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no. 22: zeugenschaft
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editorial |
Einerseits erscheint heute das Bedürfnis nach Zeugenschaft allgegenwärtig, beispielsweise im Hinblick auf (bald) nicht mehr zur Verfügung stehende Zeitzeugen. Andererseits stellt sich angesichts technischer Durchdringung und virtueller Herstellung von Realität die Frage, welchen Stellenwert Zeugenschaft haben kann, wenn Kommunikation zunehmend aus immateriellen Datenströmen gespeist wird. |
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Und doch: Aus Zeugenschaft erwächst unsere Zukunft. Wen diese These überrascht, der denkt dabei immer noch zu einseitig nur zurück an zu bezeugendes Unheil, das sich vom tragischen Verkehrsunfall bis zur irreversiblen Geschichtskatastrophe erstrecken kann. Grundsätzlicher zu fragen aber ist auch mit Blick in die Zukunft, ob sich überhaupt authentisch von Menschheitskatastrophen, wie sie vor allem Genozide darstellen, berichten läßt und wer oder was die Zeugenfunktion für ein Ereignis übernimmt, wenn eines Tages keine Zeitzeugen mehr leben? Wie sieht ein Zeugenschaftskonzept aus, das über Zeugenaussagen und Augenzeugenberichte, die Authentizität und größtmögliche 'Objektivität' gewährleisten sollen, hinausgelangt, ist doch gerade dieser 'herkömmliche' Begriff von Zeugenschaft in einigen Diskurszusammenhängen möglicherweise eben nicht zureichend bzw. herstellbar? |
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Die Beiträge dieser Ausgabe skizzieren das Phänomen der Zeugenschaft dabei ebenso aus den Sichtweisen der Dokumentarfilmanalyse wie der Archäologie und reflektieren es bis hinein in die aktuelle Diskussion über das öffentliche Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Stolpersteine von Gunter Demnig sind nicht nur Gesprächsgegenstände im parapluie-Interview mit dem Künstler, sie sind vor allem Denkanstoß für eine basisdemokratische Gedenkkultur in Deutschland. Es finden sich unter den Beiträgen aber auch sehr persönliche Zeugnisse von Autoren, die im Kontext von Völkermorden selbst als Häftling in Auschwitz oder als Beobachter in Ruanda gewesen sind. |
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Alle Beiträge, seien sie nun eher wissenschaftlich, künstlerisch oder persönlich motiviert, verdeutlichen jedoch, wie wichtig das Phänomen der Zeugenschaft für die Identitätsbildung einzelner Personen, in einzelnen Staaten sowie in einer Welt sein kann, in der die Achtung der Menschenrechte global allererst noch durchzusetzen sein wird. Zeugenschaft wird so zu einem wesentlichen Bestandteil eines unverzichtbaren Zukunftsprojektes. |
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Julia Genz |
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autoreninfo
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Dr. Julia Genz studierte Neuere Deutsche Literatur, Italienisch und Rhetorik in Tübingen und Pisa. Sie ist Assistentin für Komparatistik/Neuere Deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Uni Tübingen.
Veröffentlichungen:
Analphabeten und der blinde Fleck der Literatur. Paderborn (München): Fink 2004. -- Nur das Zwecklose wird vom Hauch des Ewigen berührt. Melancholie in Hans Henny Jahnns Roman 'Fluß ohne Ufer'. Stuttgart: Ibidem 1998
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Dr. Thomas Hilger (verheiratet, vorher: Dr. Thomas Hennig) arbeitet seit 2003 als Lehrer für Deutsch, Praktische Philosophie (S I) und Philosophie (SII) an der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule in Krefeld. Er initiierte im November 2005 ein Bürgerbegehren für Stolpersteine in Krefeld, in dem Schüler, Kollegen und weitere Mitstreiter sich gegen einen Ratsbeschluß wendeten. Nach seiner Tübinger Promotion (Thomas Hennig: Intertextualität als ethische Dimension. Peter Handkes Ästhetik nach Auschwitz. Würzburg 1996) war er bis 2000 zuletzt als Leiter des Projekts "Kleist intermedial" Wissenschaftlicher Angestellter an der RWTH Aachen. Anschließend Weiterbildung bei Siemens und IBM zum "Experten für multimediales Training". Seit 2002 Mitarbeit als Autor und Redakteur bei parapluie.
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