrend-konservierend' eher schlecht, 'Veränderung' gut, 'Stagnation' schlecht.

So finden wir denn manch zeitgenössischen pädagogischen Diskurs -- aber natürlich längst nicht nur ihn -- voller Aktivismus-Rhetorik: aktives Lernen (und Leben) ist gut. Aber auch offenes Lernen ist gut, gemeinschaftliches und ganzheitliches sowieso, und die Kombination, nämlich "aktives, offenes, ganzheitliches und gemeinschaftliches Lernen" ist das Nonplusultra. Doch bleiben wir zunächst beim aktiven Lernen. Pädagogen, aber auch Erziehungswissenschaftler klären darüber auf, daß wir am eigenen Lernen aktiv beteiligt sein sollen (wenn möglich freiwillig, und /oder aus eigenen Betroffenheit heraus, und / oder aus Einsicht und Verantwortung). Heid (2002, S.103) mokierte sich mit einigem Recht über solche Rede und zitiert einschlägige Autoren (deren Namen hier nicht interessieren sollen), nach welchen

  • "Kinder (...) dann mit der größten Wahrscheinlichkeit produktiv sind, wenn sie aktiv an ihrem eigenen Lernprozeß beteiligt sind",
  • oder die wissen, daß "der Lernende im Mittelpunkt des Lernprozesses" stehe,
  • oder nach welchen Lernen "ohne Beteiligung des Selbst nicht vorstellbar" ist,
  • oder die auch wissen, daß "gelungenes Lernen die aktive Beteiligung des Lernenden voraussetzt".

Solche Aussagen vergleicht Heid mit der folgenden: "Gelungenes Trinken setzt voraus, daß der Trinkende sich an seinem Trinken beteiligt" (ebd.).

Was wissen wir also, wenn wir wissen, daß wir 'verschlossene' (?), 'einsame' (?), 'unfreiwillige' (?), 'unbeteiligte' (?) und 'sinnlose' (?) Lernprozesse ablehnen? Die Vermutung liegt nahe, daß es nicht gerade viel ist. Vielleicht hat eine politisch korrekte Pädagogik ohne Überredungsadjektive wie 'aktiv', 'offen', 'gemeinsam', 'ganzheitlich', 'innovativ', 'konstruktiv', 'konstruktivistisch' etc. kaum noch etwas zu sagen. Ihre Suggestionskraft bezieht sie denn auch bloß aus der durchgängigen, begriffsanalytischen Vernachlässigung des jeweiligen Konterparts der kontrastiven Begrifflichkeit (aktiv-passiv, offen-geschlossen, gemeinsam-allein, ganzheitlich-fragmentiert). Die bloß suggerierten und dadurch diffamierten, aber nicht untersuchten Kontraste würden ja auch nur allzu schnell offenlegen, wie empirisch gehaltlos diese scheinbar pädagogische Rede ist. Nichtsdestotrotz ist sie rhetorisch-politisch wirksam, und das ist nicht wenig.

Aktiv sein ist gut, engagiert sein, beteiligt sein auch -- im moralischen und pädagogischen Bereich jedenfalls immer. Die Frage aber, wohin denn der moralisch geforderte Aktivismus, Interventionismus und Transformatismus führe oder führen soll, welche Ziele er eigentlich verfolge, welches Nebenwirkungen sein könnten, interessiert erstaunlich wenig und ist offensichtlich auch zweitrangig. Ist dies ein Ausdruck einer fundamentalistischen Weise, das Wissen (um Aktivität, zum Beispiel) zu besitzen, Ausdruck einer pädagogischen Orthodoxie der Gegenwart bzw. einer gegenwartszentristischen Pädagogik? Doch wenn dem so ist: Warum eigentlich den Glauben an das Gute aufgeben, wenn man es doch so gut kennt? Warum der Schönheit des edlen Kampfes entsagen, wenn man die Waffe der moralischen Irritationslosigkeit beisitzt? "We are guided by the beauty of our weapons" (L. Cohen), und gibt es eine schönere Waffe im pädagogischen Kampf gegen Indifferenz, Apathie und Zynismus als der Imperativ für Engagement, Aktivismus und Intervention?

 

Miniexkurs: Schwammig oder strittig?

