Berlin, 07. Jul 2010_ Aschestillstand im europäischen Luftraum, Rettungsschirm
über Griechenland, Schutzschild für den EURO, Rückzug Roland Koch, Ausfall des
fußballdeutschen Kapitäns -- Angela Merkels Chancen als Krisenkanzlerin im
Gedächtnis zu bleiben sind 2010 so gut wie nie. Als geflügeltes Wort gibt es
aus Ihrer Amtszeit jetzt auch noch "den Köhler machen", was soviel
heißt wie, "ich bin dann mal wech". Das Erstaunen, ja Entsetzen
hätte nicht größer sein können, wenn Bundespräsident Horst Köhler verkündet
hätte, er plane nun Familienurlaub mit seiner Familie in Bagdads "grüner
Zone". So aber trat er am 31. Mai "mit sofortiger Wirkung"
zurück, was einen vergleichbaren Effekt zeigte und ein Unikum ist. Berlin war
schockiert, was schon daran klar wurde, dass Merkel ihren abendlichen Besuch
bei der Fußball-Männer-Nationalmannschaft kurzfristig absagte. Wochen zuvor
hatte der aktuelle Ex-Bundespräsident im Deutschlandfunkinterview (DLF) mit
Christopher Ricke versehentlich ausgesprochen, was er und die Regierung für
selbstverständlich halten, aber für gewöhnlich nicht erwähnen: Wirtschaftlich
sind die wesentlichen Ziele bei den Kriegseinsätzen der Bundeswehr, die durch
Rot-Grün wieder ins politische Inventar der Bundesrepublik aufgenommen wurden.
Die Redaktion im DLF Köln fand die entscheidende Passage vermutlich sogar
zunächst so wenig bemerkenswert, dass am 22. Mai eine Fassung ohne gesendet und
online gestellt und erst -- nachdem Blogger und Online-Dienste aktiv geworden
waren -- am 27. Mai mit dieser Passage ausgestrahlt wurde. Köhlers Ausruf
ähnelt dabei der kindlichen Märchenformel: "Aber der Kaiser ist doch
nackt!"; nur, im aktuellen Fall schwoll ein Chor der Empörung an, der
sich gegen den Plauderer richtete, der gerade noch in strahlender
Urlaubsstimmung mit seiner Gattin von Afghanistan nach Berlin gereist war.
Aber eine Krise kommt selten alleine, und die fast zeitgleiche israelische
tödliche Attacke auf einen Gaza-Anti-Blockade-Konvoi mit Zivilisten ließ
Köhlers Paukenschlag sofort verkümmern, während die gähnende Leere im Schloss
Bellevue schon mit den üblichen Personalvorschlägen aufgefüllt wurde. Dabei
klafft inzwischen unübersehbar groß ein Canyon zwischen Bevölkerung und
Berufspolitikern, die nichts anders anstreben als beim Präsidentenroulette ihr
politisches Stammpersonal zu installieren, wie amtierende Minister von der
Leyen oder Schäuble, die voraussichtlich ihre Rhetorik besser kontrollieren.
Reality kills diversity.
In meinem Berliner Fitness-Studio trainieren wir vor zahllosen
Flachbildschirmen mit sich ähnelnden TV-Programmen, während davon abgekoppelt
im Ohr Musik vom iPod läuft. Wie im Aquarium. Nach Jahren im Ausland ohne
Glotze kommt es mir dabei immer so vor, als sei ich gar nicht fort gewesen.
