Das Gespinst der transfiktionalen Obdachlosigkeit
im intermedialen Kunstprojekt Tomás Ochoas
von Thomas Hilger

"Wer A sagt, muß auch B sagen."

Wie stellen Sie sich eigentlich den Kampf zwischen zwei anonymen Mächten vor, zwischen einer im Idealfall menschenfreundlichen Macht wie der Kunst und einer im schlimmsten Fall menschenverachtenden Macht, als welche die Globalisierung für viele Betroffene schon heute auf der Verliererseite dieses Prozesses wahrgenommen wird? Können Sie sich mit mir diese zwei Mächte vorstellen, von denen eine Sie fast zu ersticken droht und die andere Sie zu einer phantasievollen Gegenwehr aufrufen möchte? Oder haben Sie doch eher andere Sorgen? --

Ich würde Sie trotzdem gerne zu diesem kleinen Gedankenexperiment einladen. Anfänglich hielt ich es noch für eine gute, weil relativ einfache Idee zu Ihnen über Bilder und Gegenbilder der Obdachlosigkeit im aktuellen Werk von Tomás Ochoa zu sprechen. Zumindest die Bilder von Obdachlosigkeit, die Ihnen in dieser Ausstellung aus einer Video-Installation Ochoas mit dem Titel CONTAGION (auf Deutsch 'Ansteckung') gezeigt werden, sprechen eine sozialkritische Sprache und werfen somit die berechtigte Frage auf, wieso selbst deutliche Bildzitate aus diesem Filmmaterial im malerischen Werk des Künstlers den Betrachter von dieser Sozialkritik fast nichts mehr spüren lassen. Im Fall dieser Gemälde lediglich von Gegenbildern zu Ochoas Video-Kunst zu sprechen, erscheint mir inzwischen jedoch eine etwas zu einfache Opposition zu eröffnen. Zu leicht könnten wir damit in eine Falle unserer eigenen Alltagslogik geraten. Wer kennt diese Falle nicht: "Wer A sagt, muß auch B sagen." Genau in diese Falle ist aber in der renommierten spanischen Zeitung El Pais eine Kritik an einer vorausgegangenen Ausstellung Ochoas geraten, wenn dieses auch uns in dieser Ausstellung Widersprüchliche des Werkes darin leider so bewertet wird, daß die Gemälde die eindeutige Sozialkritik der Video-Installation einseitig vermissen ließen und somit für sich genommen ohne zusätzliche Erklärungen des Malers unverständlich bleiben müssten.

"Rien ne va plus -- nichts geht mehr."