Bisher ist man in demokratischen Zeiten gut gefahren mit der Sichtweise, daß gesellschaftlich bedeutsame Konzepte strittig sind. Zu denken sei an den Begriff der 'Demokratie' selbst, an 'Recht', 'Gerechtigkeit', 'Liebe', 'Gemeinschaft', 'gutes Leben', 'moralische Pflicht' und auch 'Erziehung' und 'Bildung'. Es gibt Grund für die Annahmen,

  • daß es wichtig sein könnte, diesen Streit in demokratischen Lebenslagen fortzuführen,
  • daß es manchmal vor allem darum geht, gesittet, d.h. gewaltfrei, mit Dissens zu leben, und nicht darum, unbedingt einen Konsens zu erzwingen, ja
  • daß der Wunsch nach Konsens mitunter eine destruktive Kraft darstellt, und vor allem,
  • daß 'strittig' nicht 'schwammig' heißt und auch nicht 'subjektiv', kurz: daß wir in kohärenter argumentativer Manier streiten können.

Doch leider scheint die besagte Strittigkeit de facto eine schnell verfügbare Rechtfertigung für schwammigen Subjektivismus darzustellen und damit auch einen fruchtbaren Boden für Diffamation und Überredung.

 

Diffamierte Wörter

So manch pädagogischer Diskurs lebt von der manichäischen Trennung zwischen 'guten' und 'bösen' Wörtern (und damit korrespondierenden Vorstellungen und Konnotationsfeldern). Zu den 'bösen' Wörtern gehören im deutschen Sprachraum sicherlich 'Autorität', 'Gehorsam', 'Macht', 'Disziplin', 'Strafe', 'Frontalunterricht', teilweise auch etwa 'Tugend', manchmal auch 'Leistung', 'Üben', und für viele Pädagoginnen und Pädagogen selbst 'Erziehung'. "Gute" Erziehung ist keine "typische" Erziehung, "gute" Lehrer sind keine "typischen" Lehrer. Treffend schrieb Schirlbauer (1996):

"Es gehört zur Pathologie des Lehrers, daß er nicht lehrerhaft sein will. Keinem Anwalt oder Richter fiele es ein, sein Anwalt- oder Richtersein zu verleugnen oder zu kaschieren. Keinem Arzt käme es in den Sinn, den Habitus des Mediziners zu vertuschen. Auch der Ingenieur hat mit seiner Berufsrolle kaum nennenswerte Probleme. -- der Lehrer schon. Vor allem möchte er nicht lehrerhaft erscheinen. Nicht in der Öffentlichkeit, aber -- und das macht stutzig -- auch nicht am Ort seiner Profession" (S. 71).

Die diffamierten Wörter müssen durch mehr oder weniger raffinierte Begriffsvermeidungsstrategien umschifft werden, es sei denn, sie leisten gerade nützliche Dienste zur Beschreibung des pädagogischen Denkens oder Handelns der (meist ja nur halluzinierten) Gegner. Doch für die eigene Position gilt: Kann auf ein Erziehungskonzept nicht verzichtet werden, so wird es in ein Vokabular gefaßt, das die Asymmetrie und Rollenkomplementarität des erzieherischen Verhältnisses vertuscht. Lehrerinnen und Lehrer wurden so an mancher Stelle zu "facilitators of learning", zu "Begleitern von Lernprozessen", "Gestaltern von Lernarrangements", Schüler wurden zu "Kunden", Eltern-Kind-Beziehungen primär als "Partnerschaften" und "Freundschaften" gesehen, und freilich heißen die 'Untergebenen' dann "Mitarbeiterinnen" und "Mitarbeiter". Mit diesen Symmetrie zwischen den Beteiligten vorgaukelnden Bezeichnungen für diffamiertes 'Altes' gehen Versprechungen und Hoffnungen einher, die naturgemäß nicht eingehalten werden können bzw. enttäuscht werden müssen. Die dahinter liegenden pädagogischen Phänomene verlieren ihre Grundstruktur ja nicht mit den nun allein noch zugelassenen 'guten' Wörtern, vielmehr werden diese Phänomene in ihrer Machtförmigkeit subtilisiert. Subtilisierung ist Zementierung.

So mündet der Versuch, die sogenannte pädagogische Antinomie zwischen Zwang und Freiheit -- der Widerspruch aller modernen Autonomiepädagogik -- zu überwinden, regelmäßig in pädagogischen Kitsch bzw. pädagogische Ideologie, zumindest führt er zu einem 'monistischen' Metapherngebrauch (welcher als das gemeinsame Merkmal von Kitsch und Ideologie betrachtet werden kann). Kants bekannte Frage zur pädagogischen Antinomie -- "Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?" -- läßt sich eben weder in der konkreten Erziehungssituation noch in allgemeinem theoretischen Sinne reibungs- und widerspruchslos, zumindest also nicht ohne heikle Gewichtsetzungen beantworten. Die vermeintliche 'Überwindung' des Widerspruchs wird ermöglicht durch

  • einseitigen Metapherngebrauch (z.B. mit der Wachstumsmetapher),
  • Emotionalisierung des Vokabulars (Verwendung von Überredungsbegriffen) und, damit verbunden,
  • hypertrophen Distinktionen zwischen 'guten' und 'bösen' pädagogischen Akteuren.

