Berlin, 11. Nov 2009_ Nach
einem Jahr in der deutschen Provinz, bin ich vor kurzem nach Berlin
gezogen und genieße wieder die Privilegien eines großen Molochs,
arm, aber sexy. Zwar kommen mir Berlins Straßen und Verkehrsmittel
verglichen mit afrikanischen oder anderen ausländischen Metropolen
an manchen Tagen leer -- und sehr leise -- vor, auch die stets
aufgeräumte Regierungsmeile, wo mich das Hinweisschild "Bin gleich
zurück" am Zaun des Kanzlerinnenamts nicht verwundern würde, aber
sonst herrschen in der Stadt eindeutig 24 Stunden Geschäftigkeit und
Coolness eines melting pot, in dem jeder alles schon mal gesehen hat.
In Berlin hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine aufregende
Hybridkultur in Straßen und Clubs entwickelt, getreu der
Leuchtreklame einer Friedrichshainer Ecke "I know I am ugly, but I
glow at night." Alles ist möglich, wenn das Straßenleben mittags
langsam aus den Federn kommt und die Stadt gegen Abend erwacht --
und das ist auch gut so. Heimlich wünsche ich mir manchmal in einem
sentimentalen Anflug, ich könnte mir auf 3D das unzerstörte Berlin
ansehen, wie es heute aussehen würde. Aber dann müsste so vieles
ungeschehen gemacht werden, und nicht erst von Hollywoods
Zeitreisenden wissen wir, dass neues Übel damit nicht verhindert
würde. Also gehe ich an solchen Tagen einfach langsam durch die
Straßen und schaue und höre mir an, was übrig geblieben, was
entstanden ist. Als ich vor Jahren durch Polen fuhr, was sich von
hier aus leicht wiederholen lässt, konnte ich nicht vergessen, wie
laut die Erde dort schrie unter den Leichenbergen. Auch jetzt in
Berlin vergisst mein seismographischer Sinn nicht, unter den
faszinierenden kulturellen Vibrationen von heute die Palimpseste
vergangener Jahrzehnte, politischer Bewegungen, Hoffnungen und
Schmerzen zu entziffern.
Die
Zuschauer in Paris und in Berlin, die den Lumièreschen Kurzfilm
Arrivée d'un train à La Ciotat (1895) anschauten, siehe
http://www.youtube.com/watch?v=2cUEANKv964,
erschraken noch panisch vor den beschleunigten Bildern, die sich
von der Leinwand frontal auf sie zu bewegten. Eine natürliche
Reaktion, die der Philosoph Walter Benjamin später der
"Chockwirkung" filmischer Bilder zuschrieb, die unsere Realität
zersplittern.
Einen
Großteil seines Werks widmete er der archäologischen und
archivierenden Phänomenologie des 19. Jahrhunderts, der
Geburtsstunde der Reproduktionsmedien. Benjamins Methode der
'Versenkung' in Dinge war das vorausschauende Experiment, dem
medialen Fahrtwind ein kollektives Gedächtnis zu entreißen, bevor
er die reale Welt aufsaugen und in digitalen Datenautobahnen
verschwinden lassen würde. Was auch prompt geschah. Irgendwann wurde
die Welt zu Big Apple, Second Life und Nano. Wir sind ins Web gezogen
und das Web ist in Wolken gezogen und gemeinsam flottiert man pausen-
und grenzenlos umher. Nationalstaat, das war gestern. Nur, diese
Nachricht muss erst noch ankommen in der realen Welt, oder dem, was
davon übrig ist. Beispielsweise in Visastellen, Ordnungsämtern und
bei den immer senileren Diktatoren da draußen fern der Wolken, die,
statt Internet, Bildung und Einkommen für alle zu befördern, den
Ausbau dreizehnspuriger Autobahnen zu ihrem Heimatort vorantreiben.
Wer heute kein iPhone und kein GPS hat, wird sich bald im Jetzt
genauso ausgesperrt fühlen wie alle, die jetzt schon ohne Bankkonto
leben müssen. Die Schauspielerin Johanna Wokalek wünscht sich
deswegen im Interview mit der SZ eine radikal neue Konzentration.