Vielleicht sollte eine naiv realistische Erwartungshaltung, die sich gegenüber einer dokumentarisch inszenierten Video-Installation eines Künstlers zunächst zwar bestätigt sieht, nicht ohne weiteres im Ergebnis auf die Malkunst des gleichen Künstlers unhinterfragt übertragen werden. Verändert sich nicht ein ursprünglich sozialkritisches Video-Dokument, wenn es nach einer Konfrontation mit der vermeintlich abstrakten Malerei nun in einem spürbar erweiterten Zusammenhang erscheint? Wer legt hier eigentlich unverrückbar fest, in welcher Reihenfolge verschiedene Kunstwerke einander zu kommentieren haben? Das Video CONTAGION erzählt und bezeugt in dokumentarischem Stil die Geschichte eines Schauspielers, der sich, nachdem er arbeitslos geworden ist, mehr oder weniger selbst für ein Leben in der Obdachlosigkeit entscheidet. Zahlreiche Originaltöne von Obdachlosen in Buenos Aires sind ebenso zu hören wie auch die Architekturen zu sehen sind, in denen sich die Obdachlosen nachts verbergen müssen. Allein diese Architekturen werden nun von Ochoa in seinen Gemälden zitiert und damit wieder aufgenommen, ohne daß sie darüber hinaus die Armutsprobleme des Globalisierungszeitalters thematisieren. In ihrer melancholischen menschenleeren Tristesse wirken die Bilder aber eher Rätsel aufwerfend als die Armut ästhetisierend. In ihrer spezifisch ästhetischen Weise überbieten sie aber genau bloße Sozialkritik ebenso wie sie streng genommen auf der anderen Seite hinter ihr zurückbleiben, ohne dabei jedoch im Geringsten zu beschönigen. Die Bilder lassen sich somit als Kunst des Fragens lesen und verstehen, ohne bereits vorschnelle Antworten bereit zu halten. Sie besitzen eine philosophische Qualität jenseits einfacher Ideologisierungen oder besänftigender Ästhetisierung. Das Video CONTAGION zeigt beispielsweise kurz vor Schluß, wie ein Obdachloser in eine Bauruine hinein geht und dort auf einer Stahltreppe zwischen zwei Turmgerüsten auf- und absteigt. Die Abbildung der Turmgerüste findet sich im malerischen Werk Ochoas wieder, nämlich im Bild mit dem Titel "For hazard would touch you not." ("Du wirst kein Opfer des Zufalls sein."), dann allerdings ohne den Obdachlosen und auch ohne die Treppe. Gewinnt also der Widerstand desjenigen, der kein Opfer des Zufalls werden soll? Oder wird er am Ende mit Gewissheit ein Opfer der Globalisierung werden oder bereits geworden sein, wenn er schon nicht mehr zu sehen ist? Hat er sich noch retten können oder ist er bereits hoffnungslos verloren? Eine Einstellung im Video zeigt eine Stahltreppe perspektivisch so von unten, daß sie sogar ungewollt an die Bilder eines populären Treppenmalers erinnern könnte, nämlich an die in der Regel heiter wirkenden Bilder von M.C. Escher. Anders jedoch als auf Eschers Bildern, die häufig Figuren zeigen, die in geometrisch scheinbar unmöglichen, unsere Sehgewohnheiten geradezu überstrapazierenden Architekturen betont aperspektivisch endlos auf- oder abwärts zu gehen scheinen, zeigt Ochoa im Video zunächst einen realistisch nachvollziehbaren Anklang an dieses berühmte Motiv. Andererseits verweigert er in dem auf das Video deutlich rückbeziehbaren Gemälde die Wiedergabe der Treppe: "Rien ne va plus -- nichts geht mehr."

"Wer suchet, der findet."