 

Überredungsbegriffe

Überredungsdefinitionen (persuasive definitions) sind Definitionen, die weniger bestimmen, eingrenzen und klären (was ihre Aufgabe wäre), als vielmehr mit emotional aufgeladenen Wörtern zu 'überzeugen' trachten und so auf mehr oder weniger direkte, mehr oder weniger polemische Weise Eindeutigkeiten erzeugen, d.h. es handelt sich um Versuche, die Einstellungen und Gefühle der Adressaten in bestimmter Hinsicht zu bearbeiten und zu dirigieren. In Überredungsdefinitionen kommt die Kraft der 'guten' und der 'bösen' Wörter erst richtig zur Geltung. Je eindeutiger die emotionale Geladenheit der Wörter (sei es im positiven oder negativen Sinn), je mehr also das Pädagogenherz ergriffen oder aber abgestoßen ist, desto schwerer mag es ihm fallen, den strategischen Gebrauch der Sprache überhaupt noch zu erkennen. Vielmehr meint es dann wahrscheinlich, mit der moralischen Wirklichkeit und Wahrheit in ganz besonders engem Kontakt zu stehen.

Daß Überredungsdefinitionen oft unauffällig daherkommen, gehört zu ihrer Variabilität und Stärke. Wenn beispielsweise Alternativ- und Privatschulen dadurch definiert werden, daß in ihnen -- scheinbar im Unterschied zu anderen, z.B. öffentlichen Schulen -- die "Achtung vor der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler im Zentrum steht", oder wenn möglichst wenig "extrinsische" Motive, dafür aber um so mehr "intrinsische" Motive gestärkt, gefördert bzw. befriedigt oder wenn Schulen als "embryonale Gesellschaften" verstanden, Kinder schlicht als "anders" begriffen werden sollen (und so weiter und so fort), dann handelt es sich im besten Fall um pädagogische Slogans, die einerseits oft eine hohe Zustimmungsrate erheischen, andererseits aber definitorisch überhaupt nichts bedeuten außer eben, daß sie als Pseudodefinitionen Überredungskraft besitzen.

Eigentlich könnte man ja wissen, daß wenn alle mit dem Kopf nicken, etwas mit dem Denken nicht stimmen kann. Wenn ein Körnchen Wahrheit im Zitat von Max Planck stecken sollte -- "Es gibt Dinge, über die man sich einigen kann, und wichtige Dinge" --, dann hätten wir Anlaß, die pädagogischen Plattitüden zu hinterfragen, wonach beispielsweise Lernen 'Spaß' machen soll, wonach 'intrinsische' Motivation pädagogisch wertvoller oder wünschenswerter sei als 'extrinsische' Motivation, 'aktives' Lernen besser als 'passives' (von welchem wir nicht wissen, was es ist), oder wonach es immer auch auf "Ganzheitlichkeit" ankomme, auf "niederlagenlose" Methoden des Konfliktlösens, auf "offene" Lernprozesse, auf "selbständiges" Lernen und auf einen "demokratischen" Erziehungsstil und eine "handlungsorientierte" Didaktik.

Die politisch korrekten Überredungsbegriffe begleiten einen auf Schritt und Tritt, sie sind die treuesten Partner des pädagogischen Besserwissens, die fidelen Begleiter der Kritik ohne die Mühe der Reflexion, der Moral ohne die Übel des Zweifels und der Irritation.

 

Transformation der Vokabularien

Bedeutsame Transformationen der Vokabulare haben das pädagogische Denken in den letzten Jahrzehnten geprägt und damit auch den Blick auf die pädagogische Wirklichkeit verändert. Vokabulare verändern heißt, Deutungsmuster verändern, und dies wiederum heißt, die Dinge anders gewichten, was seinerseits heißt, zu anderem Handeln und Reagieren aufzufordern. Pädagogisch bedeutsame Transformationen der Vokabulare und in den Vokabularien scheinen u.a. zu sein:

  • die Transformation der Sprache der Tugenden in die Sprache der Kompetenzen,
  • die Transformation der moralischen Sprache in die psychologische Sprache,
  • die Transformation der Sprache des Handelns (des handelnden Subjekts) in die Sprache des Verhaltens (des sich verhaltenden Bedürfniswesens).