"Eigentlich muss man sich Ohropaxe reinstecken und eine Brille mit
Scheuklappen aufsetzen. Nur fokussieren! Damit man sich auch mal
wieder nur zu einer Sache verhält." Eine Überlegung, die heutige
Youngsters vermutlich anmutet wie die Ausscheidungen eines
Dinosauriers.
Aber
darauf ist auch kein Verlass mehr. Denn gut in Schuss wollen
inzwischen auch traditionelle Gremien bleiben, die bislang
unverdächtig so etwas wie Indikatoren der Ewigkeit waren, wie das
Osloer Nobelkomitee. Ihre jüngste Entscheidung -- Friedenspreis für
Barack Obama -- wirkt so, als hätten sich auch diese fünf Juroren
selbst beschleunigt, quasi zur Sonne und zurückgebeamt. Das Komitee
zeigt einen formidablen Antritt, den zuletzt Usain Bolt und der
amtierende französische Präsident hinlegten. "Wow! but ... ?"
So schräg die höchste Auszeichnung für einen erst vor kurzem
vereidigten US-Präsidenten wirkt, der häufig wie sein eigener
Pressesprecher rüberkommt, so unpassend ist sie für den obersten
US-Militär, der gleich an mehreren Kriegsplätzen zu Hause ist. Im
europäischen Kontext wird sie bestenfalls sympathisch als Ausdruck
empathischer Unterstützung für ein Staatsoberhaupt, dessen
kosmopolitisches Auftreten Hoffnung auf eine friedlichere --
gemeint: diskursivere -- Welt aufglimmen lässt. Immerhin, mit Obama
prägt nun ein Vertreter der globalen Community den internationalen
Politikdiskurs, der insbesondere auch mit der Erfahrung seiner
eigenen Cross-border-Biographie spricht. Ein Paradigmenwechsel im
21. Jahrhundert, den der Schriftsteller und Publizist Ilija Trojanow,
dessen Biographie unter anderem vom Leben in Bulgarien, Frankreich,
Deutschland, Indien, Tansania, Kenia, Schweiz ... erzählt, als "rooted
cosmopolitism" (verwurzelter Kosmopolitismus) beschreibt. (Siehe
Ilija Trojanow im Interview mit parapluie.)
Man
darf Kosmopolit/in hier als intellektuelles Synonym für Migrant/in
verstehen, Menschen, deren Biographie in Deutschland jahrzehntelang
und häufig bis heute als Mangel verstanden wird. So treten in
deutschsprachigen Medien im Vergleich zu internationalen
englischsprachigen nur wenige Moderator/innen auf, die aus Familien
mit Migrationshintergrund stammen. Das sieht sogar der DFB anders,
der für die deutsche Männer-Fussball-Nationalmannschaft derzeit
Cacau, Gomez, Klose, Podolski stürmen lässt, neben Özil, Khadir,
Boateng, Trochowski undsoweiter. Parallelgesellschaften überall. Ein
Teil der deutschen Öffentlichkeit ist damit beschäftigt, die
'Potentiale' der über 15 Millionen Menschen im Land, mit
Migrationsbiographie, zu nutzen und Strukturschwächen aufzudecken,
siehe www.berlin-institut.org/studien/ungenutzte-potenziale
-- vermutlich nicht zuletzt auch aufgrund demographischer Zwänge.
Gleichzeitig beschäftigt sich ein anderer Teil lauthals als Dynamo
für den präsenten fremdenfeindlichen Diskurs im Lande, siehe die
verletzenden Äußerungen des Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin in
Lettre International Heft 86. Ach ja, nicht zu vergessen die gekonnte
Slapstick-Einlage des designierten deutschen Außenministers Guido
Westerwelle, der am 28. September 09 einem Reporter der BBC
entgegenstammelte: "Wir können auch gerne mal außerhalb einer
Pressekonferenz uns fabelhaft auch mal zum Tee treffen und dann
sprechen wir nur Englisch. Aber ... ähmm, es ist Deutschland hier."