Wenn es hier dennoch einen Übergang geben soll, so muß es ein Sprung sein. Dies gilt für die abgebildeten Türme ebenso wie für die Verbindung von Video-Kunst und Malerei. Das Gemälde ist keineswegs als eine stillgestellte Kopie der bewegten Videobilder anzusehen, sondern es thematisiert und reflektiert sowohl die Ähnlichkeit zwischen den beiden Kunstformen wie zugleich ihren scheinbar unüberbrückbaren Unterschied. Deutlich anders als die häufig von menschlichen Figuren bevölkerten Bilder Eschers sind die Bilder Ochoas meist menschenleer. Kontrapunktisch düster gegenüber Escher wirken die Architekturen Ochoas und erinnern somit weit eher an die Dunkelheit der ebenfalls berühmten fiktiven Kerkerbilder Piranesis. Anknüpfen an die Bildkunst Piranesis ließe sich vor allem im Motiv der in ihr immer wieder dargestellten Stricke und Seile, die sich häufig auch in Ochoas Bildern finden. Ein solches Spannungsfeld im Rahmen lediglich der bildenden Kunst ließe sich leicht ausweiten etwa auf die Darstellung von Kellergewölben im Werk Anselm Kiefers oder auf die perspektivisch rätselhaften Architekturdarstellungen in den Bildern Giorgio de Chiricos. Wer suchet, der findet. Allein Tomás Ochoa legt selbst keinen größeren Wert auf die Herausarbeitung einer solchen immanenten kunsthistorischen Ahnenreihe, wenn er in seinem Ausstellungsbegleittext sich dort lieber, als auf die Werke anderer Maler, auf den Begriff der Transtextualität des Literaturtheoretikers Gérard Genette bezieht. Genauer noch geht Ochoa zurück auf die dem Begriff der Transtextualität noch vorauseilende Umsetzung des von ihm Bezeichneten im Werk des Schriftstellers Jorge Luis Borges. Angelehnt an den Epoche machenden Erzählband Fiktionen von Borges und verknüpft mit Genettes Begriff der Transtextualität entwirft Ochoa als Titel seiner Ausstellung den Begriff "TRANSFICCIONES". Was aber genau ist mit Transfiktionalität gemeint? Reicht es eventuell aus zu wissen, wie sie funktioniert? Läßt sich sagen, worin sich Transfiktionalität von Intermedialität als einer integrativen Wechselbeziehung unterschiedlicher Kunstformen unterscheidet? "Intermedialität", schreibt Yvonne Spielmann, "bezeichnet ein Phänomen der Vermischung zwischen unterschiedlichen Medien." In der Medizin wird etwa darüber gestritten, ob in der Homöopathie eine Verdünnung von Wirkstoffen oder deren Potenzierung, wenn überhaupt, zur Heilung von Krankheiten führt. Reicht es aus, sich unter Transfiktionalität ein 'Phänomen der Vermischung', schlimmer noch eines der 'Verdünnung' von Künsten vorzustellen oder geht es darin gar um eine Potenzierung ihrer jeweiligen Wirkkräfte? Beim ästhetischen Phänomen der Transfiktionalität von Tomás Ochoa geht es ähnlich wie bei der Transtextualität Gérard Genettes nicht allein um innerliterarische Bezüge, Methoden oder Praktiken literarischer Selbstreflexion. Ist es jedoch allein innerhalb der Literatur schon schwierig überhaupt nur Realität und Fiktion, also das vermeintlich Wirkliche vom Erfundenen klar zu trennen, so dürfte es sich bei dem hier gesuchten Verständnis von intermedialer Transfiktionalität kaum um ein wesentlich einfacheres Phänomen handeln. Schließlich könnte es dabei neben einer bloßen Mischung verschiedener Kunstmedien darüber hinaus um eine gezielt zu steigernde Wirkung gehen.

"Einfach kompliziert"

Warum sollen wir aber nicht jenseits hier nur angedeuteter theoretischer Komplexität nach dem Besuch der Ausstellung allen, die uns danach fragen, wie sie uns denn gefallen hat, mit einem womöglich leicht euphorischen Ausdruck antworten: Einfach transfiktional! Rufen Sie es am besten aus wie eine Steigerung eines Dramentitels von Thomas Bernhard, der schließlich als lediglich literarischer doch nur lautete: "Einfach kompliziert". Falls dies für Sie gegenüber der ernsten Wirkung der Bilder zu ironisch klingen mag, so will ich mich hier darauf zurückziehen, daß ich mich lediglich einer positiv abkürzenden Kraft der Ironie bedienen will. Denn ich gehe ernsthaft davon aus, daß Tomás Ochoa sich mit seinem intermedialen Kunstprojekt auf die von ihm genannten theoretischen Konzepte gewissenhaft bezieht, sie andererseits aber in Anbetracht ihrer Komplexität gewiß nicht beim Betrachter in vollem Umfang als im Detail bekannt voraussetzt. Allein die transfiktionale Praxis von Ochoas Kunstobjekten soll damit die mehr oder weniger beredten Botschaften dieser in den Werken eingeschriebenen Theorien vermitteln. Offenbar ist eine genauere Bestimmung von Transfiktionalität einfach kompliziert oder sogar einfach zu kompliziert, um sie hier mit lediglich einführender Absicht bis ins letzte Detail hinein fortsetzen zu können. Warum kehren wir dann also nicht doch einfach besser wieder um, von B nach A, also von der auf den ersten Blick so schwierigen Abstraktion der Gemälde zurück zu den scheinbar konkreteren sozialen Ausgangspunkten der Video-Kunst? Wir kehren vielleicht deshalb besser nicht einfach um, weil diese Beziehung weder in die eine noch in die andere Richtung eine Einbahnstraße darstellt. Wer B sagt, muß nicht nur A, er muß auch Aleph sagen.

