Berlin, 28. Apr. 2003_
Nachts kamen die Huren, und schwarze Schlitten parkten auf dem schmalen
Gehweg. Während im Nachbarhaus die Halbwelt Hof hielt, fanden in der
Gormannstraße 25 nicht weniger als 100 Lesungen aus dem Werk des Marquis
de Sade statt: eine Veranstaltungsreihe von 'Juliettes Literatursalon'
in Berlin Mitte. Anders als das Rezitationsritual und die Guillotine
zwischen den Buchregalen vermuten ließen, konnte man diesen Ort durchaus
ohne Gefahr für Leib und Leben betreten. "Juliettes Literatursalon,
Fischer, Guten Tag": Wer einmal gehört hatte, wie sich Inhaber Hartmut
Fischer mit unverwechselbar sanfter Stimme am Telefon meldete, der
wußte, daß die einladende Atmosphäre des Eckhauses nicht trog. Und wer,
wie der Verfasser dieser Zeilen, zu Beginn seines Studiums die Tübinger
Traditionsbuchhandlung Gastl schätzen gelernt hatte, für den war nach
dem Umzug in die Hauptstadt Juliettes Literatursalon die
selbstverständliche Anlaufstätte. Fischer hatte, ebenso wie der
Buchhändler Peter Sühring, bereits bei Gastl den Lesestoff geliefert,
und so manche unvollendete Bestellung wurde gewissermaßen
übernommen. Dazu kam, daß das kulturwissenschaftliche Sortiment und die
Kooperation mit der Humboldt-Universität die neuen Bedürfnisse bestens
bedienten. Alles schien zu stimmen für einen Augenblick: der
Enthusiasmus einer jungen Kulturwissenschaft traf auf einen lebendigen
Salon, über den die florierenden Berliner Blätter munter
berichteten. Kultur hatte plötzlich einen Ort, der Theorie zuließ,
Praxis hervorbrachte und ganz im Einklang mit der neuen Zeit
stand. Während die einen über "andere Räume" nachdachten, machte Hartmut
Fischer kurzerhand eine Existenzform daraus. Daß er damit schon damals
ein wenig mutiger war als wir Stipendiaten, ging einem erst auf, als
eines Tages die letzte Rotweinflasche geöffnet wurde.
Kaum kam mir das Gerücht von der Insolvenz zu Ohren, da eilte ich
auch schon in die Gormannstraße, als ob das noch irgend etwas hätte
ändern können. Obgleich der Ausverkauf bereits seinen Lauf genommen
hatte, begrüßte Hartmut Fischer mich überraschend heiter als sei er bei
aller Bedrückung auch eine Spur erleichtert. Wie immer im tadellosen
Dreiteiler und mit gepflegtem Bart ("Was kickt?", hatte ihn
ein Lifestylemagazin gefragt, und seine Antwort lautete lakonisch:
"Mein Rasiermesser.") empfing der Salonier seinen späten
Gast, aber die Zeit, in der man ihn und seinen Mitstreiter Hendrik Rohlf
für ein Modeshooting gebucht hatte, kam einem nun wie eine weit
entfernte, unbeschwerte Unwirklichkeit vor. Anders als gewöhnlich
ertönte auch keine leise Musik mehr im Hintergrund (bald Miles Davis,
bald zeitgenössische Elektronik), und so war es eigentümlich still beim
Sichten der gelichteten Regale. Solide wie die Bücher, die sie trugen,
war diese Einrichtung gefertigt, doch jetzt konnte man nicht einmal mehr
eine Bestellung aufgeben. Eine solche Beklemmung empfand ich zuletzt
beim Besuch jener Container, in denen nach dem Ende der DDR sorgfältig
edierte Klassiker, gute Übersetzungen und noch kurz zuvor hochbegehrte
Gegenwartsliteratur vor den Toren der Städte verramscht wurden. Was
hatte nicht alles auf diesen Regalen gestanden! Die wunderbare Box mit
Texten von Robert Lax, in der sich überraschenderweise eine
handsignierte Lithographie befand; die CD Reise, Toter. von
Durs Grünbein und Ulrike Haage, die ich gleich mehrmals kaufte; ein Buch
über Berliner Salons, worin sich naturgemäß auch dieser beschrieben
fand; Theaterperipherien: der von Hartmut Fischer selbst
herausgegebene, innovativ gestaltete Band; allerlei kleine Schriften aus
dem saloneigenen Verlag, darunter Peter Braschs Pessoa-Text, der
im Salon selbst entstanden war, als Brasch sich eine Woche lang im
Galerieraum aufgehalten hatte nur mit einer alten mechanischen
Schreibmaschine ausgerüstet ...
Wie so oft, wenn etwas zuende geht, bedauert man im nachhinein, nicht
noch häufiger dagewesen zu sein. So viele Erinnerungen: an Blixa
Bargelds Fotos von Hotelbadezimmern; daran, wie Thomas Brasch noch ganz
mit seinen Shakespeareübersetzungen beschäftigt aus dem Berliner
Ensemble im Taxi vorbeikam (auch die Edition seines Nachlasses gehört zu
den Projekten, die "Juliettes" nicht mehr wird leisten können); an
Hartmut Fischers vergebliche Versuche, mir Hubert Fichte nahezubringen;
daran, wie seine Augen leuchteten, als ich einmal mit der Begründung,
ich wolle lieber selber schreiben, darauf verzichtete, mit dem Segen des
Salons auf die Frankfurter Buchmesse zu fahren. Juliettes
Literatursalon: das waren Bücher, die nach kaltem Rauch rochen, das
waren die winzig kleinen Kassenzettel und ein sehr starker Espresso auf
dem bequemen Sofa, das waren leere Weinflaschen auf den Tischen, wenn
man am Morgen nach einer Lesung durch die Fenster blickte, aber vor
allem war Juliettes Literatursalon ein Ort, an dem die Literatur etwas
zählte, an dem das Ringen um eine Formulierung nicht als
Zeitverschwendung galt. Zahllose zweiflerische Spätnachmittage hat er
gerettet, weil es genügte, einen Fuß in den Salon zu setzen um die
Gewißheit zu erneuern, daß das grundlose Grübeln und die Liebe zu den
Nebensätzen einen Platz haben könnten in dieser Welt.
Ausgerechnet jetzt, wo Hartmut Fischer die Krücken, die er nach einem
schweren Verkehrsunfall tragen mußte, wieder ablegen kann, gehen die
Reserven aus. Daß dieser Ort trotz Buchpreisbindung und halbem
Mehrwertsteuersatz, trotz öffentlicher Bibliotheken, engagierter
Büchertische, großzügiger Öffnungszeiten, verläßlichem und findigen
Bestell- und Lieferservice und einem außergewöhnlichen Programm nicht
überleben kann, ist kein gutes Zeichen. Jetzt geht es nur noch ums
Geld. Wer 210 000 Euro entbehren kann, hätte nicht nur die Schulden von
sechs Salonjahren beglichen, sondern ein weiteres gleich
vorfinanziert. Bankleitzahl 120 400 00, Kontonummer 0232546. Wir danken
für Ihren Einkauf.
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autoreninfo

Dr. Dirk Hohnsträter unterrichtet Literatur, Film und Kreatives Schreiben an der Eötvös Loránd Universität in Budapest. Er ist Absolvent von Ars Dramatica, der Akademie für dramatisches Erzählen in Berlin und verfaßt Drehbücher und Prosatexte.E-Mail: Dirk.Hohnstraeter@gmx.de