Berlin, 16. Okt 2002_
"Irgendwann ...", droht die Dame am Einlaß, aber sie wagt es nicht,
ihren unheilvollen Satz zuende zu bringen. Irgendwann, hatte sie sagen
wollen, wird euch schwarzgewandeten Schnöseln eure Arroganz schon noch
vergehen. Dabei ging es nur um meine Umhängetasche, die bequem durch die
Schablone paßte und die ich dennoch an der Garderobe abzugeben
hätte. Sie halte sich nicht an die Vorschriften, erwiderte ich
zugegebenermaßen etwas maliziös, und als der jüngere Kollege ihr auch
noch in den Rücken fiel und mich passieren ließ, konnte die
pflichtbewußte Kontrolleurin ihre Wut nicht länger unterdrücken. Daß sie
mir mit ihrem autoritären Ausbruch den Deutungsschlüssel zum Art
Forum Berlin, der alljährlichen internationalen Messe für
Gegenwartskunst, in die Tasche gesteckt hatte, konnten wir freilich
beide nicht ahnen, als ich meinen Rundgang durch die drei Hallen
begann.
Wie so vieles in Berlin hat auch das Art Forum die
ursprünglichen Erwartungen enttäuscht und ist doch auf durchaus
interessante Weise in Bewegung geblieben. Zwar ist die Anzahl der
Teilnehmer, Galerien wie einige Verlage, von 170 im vergangenen auf rund
150 in diesem Jahr zurückgegangen, aber es sind auch 40 Neuzugänge zu
verzeichnen; in gleicher Zahl sind Aussteller aus Berlin
vertreten. Qualitätsadressen wie Michael Hue-Williams aus London, den
man in früheren Jahren hier antraf, fehlen diesmal, während Lisson (mit
zwei schwächeren Kapoor-Exponaten) weiterhin vertreten ist. Wurde in der
Vergangenheit ein Stand wie der von Eigen + Art in der Hoffnung auf ein
neuartiges Profil geradezu gestürmt, so nimmt man die dort ausgestellten
Arbeiten etwa der Brüder Nicolai diesmal gelassener in Augenschein. Aber
das bedeutet nicht, daß Künstler ostdeutscher Herkunft nicht weiterhin
überzeugen könnten, wie die Arbeiten Via Lewandowskys bei Arndt &
Partner belegen.
Irgendwann, erinnere ich mich an die Einlaßdame, werden die Schwätzer
am Mobiltelefon verstummen, wird die Luft nicht länger von Eau
d'Issy verfeinert werden und der Kunstkritiker vergebens einen Weg
aus der kunstkritischen Kritik kunstbetrieblicher Metakritik
suchen... Doch einweilen: So viel Bekanntes! Die Gags, die
Pornoprovokationen, die Digicambilder, Großformatiges
gursky-style... Sogar die eigenen Vorlieben, etwa eine
Zedernholzinstallationen von Carl Andre bei Konrad Fischer (Düsseldorf),
wirken müde. Warum nur ist es so schwer geworden, sich zu begeistern, zu
entdecken, langanhaltende Erfahrungen zu machen? Beinahe möchte man sich
dafür entschuldigen, daß Ed van der Elskens Schwarzweißfotos aus dem
Paris der 50er Jahre (Annet Gelink, Amsterdam) nach wie vor fesseln,
weil sie etwas enthalten, das man früher Seele nannte. Doch ist es nicht
die Fotografie, deren Zustand zu beklagen wäre. Larry Clarks Studien
Drogenabhängiger (Karl Pfefferle, München) bleiben durch ihre Mischung
aus Sexualität und Elend haften, während Joel Meyerowitz' Bucht-Bilder
(Kicken, Berlin) mit suggestiver Farbgebung bestechen. Ebenfalls bei
Kicken irritieren Arbeiten von Michal Rovner, dessen schemenhafte
Nonnenprints jenen Zusammenhang zwischen Bergung und Bedrohung
evozieren, der die Welt des Islam für säkulare Kulturen so unheimlich
macht. Ähnlich verstand es Shirin Neshat auf der Documenta 11,
Kulturen präsent zu machen, die die Folgeprobleme der Aufklärung noch
vor sich haben.
Lange suchen muß man jedoch im Bereich der überkommenen Genres. War
es auf der jüngst zuende gegangenen Documenta gerade die Malerei,
die zu erneuter Erkundung einlud (beispielsweise bei Cecilia Edefalk,
deren Kombination von Portrait und Installation die Innenseite eines
Individuums verlebendigte und zu humaner Begegnung einlud), so finden
sich auf dem Art Forum eher Plastiken von zwingender
Kraft. Anders als bei Edefalk, bei der gerade die Zartheit der Gebärde
auffiel, gehen die überzeugensten Arbeiten auf dem Art Forum den
umgekehrten Weg und versuchen durch Rauhes und Rostiges in festgefahrene
Ausdruckswelten zu intervenieren. So zeigen Haas & Fuchs (Berlin)
einen lebensgroßen Körper aus streichholzgroßen Stahlstäben von Antony
Gormley, bei dem die giacomettiartige Zerbrechlichkeit des transparenten
Torso eigentümlich mit der Härte des Materials und den unkaschierten
Schweißnähten kontrastiert. Die Spannung zwischen organischer Form und
anorganischer Materie kommt jedoch nirgends intensiver zur Erfahrung als
beim Moskauer Künstler Boris Stuchebrukov, dessen amöbenartige Skulptur
aus 22 000 Rasierklingen zu den eindrücklichsten Exponaten dieser
Messe gehört. Auf einem Tisch mit spiegelnder Platte placiert, wirkt das
grauschwarze Etwas zunächst wie ein übergroßes Ungeziefer, das bei
genauerem Hinschauen im Inneren silbern-metallisch zu schimmern
scheint. Zwei weiße Bauwollhandschuhe liegen bereit, um verletzungsfreie
Berührungen zu ermöglichen. Beim taktilen Kontakt zeigt sich, daß das
leblose Wesen dem Druck nachgibt, zurückfedert, bei Verdrehung die
Oberflächenstruktur ändert und sich sogar verformen läßt. So einfach das
gestalterische Prinzip geschickt ineinander gesteckter Rasierklingen
ist, so schwer fällt es, sich der unheimlichen Faszinationskraft dieses
Objektes zu entziehen. Immer wieder erliegen Betrachter dem Widerspiel
von Attraktion und Abstoßung.
Vielleicht bleibt im einem Umfeld, in dem die Menschen schön sind und
das Design innovativ ist, der Kunst nurmehr das Rohe und Rauhe, um die
Reizschwellen zu überwinden. Berlin, diese Stadt voller
Scheußlichkeiten, bietet dafür unter Umständen mehr Raum als andere
Standorte. Und wenn die Drohung der Dame am Messeeingang irgendwo eine
Aussicht auf Verwirklichung hat, dann hier, wo sich Händlerhände
verletzen können und selbst schneeweiße Handschuhe nicht vor Ekel
schützen. Wie weit solche Verstörungen führen und ob sie im Umkehrschluß
unverkünstelter Humanität den Weg bereiten, das ist freilich eine ganz
andere Frage.
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autoreninfo

Dr. Dirk Hohnsträter unterrichtet Literatur, Film und Kreatives Schreiben an der Eötvös Loránd Universität in Budapest. Er ist Absolvent von Ars Dramatica, der Akademie für dramatisches Erzählen in Berlin und verfaßt Drehbücher und Prosatexte.E-Mail: Dirk.Hohnstraeter@gmx.de