Es ist natürlich richtig: mit dem Begriff der Tugend läuft man Gefahr, politisch festgelegt zu werden. Doch daß der Begriff der Tugend in konservativen und neo-konservativen Diskursen in den letzten Jahren wiederum eine Konjunktur erfahren hat, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er erstens weder parteipolitisch noch in bezug auf Wertorientierungen festgelegt und zweitens zu wichtig ist, als daß er nur einer politischen Grundorientierung überlassen werden sollte. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß der Begriff der Tugend, wird mit ihm ausschließlich auf instrumentale und funktionale Dispositionen (Sparsamkeit, Ordnungsliebe, Fleiß, Pünktlichkeit etc.) rekurriert, zurecht devaluiert worden ist.

Für die pädagogische Interpretation und Alltagsdiagnostik gravierender erscheinen die Transformationen von der moralischen in die psychologische Sprache, weil kaum plausibel erscheint, wie ohne moralische Adressierung "Autonomie" (bzw. die für das Rechtssystem, Moralsystem und Erziehungssystem notwendige Illusion der Autonomie) entstehen kann. Autonomie als kontrafaktische Selbstunterstellung (basale 'Als-ob-Struktur') wird kaum als das Resultat gelingender Bedürfnisbefriedigung betrachtet werden können (wiewohl ein diesbezüglicher Mangel immer hinderlich sein mag). Ob also die Entwicklung eigenverantwortlichen Handelns ohne "moralische Adressierung" des Kindes gedacht werden kann, ob ohne "Emanzipations-" bzw. "Befreiungspraxis" des Jugendlichen Selbstachtung aufgebaut werden kann, bleibt zumindest fraglich. Wer "Lausbube" sagt, moralisiert, doch wer "verhaltensauffällig" sagt, pathologisiert. Vielleicht allerdings mit gutem Grund, doch nicht alle "Schlitzohren" sind "milieugeschädigt", nicht alle "Zappelphilipps" sind "POS-Kinder", "ADS-Kinder" oder "hyperaktiv", und auch wenn die psycho(patho)logische Diagnostik immer wieder nötig, und die konkrete Diagnose valide und bedeutsam ist, der wesentliche Unterschied bleibt bestehen: Moralisierung (auch als lästige Erziehungskommunikation) unterstellt Willens- und Handlungsfreiheit, und sie stellt so ein Konstituens pädagogischer Interpretation dar; diese Unterstellung ist aber gerade weder Anlaß noch meist Resultat psychologischen Verstehens und Diagnostizierens. Pädagogik ohne explizit moralisches Vokabular entwickelt zwar mitunter ein psychologisch motiviertes Ethos (etwa in ihrem Rekurs auf humanistische Psychologie), und ist allein schon diesbezüglich keineswegs "moralfrei", dennoch liegt ihre Überzeugungskraft sicher auch gerade im Kultivieren der in modernen Lebenslagen weitverbreiteten Selbsttäuschung einer Freiheit von Moral. Dieser unreflektierte Post-Moralismus im psycho-pädagogischen Feld bezieht seinen imperativisch anmutenden Impetus freilich gerade aus dem implizit moralisch eingeforderten Recht zur Bedürfnisbefriedigung.

Die eingangs erwähnte 'Aktivitis' bezieht sich nur scheinbar auf die Idee eines handelnden Subjektes in einem starken Sinne, das seine Freiheit praktiziert und dieselbe zu verantworten hat bzw. lernt oder lernen soll, für dieselbe Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr scheint, wer die 'Eigenaktivität' zu einem Hauptkriterium pädagogischer Qualität erhebt, einen Begriff von Handeln zu favorisieren, der mit solcher Freiheitspraxis, die immer eine heikle und paradoxerweise meist 'unfreiwillige' Tätigkeit und keineswegs ein Geschehen darstellt, nicht das geringste zu tun hat ('Freiheit' als Bedürfnisbefriedigung). Wiewohl die Befriedigung von primären Bedürfnissen lebenszentral und die Befriedigung von sekundären Bedürfnissen kulturell und natürlich auch pädagogisch überaus bedeutsam und Ursache für den Großteil der 'Aktivitäten' des menschlichen Lebens und Zusammenlebens ist, erscheint es doch prekär oder zumindest sehr ungenau zu sein, entsprechendes Verhalten (das wir ja auch mit Meerschweinchen, Zaunkönigen und Nilpferden gemeinsam haben) mit Handeln als einer zu verantwortenden Freiheitspraxis gleichzusetzen. Daß Freiheitspraxis immer störend sein könnte, oft gerade gewählt wird, weil die Bedürfnisse nicht immer befriedigt werden können oder gerade bewirkt, daß dieselben nicht befriedigt werden können, daß also Freiheit eher eine "wilde Pflanze" darstellt (Alain Touraine) als ein nettes Pflänzchen im häuslichen Topf, welches es zu hegen und pflegen gilt, mag manchem Pädagogenherz sein Leben lang verschlossen bleiben, und damit auch der Umstand, daß der Pädagoge Freiheitspraxis nicht lehren kann.