"Wer B sagt, muß auch A(leph) sagen"

Einige der hier versammelten Gemälde Ochoas enthalten in ihren Titeln direkte Anspielungen auf Texte von Jorge Luis Borges. Auf eine seiner berühmteren Erzählungen bezieht sich zum Beispiel das Bild mit dem umständlichen Titel, den auch der Ausstellungsbegleittext bereits in deutscher Sprache nennt: "Ein Aleph ist einer der Punkte im Raum, der alle Punkte enthält. Ihre Unfähigkeit ihn nicht zu erkennen, entkräftet meine Aussage nicht." Der letztlich damit angesprochene blinde Fleck unserer eigenen Erkenntnisfähigkeit ist in dem Bild gleich mehrfach fokussiert. Zum einen ist eine quasi-chirurgische Apparatur in den linken Vordergrund eingezeichnet, mit der sich der menschliche Schädel zumindest vermessen, wenn nicht sogar öffnen läßt. Ein Operateur könnte zwar damit Einblick nehmen in das Organ, von dem aus die Verarbeitung der Informationen durch den Operierten selbst normalerweise geschieht. Welch hoffnungsloses Unterfangen ist dies aber zumindest dann, wenn es der Selbsterkenntnis des Patienten dienlich sein soll, der ja genau in diesem Moment der Operation bewußtlos sein dürfte. Zum anderen erscheint rechts im Vordergrund eine Zeichnung, die eine astronomische Konstellation geometrisch skizziert zum Ausdruck zu bringen scheint. Entscheiden Sie selbst, ob diese Konstruktionen mit mikro- und makrokosmischer Relevanz einen Spannungsbogen im Bildvordergrund entwickeln, der sich eingezeichnet findet in eine menschenleere, düstere Betonruine. Selbst wenn es zu diesem Bild neben der literarischen auch noch eine fotorealistische Vorlage geben sollte, so ist hier im Gegensatz zum eingangs genannten Gemälde mit den unverbundenen Turmgerüsten nicht einfach eine Treppe übermalt worden, sondern zwei Konstruktionszeichnungen sind nah beieinander und dennoch unverbunden in das Bild eingefügt worden. Thematisiert sind auf diese Weise die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis derjenigen Räume, die uns vollständig wohl niemals zugänglich sein werden, weder im Inneren unseres Gehirns noch im Äußeren des Universums. Diese uns noch immer zu weiten Teilen verschlossenen Räume der Innen- und der Außenwelt zu eröffnen, ist von jeher eine Fiktion der fiktionalen Künste und somit bereits äußerst transfiktional. Durch scheinbar relativ einfach zu erfassende Eingriffe des Künstlers in eine realistisch anmutende Bildebene wird deren räumliche Grundlegung radikal in Frage gestellt.

"Einfach transfiktional"