(Siehe www.wikio.de/video/1731403)
Trotzdem, die positive normative Qualität der Migration wird mit
Verspätung hörbarer, auch dank der literarischen Öffentlichkeit.
Dies gilt zumindest für Berlin; das -- so ähnlich wie Kabul --
nicht das ganze Land repräsentiert. Eine überraschend gute
Neuigkeit war in diesem Jahr der Literaturnobelpreis für die
deutsch-rumänische Autorin Herta Müller, selbst eine verwurzelte
Kosmopolitin und Nomadin, die dieses Thema zur Matrix aller Ihrer
Bücher gemacht hat. Ein weiterer, mit 30 000 EURO dotierter
Literaturpreis wurde zum ersten Mal im Berliner Haus der Kulturen der
Welt Ende September 2009 an einen internationalen Autor im Team mit
seiner deutschen Übersetzerin verliehen, für den Roman Lost City
Radio. Das fulminante Debut des jungen Autors Daniel Alarcón ist
ein gut recherchierter Roman über die Zeit des sogenannten Civil War
in Peru zwischen 1982 und 2000, in der Zehntausende von Menschen
verschleppt, gefoltert, getötet wurden, spurlos verschwanden und
eine brutale Form der Geschichtsumschreibung herrschte,
beispielsweise Ortsnamen zu Zahlencodes wurden. Der 30jährige Daniel
Alarcón reflektiert in seinen bisherigen Stationen eine typische
Biographie des "rooted cosmopolitan" im 21. Jahrhundert: Als
gebürtiger Peruaner und spanischer Muttersprachler lebt er seit
langem in den USA und ist in der Originalsprache seiner Bücher zum
Englischen gewechselt und auch US-Citizen geworden. Zugleich
verbringt er immer wieder längere Phasen in Peru und ist dort
Mitherausgeber eines spanischsprachigen Journals. In seiner
bemerkenswert anregenden Festrede für Alarcón in Berlin, verknüpfte
Ilija Trojanow die Erfahrungen des Exils -- sicherlich der prägenden
Figur des 20. Jahrhunderts -- mit den Erfahrungen der Migration und
sprach mit dem amerikanisch-palästinensischen Denker Edward Said von
der "doppelten Buchführung der Migranten", die sich mit dem
fremden Jetzt beschäftigen, während sie eine fremder werdende
Erinnerung konstruieren. Auch Trojanow konstatiert, dass das "Dogma
behaupteter Homogenität" in Deutschland und Zentraleuropa nicht
länger mehr den öffentlichen Diskurs für sich alleine hat. Ja, es
tut sich was in Heines Deutschland. Das zeigte auch das öffentliche
Interview am Abend der Preisverleihung, als der professorale
Moderator Wilfried F. Schoeller sich mit seinem unangebrachten Ernst
an dem schlagfertigen Alarcón verschnupft verhob. Als Schoeller
Alarcón nach seinen literarischen Vorbildern fragte und dabei eine
Aufzählung der bekanntesten latein-amerikanischen Autoren des 20.
Jahrhunderts nachlud, wusste Alarcón damit ganz selbstverständlich
rein gar nichts anzufangen. Die Frage hätte Anhänger der
Nationalliteraturen in Ehrfurcht versetzt; nicht so den jungen
Polyglotten, der Web und Wolken sein Daheim nennt. Zur Belustigung
aller Anwesenden erwiderte Alarcon auf Englisch, er liebe die Bücher
von Borges und versuche seit jeher zu schreiben wie Borges; leider
stelle er hinterher immer fest, dass es ihm wieder einmal nicht
gelungen sei. Bei ihm komme immer nur "dieses da" heraus. Leider!
Adieu, Hochkultur; unsere Wurzeln sind grenzenlos und so unsere
Literatur, zumindest von unten betrachtet._//
autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller , geboren 1966 in Düsseldorf, ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Eigene Textagentur MEMPLEXX. Autorin, Dramaturgin und Journalistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online-Medien. Von 1993 bis 2004 Redakteurin, Regisseurin und Autorin für SWR2. Von 2004 bis 2008 literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com