Berlin, 13. Mär 2010_ Wie ein Weckruf klirrten in diesem Winter in Berlin die Fahnen, sprachlos und
kalt. Ich erinnerte mich verfroren an Hölderlins "Hälfte des
Lebens" und begann über meine Lebenshälften nachzudenken, die mir bei
jeder Witterung wie Lebenssechszehntel oder zumindest Lebenssiebtel erscheinen.
Dabei erinnerte ich mich vage der euphorischen Tage als auch ich zu den
unverwundbaren Twens gehörte. Wie mir eine gleichaltrige Freundin zustimmt,
waren wir in diesen Jahren unbarmherzig hochmütig, unbelehrbar und
siegesgewiss; bevor uns die Generation Golf nachkam, ebenso unbarmherzig, aber
auch ganz und gar selbstzufrieden und satt. Viele von uns zogen erst einmal ins
Private zurück, wo wir fortan von der Existenz der weiterhin gelben Birnen
träumten, unsere Bibliotheken komplettierten, Bach und Thelonius Monk anhörten,
keinen Fernseher hatten, und von zusammen gewürfeltem Geschirr aßen. Ja, und
stimmt, das tun wir auch heute noch. Und obgleich es keine von uns auf
übermäßige Teilhabe am Weltgeschehen abgesehen hat, passen wir damit wunderbar
in das technologischste und zugleich provisorischste aller Jahrhunderte, in dem
virtuelle Vernetzung und globalisierter Ramsch alles in Bewegung halten. Das
große Provisorium, die Geschwindigkeit von gleichzeitiger Entwicklung und
Verfall, schafft einen Kosmos der Transfomationen, der für mich insbesondere in
den urbanen Zentren weltweit sichtbar ist. Oder wie es Hans Ulrich Obrist, der
Ausstellungsvirtuose aus der Schweiz ausdrückt: Das Neue unserer Dekade ist die
"Polyphonie der Zentren". Obrist macht das an 1989 fest, seitdem
gebe es "nicht mehr nur Westkunst, nicht mehr nur Paris, New York,
London, sondern zusätzlich Peking, Sao Paulo, Warschau, Mexico City, Delhi und
und und." Man könnte auch sagen, seit den 1990ern ist das Fenster vom
Westen aus aufgegangen und die existierende Polyphonie der außer-europäischen
und außer-nordamerikanischen Metropolen wurde sichtbar. Deutlichster Ausdruck
im deutschen Kontext wurde übrigens dafür die Documenta11 in Kassel, 2002, die
von ihrem ersten nicht-europäischen Leiter, dem US-Nigerianer Okwui Enwezor,
und seinem Team auf weltweiten Plattformen und mit einer eindrucksvollen Show
außer-europäischer kombiniert mit westlicher Kunst in ein aufregend polyphones
Erlebnis verwandelt wurde. Sichtbarkeit -- Unsichtbarkeit, in diesem
Begriffspaar mag auch ein Schlüssel zu den jüngsten Auseinandersetzungen über
Kopftücher und Minarette liegen, die in urbanen westeuropäischen Zentren wie
Zürich, Hamburg und Paris und anderswo stattfinden. Wer nicht partizipieren
soll, darf auch nicht sichtbar sein. In multikulturellen Städten wie Nairobi,
New Delhi, Istanbul und sogar Jerusalem hingegen kann man lernen, wie trotz
extremster Auseinandersetzungen unterschiedlichste kulturelle Symbole in den
urbanen Räumen sichtbar gelebt und ausgestellt werden. Politische
Manipulationen und Verteilungskämpfe berühren diesen pragmatischen Konsens
gelebter Differenz häufig nicht; anders in europäischen Städten, vermutlich
weil hier dieser Konsens nicht existiert.
An der Berliner Schaubühne begeisterte in diesem Februar 2010 die Tanz-
und Schauspieltruppe der argentinischen Künstlerin Constanza Marcas mit ihrer
absolut faszinierenden Show "Megalopolis". Mit nur wenigen
Requisiten -- Call Shop, Rohbau, Straßenlaterne, Unterführung,
Satellitenschüsseln --, 2 Screens mit Filmen aus unterschiedlichen Metropolen,
die ohne semantische Zuschreibungen plötzlich ununterscheidbar wirkten, und
überwältigendem Körpereinsatz zwischen roher Gewalt, Alltagsroutine und
Liebesritualen, vermittelte die Tanztruppe ein tiefgehendes Gefühl für die
Ambivalenzerfahrung in den urbanen Zentren heute, in denen die
Lebenstemperaturen stark schwanken, zwischen Hoffnung, Liebe, Abgrund
hin-und-her-pendeln.