Das damit letzte Bild, auf das ich hier noch aus Gründen der Veranschaulichung des Gesagten etwas ausführlicher eingehen möchte, trägt inzwischen mindestens zwei verschiedene Titel, aktuell in dieser Ausstellung zum Beispiel "We long for the inexhaustible plain." ("Wir sehnen uns nach der unerschöpflichen Ebene"), und in einem Katalog trägt das junge Werk noch den spanischen Titel "trampa de hilo", wofür im Deutschen die Redewendungen "Jemandem ins Garn gehen" oder "Jemandem in die Falle tappen" für den Versuch einer freien Übersetzung vielleicht in Frage kämen. Ich möchte beschreiben, was mich bei diesem Bild dazu veranlaßt, die These einer wirkmächtigen Potenzierung der Obdachlosigkeitsthematik im Werk Ochoas weiter zu begründen. Als 'einfach transfiktional' setze ich nun auch in Ihren Augen die Beobachtung voraus, daß dieses Bild parallel zum soeben besprochenen Aleph-Bild eine vermeintlich fotorealistische Vorlage mit eingezeichneten Figuren kombiniert. Wie ein Gespenst erscheint links im Bildvordergrund eine Apparatur zur Herstellung eines Gespinstes aus Schnur, Garn oder Zwirn. Es könnte sich dabei wohl um ein Spinnrad handeln oder auch um eine medizinische Spezialapparatur, welche im Bild zu schweben scheint, ein wenig erinnert das Gerät dabei auch unwillkürlich an einen Galgen. Das Bild ist menschenleer, es zeigt also weder Gehenkte oder auch nur Obdachlose. Es zeigt eine apokalyptisch wirkende Szenerie, ganz so als ob ein Sturm vorbeigezogen wäre, womöglich angetrieben von einem weltweit ausbeutenden Kapitalismus. Dieser Sturm hat wohl nichts zurückgelassen als eine dem Bild eingeschriebene Hoffnung, ihm gegenüber beim Betrachter eine Gegenbewegung aufzubauen. Anders als bei den sich für uns bewegenden Videobildern müssen wir vor diesem Gemälde unsere Bilder in uns selbst in Gang setzen. Das Bild kommt uns dabei schon sehr weit entgegen mit einer Art Baukasten von Bildsymbolen. Ihrer können wir uns bedienen, um selbst ein Gespinst zu erzeugen. Dieses Gespinst weckt in uns im günstigsten Fall den Widerstand gegen eine Realität, die einem ansonsten wenig einladenden Bild der Verwüstung entsprechen würde. Ob sich also am unteren Ende des spinnradartigen Apparats bereits eine gewebte Textur erahnen läßt oder lediglich ein Fußpedal, das läßt sich vor dem Original gewiß leichter entscheiden. Ein genauer Blick lohnt sich aber, ist es doch kein geringer Unterschied, ob es sich hier bereits um das fertige Produkt oder erst um den Antrieb zur Produktion Ihrer eigenen Phantasie handelt. Im Bild befinden sich am rechten Rand einer fragmentarisch dargestellten Architektur sechs Anknüpfungspunkte. Wenn Sie sich entscheiden können, selbst daran anknüpfen zu wollen, dann werden sie zu generativen Elementen Ihrer eigenen Text- und Sinnproduktion. Spinnen Sie sich Ihren eigenen Ariadne-Faden, um im Labyrinth der Globalisierung nicht in Anonymität zu versinken. Läßt sich nicht ein Bildtitel auch so deuten, daß wir uns auch nach unendlichen Interpretationsebenen sehnen, die dabei helfen können, kreative Gegenmodelle zu einer zerstörerischen Weltökonomie zu gestalten ("Wir sehnen uns nach der unerschöpflichen Ebene"). Zurück also zu den Anknüpfungspunkten rechts im Bild, die Sie eventuell an Angelknoten erinnern könnten. Tomás Ochoa selbst machte mich darauf aufmerksam, daß es sich bei ihnen um Knoten handelt, die der Chirurg bei Vernähen von Wunden kennen und beherrschen muß. Um wessen Wunden geht es hier? Wer ist der Chirurg? Zwischen den Knoten und der Apparatur habe ich zuerst wieder eine unüberwindliche Kluft sehen wollen, wie schon zuvor in dem bereits angesprochenen Bild mit der übermalten Treppe. Doch dann fiel mir das Aleph ein, unaussprechlich und stimmlos markiert es in der hebräischen Schrift das Anheben der Sprache und symbolisiert so auf raffinierte Weise eine Schrift vor der Schrift. Es steht damit für eine Vorschrift, die uns aber in Ihrer hier unlesbaren Form nichts vorschreibt und uns somit alle Freiheit läßt, den von ihr unausgesprochenen Raum mit unseren eigenen Vorstellungen zu füllen. So gesehen könnte hier eine Art universale Schrift vor der Schrift ins Bild als Anknüpfungspunkt für eigene Phantasien eingezeichnet sein. Wie bei den Hebräern wäre sie hier von links nach rechts zu schreiben und sie verstärkte damit nicht unbedingt den apokalyptischen Eindruck der menschenleeren Ruinenlandschaft, sondern sie stellte den Beginn dar, dagegen anzuschreiben. Da hier die Zeilen fehlen, würden nicht nur nicht auf dem Strich, sondern sogar Geschichten gegen einen ebenfalls unsichtbaren Strich der Geschichte geschrieben. Warum schreiben Sie nicht mit an der Geschichte gegen die Geschichte globaler Obdachlosigkeit, solange dies noch geht? Ist also das zitierte Aleph in einem der Bildtitel ein Stellvertreter für eine für uns unlesbare und daher nur allzu leicht zu übersehende Schrift? Unübersehbar dagegen zeigen sich die Enden von Schnüren an den angesprochenen Anknüpfungspunkten und es wäre interessant zu überlegen, ob hier nicht auch eine alte sprachunabhängige Symbolkunst der Inka ins Spiel kommt. Die Inkas verwendeten Knotenschnüre zur Aufzeichnung wichtiger Daten, die sie Quipuschnüre nannten. Wie bei den hebräischen Zeichen entspricht auch bei den Quipus den unterschiedlichen Knoten ein ihnen zugeordneter Zahlwert. Soll hier also eine althergebrachte lokale Tradition der gleichmachenden Globalisierung Paroli bieten? Zumindest für das Gemälde mit dem ebenfalls an Borges angelehnten Titel: "I imagine God entrusting the message to the living fur of the jaguars" hat Tomás Ochoa auf seine bewußte Verwendung dieser alten Symbole hingewiesen.