Das Feld der 'einheimischen Begriffe' der Pädagogik erfährt und provoziert -- also durchaus selbstverschuldet, sofern man hier von Schuld sprechen darf -- zur Zeit 'Intrusionen' des ökonomischen, des psychologischen und des psycho-ökonomischen Vokabulars. Beispielsweise reden wir heute von "Investition" in die Bildung, "Investition" in die Zukunft unserer Kinder, "Investition" in die Beziehung. Das kräftige Input-Output-Schema (Investition-Ertrag, Aufwand-Ergebnis etc.) läßt selbst das Erziehungsverhältnis als Tauschverhältnis begreifen, von "Lernverträgen" und selbst "Erziehungsverträgen" ist die Rede.

Im "Gefühlshaushalt" finden wir die Vereinigung der Vokabulare zum psycho-ökonomischen Denken, dem Haushalten mit psychischer Energie, psychischen Ressourcen, und können entsprechend fragen "Was bringt mir diese Beziehung noch?", wenn wir etwa befürchten, daß die "Input-Output-Bilanz" dieser Beziehung einfach nicht mehr stimmt, daß wir zuviel psychische Energie verbrauchen, zuviel Gefühl investieren und so im Grunde unsere Psychoökologie verschmutzen.

Die "Nutzenfrage", auch wenn -- wie wohl meist -- edel motiviert (z.B. praktisch), ist mitunter die wahre Totschlägerin der Bildung. Denn wozu soll ich Tolstois Krieg und Frieden lesen, wenn es doch so dick ist? Was bringt mir diese oder jene Theorie für meine pädagogische Praxis? Kurz: Wenn ich also den Nutzen nicht zum vorneherein kenne oder grosso modo abschätzen kann, dann lasse ich mich gar nicht erst auf die Sache sein. Investition erfolgt nach "Effizienz-" und "Effektivitätskriterien", dies trifft nun eben auch Bildungsprozesse. Doch: Wie abschätzen? Wie messen? Und könnte es sein, daß es neben dem Meßbaren noch Beschreibbares gibt, das nicht meßbar ist, und Bedeutsames, daß nicht einmal richtig beschreibbar ist? Die "ökonomisch" legitime und notwendige Frage wird -- nimmt sie überhand -- zur Vernichterin der Bildung als Selbstzweck. So transformiert sich die Bildung vom "Gut" zum "Wert", vom "Zweck" (an sich) zum "Mittel". Natürlich, wir wußten immer, daß sie nie nur Selbstzweck sein kann oder sein sollte, weder in ihrer materialen, personalen noch sozialen Dimension, sie war immer schon zugleich auch Mittel, aber was ist sie eigentlich noch, wenn sie nur noch Mittel ist?

 

Abschließend: Pädagogische Bildung

Zur pädagogischen Bildung gehört die Sensibilität für ihre Sprachlichkeit und Sprachanfälligkeit. Zum einen geht es um die Entwicklung eines ganzen Repertoires an pädagogischen Vokabularien, darum, lieber vielfältiger als einfältig-eindeutiger Pädagoge zu sein. Zum anderen geht damit die Entwicklung eines Sensoriums für die Differenzen der pädagogischen und nicht-pädagogischen Sprachspiele einher, für ihre jeweiligen 'blinden Flecken' und Fokussierungen, ihre strategischen Figur-Hintergrund-Manöver im politisch korrekten und politisch inkorrekten Raum. Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, wonach pädagogische Bildung einerseits das Verständnis für die unterschiedlichen Moralen bezeichnet, die mit unterschiedlichem Wortgebrauch einhergehen, und andererseits die Entwicklung der Motivation zum "Kampf" um die angemessene Sprache zur Beschreibung des pädagogischen Verhältnisses und der jeweiligen Situation in pädagogischer Hinsicht.

 

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