Jedes Mal, wenn ich in diesem Winter über die mit Eisplatten überzogenen
Bordsteine der Hauptstadt geschlittert war, freute ich mich über die angenehme
Wärme unserer auch im dunkelsten aller Berliner Winter mit Solarenergie
funktionierenden Heizung, und die warmen Bodendielen unserer Wohnung. Draußen
blieb die berüchtigte Hundescheiße auf den Fußgängerwegen Berlins wochenlang
gefroren, Autos steckten zwangsweise in unüberwindbaren Eiswällen ihrer
Parklücken fest, die Schneerekorde waren in diesem Jahr die höchsten
Deutschlands, der Flugverkehr in Tegel zuverlässiger als am
tiefschnee-erprobten Franz-Josef-Flughafen, überall rasten junge Eltern mit
ihren wunderbaren Kids die Berliner Haine hinunter, und auch die ratternde
S-Bahn fuhr pausenlos durch die verkühlte Stadt, entgegen aller Gerüchte von
Sabotage und Mismanagement, sogar der amtierende Bürgermeister Wowereit kam
irgendwann aus seinem Jahresendurlaub zurück, wappnete gekonnt seine Schuhe mit
Eisen, und landete sicher bei der ECHO-Verleihung am 04. März in den Berliner
Messehallen, um von dort aus Deutschland und die Welt zu grüßen. Nur Robbie
Williams ist charmanter. Alles hätte also in Ordnung sein können, wenn man
darüber hinwegschaute, dass alte Menschen nicht mehr aus ihren Wohnungen kamen,
Krankenhäuser eine Menge Glatteispatienten und die Streudienste nichts mehr zu
streuen hatten. In unverkennbar siegesgewisser Manier, trat schließlich Anfang
Februar Claus Peymann vor seinem Berliner Ensemble mit einem Notruf vor die
Presse -- in etwa so: "Sieht denn niemand die Hunderten von Gestürzten
und Verletzten" -- danach traten die Berliner Grünen wortreich auf den
Plan, aber bevor sich auch noch Sarrazin, womöglich mit neuen Unverschämtheiten
gegen Erwerbslose, zu Wort melden konnte, setzte erst einmal Tauwetter ein und
spätestens der Sturm Xynthia regnete - Anfang März war es da schon - die
altbekannte Hundescheiße, sowie die Reste von Silvester-Böllern und in ihren
Parklücken eingeeisten Autos in Berlin wieder frei.
Witterungs-Transformationen. Vor unserem Haus in Friedrichshain wirkten unsere
Nachbarn hilfreich und hackten das Eis frei, Berliner Selbsthilfe im Kiez blieb
immer noch am zuverlässigsten. Da fiel mir noch einmal Hans Ulrich Obrist ein,
der im Interview mit der SZ vom 27./28.02.2010 auch den Einfall hatte, jeden
als "Kurator seines Lebens" zu bezeichnen. Mit diesem schönen
Gedankenblitz ging mir das Freihacken viel einfacher von der Hand. Mein
Lebenszentrum ist nun der Alex geworden, den ich jeden Tag mindestens einmal
grüßend bewundere. Während für alle anderen Menschen der Alex der Platz am
Alexanderturm neben dem Roten Rathaus ist, nenne ich so den Fernsehturm, wegen
meiner Liebe zu Radiotürmen und zu der Zeit als man im Radio noch 120-Minuten
polyphone Wortsendungen hören konnte. Das ist der Grund, warum ich die
Mitarbeiter unseres Auswärtigen Amtes beneide, die mitten in der Mitte Berlins
arbeiten und von ihren Schreibtischen jederzeit den Alex sehen, der im Winter
manchmal wolkenverhüllt da steht und Mond spielt. "How do you rate the
moon", fragte Robbie Williams beim ECHO aus Berlin. Ob er da auch an den
Alex dachte?