Die Schrift vor der Schrift wird in Tomás Ochoas Bild jedenfalls nicht ohne Phantasie zu entziffern sein. Diese Schrift vor der Schrift ist weder die allein der Video-Kunst Ochoas noch ausschließlich die seiner Malerei. Sie verbindet im Gespinst transfiktionaler Obdachlosigkeit beide miteinander und somit sowohl den von der Globalisierung betroffenen Obdachlosen als auch die einander widerstreitenden anonymen Mächte der Weltwirtschaft und der transfiktionalen Kunst. So nimmt es übrigens wohl auch nicht Wunder, daß auch Douglas R. Hofstadter in seinem die Intermedialitätstheorie bereichernden Klassiker mit dem Titel Gödel Escher Bach -- ein endlos geflochtenes Band auf eine Knotentechnik zu sprechen kommt, die er dem für jedwede Widersprüchlichkeit so offenen Zen-Buddhismus entlehnt.

"Ein generatives Gespinst gegen das Gespenst der Globalisierung"

Was passiert aber, wenn Sie als Betrachter selbst die im Bild stillstehende spinnradähnliche Maschine in Ihrer Phantasie einmal ausprobieren? Was passiert, wenn sie sich im Innern Ihres Kopfes zu drehen beginnt? Besteht dann nicht eine minimale Chance, dem anonymen Roulettespiel einer menschenverachtenden Globalisierung, auf die Sie bisher keinerlei Einfluß zu haben glaubten, doch noch etwas entgegen zu setzen? Rien ne va plus -- Sie erinnern sich, hier schließt sich der Kreis, oder besser gesagt, hier endet langsam dieser Versuch einer Einführung in die Kunst der Transfiktionalität Tomás Ochoas, die eher einem Labyrinth von Borges gleichen mag als einer unmittelbar überzeugenden geradlinigen Argumentation. Wirksame Sozialkritik oder gar Globalisierungskritik kann Ihnen ein Gemälde nicht abnehmen, Sie müssen sie selbst leisten. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Georg Lukács zur Charakterisierung der modernen Literatur den Begriff der 'transzendentalen Obdachlosigkeit' geprägt. Dieser Begriff sollte in seiner abstrakt-konkreten Widersprüchlichkeit zur Kennzeichnung zumindest eines allgemeinen Wertewandels, wenn nicht sogar Werteverfalls dienen und hat mich inspiriert zu der hier ausgeführten Konzeption einer 'transfiktionalen Obdachlosigkeit'. Von einer dargestellten realen Obdachlosigkeit in der Video-Kunst Tomás Ochoas sind wir mit dem literaturtheoretischen Begriff der transzendentalen Obdachlosigkeit nur entfernt in Berührung geraten, um bei der intermedialen Praxis von Transfiktionalität anzukommen. Als Praxis ist sie aber nicht nur die eines Künstlers, sondern wesentlich auch unsere eigene, die der Rezipienten der Bilder Ochoas. Und daher ist leider auch nicht auszuschließen, daß die Geschichte mit der Kunst gegen die Globalisierungsfalle nur der fehlgeleitete Gang in eine Interpretationsfalle war. Vielleicht ist es am Ende nicht allein die Ausstellung der Bilder, sondern Sie und ich, wir selbst sind es:

"Einfach transfiktional".

Der Text wurde in gekürzter Fassung vorgetragen zur Eröffnung der Ausstellung TRANS-FICTIONS von Tomás Ochoa in der Kölner Galerie Locus Caementitium am 10.September 2005.

Der Ausstellungsbegleittext von Tomás Ochoa lautet:

"TRANS-FICTIONS"

"Ein Aleph ist einer der Punkte im Raum, der alle Punkte enthält. Ihre Unfähigkeit ihn zu erkennen, entkräftet meine Aussage nicht." J. L. Borges

"G. Genette erklärt in 'Palimpsestos' die Transtextualität als die textuale Bedeutsamkeit des Textes. Eine der Grundsatzprinzipien in der Arbeit von Borges ist: Die Sprache, die den Kosmos anordnet und neu definiert, erklärt, wie alles in der Realität irgendwo eine Übereinstimmung und einen Hinweis hat, so daß die kleineren Angelegenheiten des Universums der Spiegel der größeren sein sollen. Die Bilder von Ruinen und Zement, die ich in dieser Art von industrieller Archäologie vorschlage, sollen einen Zusammenhang mit den Fiktionen von Borges haben. So, wie die Enzyklopädien die Welt durch Wörter ersetzen und gleichzeitig mit diesen Wörtern eine neue Welt erschaffen. In 'TRANS-FICTIONS' suche ich die Übereinstimmungen mit der reflektierenden Oberfläche des 'Aleph', um jene Spiegelung zu entziffern, jenen Punkt im Raum, in welchem sich die Realität und das Abbild finden und sich gegenseitig erleuchten. Die Tatsachen erlangen die Form der Bilder nur, weil sich die Bilder zu Realitäten gewandelt haben." Tomás Ochoa

Literaturverzeichnis

  • Borges, Jorge Luis: Das Aleph. München: Fischer 1992.
  • Borges, Jorge Luis: Fiktionen. München: Fischer 1992.
  • Genette, Gerard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.
  • Haarmann, Harald: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt am Main: Campus 1991.
  • Hofstadter, Douglas R.: Gödel Escher Bach -- ein endlos geflochtenes Band. München: DTV 1991.
  • Lukács, Georg: Theorie des Romans. Darmstadt: Luchterhand 1971.
  • Scholem, Gerschom: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Judaica 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 7-70.
  • Spielmann, Yvonne: Intermedialiät. Das System Peter Greenaway. München: Fink 1994.
  • Weinreb, Friedrich: Wunder der Zeichen -- Wunder der Sprache. Von Sinn und Geheimnis der Buchstaben. Bern: Origo 1979.
  • Weinreb, Friedrich: Zahl, Zeichen, Wort. Das symbolische Universum der Bibelsprache. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978.

Auf der Homepage von Tomás Ochoa sind auch die aktuellen Ausstellungsdaten nachzulesen.