Berlin von oben betrachtet, wirkt imposant und legendär; vom Ausland aus
betrachtet hingegen schrumpft die deutsche Metropole auf Fliegengewicht. Daran
dachte ich im Februar beim Besuch der Universität Tecnológico de Monterrey. Die
wohlhabende nord-mexikanische Industriestadt, gelegen in alpinem Panorama mit
dem legendären Hausberg Cerro de la Silla (Pferdesattel), bringt es locker auf
5 Millionen Einwohner und ist damit eine durchschnittlich große Stadt in der
außer-europäischen Welt. In den Stadtteilen Colonia del Valle and Garza Garcia
leben heute mehr Millionäre als in Beverly Hills. Ein Rekord, über den ich
bereits auf meiner ersten Fahrt vom Flughafen ins Zentrum informiert wurde.
Neben der unvergleichlich lebendigen Hauptstadt Mexico City, ist Monterrey --
auf Deutsch Königsberg -- das zweit-wichtigste Handelszentrums Mexikos, die
Hauptstadt des Bundesstaates Nuevo Leon. Auch der Name Cerro de la Silla geht
auf eine kapitalistische Legende zurück: Angeblich grub einst ein Einwohner
nach einem heruntergefallenen Peso auf dem Bergrücken, solange, bis er ihn
wiederfand; da zeigte aber der Bergsaum eine tiefe Schlucht, die von der Stadt
aus betrachtet dem Bild eines Sattels gleicht. Nachdem die US-Armee 1846 auch
in Monterrey eindrang und die Stadt stark zerstörte, sind die als Gringo
beschimpften Nachbarn nicht mehr so gerne gesehene Gäste, die in der Stadt
trotzdem allgegenwärtig sind. Die enge Verbindung und Konkurrenz zwischen
Mexico-City und Monterrey wird auch in der vitalen Kunstszene der Stadt
sichtbar. Downtown, gleich neben der wuchtigen Kathedrale steht das verspielte,
ebenso großzügige und postmoderne MARCO, Musei de Arte Contemporaneo de
Monterrey, das der berühmte mexikanische Architekt Richardo Legoretta entworfen
hat. Das MARCO überrascht uns mit offenen Räumen, voller Anspielungen und
Überraschungen, frohen, wohldosierten Farbspielen, Luken, Treppen,
Zwischenräumen, viel Licht und Glaselementen. Zu meiner Überraschung mischten
wir uns am Samstagnachmittag dort unter viele einheimische Besucherinnen und
Besucher, von denen die meisten Jugendliche waren. Faszinierend auch der
surreale Blick durch Blauglasscheiben von der oberen Etage auf die flach
hingezogenen Gebäude der Stadt mit südlichem Flair. Die räumlichen
Transformationen des Gebäudes korrespondieren mit den aktuellen
zeitgenössischen Ausstellungen, von denen "Registro 2"
unterschiedliche junge Künstler aus Monterrey vereinigt, die sich mit
Montagen, surrealen Zeichnungen, Filmen und Fotorealismus beschäftigen, geeint
von Schlichtheit und Klarheit ihrer Mittel und dem sichtbaren Verlangen, von
der Polyphonie des urbanen Lebensraums Monterrey zu erzählen. Dazu passen die
parallel gezeigten fantastischen Photoarbeiten des US-Amerikanischen Künstlers
Spencer Tunick. Inspiriert von den Werken der Colección Andrés Blaisten in
Mexico City, einer der größten und wichtigsten Sammlungen moderner
mexikanischer Kunst weltweit, stellt Tunick das Ambiente von Arbeiten aus den
Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bis nach 1945 an ausgewählten Orten in Mexico
City nach und platziert nackte Menschen in der gestellten Szenerie, die er
fotografisch festhält und in zusätzlichen Dokumentarfilmen von der Geschichte
ihrer Herstellung erzählt. Tunicks nackte Körper machen Geschichten sichtbar,
die in Stadt und Kunstwerken verborgen liegen. Polyphone Transformationen der
Stadt sind ohne archäologische Grabungen nicht möglich; ganz gleich ob man auf
der Suche nach einem Peso oder nach dem Sinn des Lebens ist._//
autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller , geboren 1966 in Düsseldorf, ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Eigene Textagentur MEMPLEXX. Autorin, Dramaturgin und Journalistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online-Medien. Von 1993 bis 2004 Redakteurin, Regisseurin und Autorin für SWR2. Von 2004 bis 2008 literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com