Moderatoren, Formate, Politikerköpfe, Talkshowgäste und Inhalte wirken wie aus
den späten 90er Jahren: eine ewige große Koalition, bei der ab und zu die
Ampelfarbe wechselt. Allein beim deutschen Fußball wirkte zuletzt ein
Rotationsprinzip, das in der Politik grüner Schnee geblieben ist. Nun reist
das Männer-Team im Juni 2010 mit dem jüngsten Kapitän, dem jüngsten Mittelfeld,
dem jüngsten Keeper zur Weltmeisterschaft an. Sicher ist schon jetzt, da werden
sie ihre Erfahrungen machen und werden sich bei nächster Gelegenheit einiges
mit der Kanzlerin zu erzählen haben. Vielleicht nicht ganz so wie mein Masseur,
der neulich seinen Fernseher auf den Hof schmiss, und nun von der GEZ verfolgt
wird, die ihm nicht glaubt. "Da will ich jetzt eine Erfahrung
machen", meint er zu mir und hat listig den Dialog mit der GEZ
aufgenommen, noch bevor der Vorschlag von Kulturstaatsminister Neumann in der
letzten Maiwoche die Runde macht, der die Gebühren für alle
öffentlich-rechtlichen Programme zukünftig automatisiert über die Quoten
evaluieren will. Tja, dann blieben TV-Muffel von der GEZ unbehelligt und das
Öffentlich-Rechtliche könnte seine paar verbliebenen dokumentarischen und
journalistischen Sendungen ganz einsparen. Hey, vielleicht wäre es ja auch eine
gute Idee, Welt- und Europa-Meisterschaften in jährlichem Wechsel stattfinden
zu lassen, um Quoten und Umsatz zu steigern -- sozusagen Gewinnmaximierung
durch Leerkäufe. Ähm ...
Vor der Weltmeisterschaft in Südafrika aber haben deutsche Medien ganz
andere Sorgen; plötzlich gilt die Aufmerksamkeit einem Kontinent, der in der
Berichterstattung sonst nur bei exklusiven Jahrestagen ins Programm genommen
wird; beispielsweise hundert Jahre Afrikakonferenz, Todestag Patrice Lumumba,
Nobelpreis Nelson Mandela, Auftakt internationales Tribunal gegen Charles
Taylor oder auch wenn mal wieder ein paläontologischer Knochenfund in die Wiege
der Menschheit einzuordnen ist. Jetzt aber soll dem Publikum noch schnell vor
dem ersten Anstoß verklickert werden, dass Afrika -- ja, was denn, na, auf
jeden Fall ganz anders ist. Die Süddeutsche Zeitung widmet in ihrer
Wochenendausgabe vom 29./30. Mai 2010 eine Doppelseite dem "neuen
Afrika", das angeblich seine ganz eigene Moderne lebt und
-- wow -- ganz "revolutionär" ohne Festnetz gleich ins
Handyzeitalter durchgestartet ist. Natürlich, das Bild vom "Herz der
Finsternis" und der Hinweis auf den erfolgreichen Exportschlager
Afropop fehlen ebenfalls nicht. Die hier aus gutem Grund entdeckte Modernität
und Vielfalt Afrikas hatte die Wochenendausgabe fünf Wochen zuvor in einem
Artikel zur "Bilanz des Schreckens" der mobilisierten Truppen
und Gefallenen des Zweiten Weltkriegs weltweit noch ignoriert. Wie üblich --
und doch unglaublicherweise -- wurde ausschließlich Südafrika als vom Zweiten
Weltkrieg betroffener afrikanischer Staat in die Statistik aufgenommen.
Vielleicht war da jemand in Gedanken schon bei der WM? Auch in der taz
spricht weiterhin das "alte Europa", wenn am 28.05.2010 Michael
Ringel unverhohlen rassistisch von "der Afrikaner" schreibt und
-- absurderweise -- ernsthaft behauptet, "Afrikaner können keinen
Fußball spielen". Wie kommt es nur, dass sich europäische
Berichterstatter bis heute vielfach auf vage Behauptungen und Klischees
stützen, wenn sie über afrikanische Gesellschaften reden? Immerhin in Le
Monde diplomatique vom Mai 2010 wird ein anderer Ton hörbar, im Text über
Afrikanische Existenzgründer in China, aus Guinea, Kenia, Nigeria, Kongo,
und das steigende bilaterale Handelsvolumen zwischen China und
afrikanischen Handelsgemeinschaften, das im Jahr 2008 bei 106,8 Milliarden
Dollar lag. Gehen ja doch zusammen, Alltagsrealität und
Berichterstattung.
"Reality kills the video star!" Gut möglich, denn das Web 2.0
hat ja Textproduktion und neue Jugendsprachen angeregt. Eine neue
Vielseitigkeit, denn vor allem Einseitigkeit schadet dem Bildungs- und
Realitätsniveau; sprich: Zehn Stunden ausschließlich Internet-Chat oder
Shakespeare-Lektüre gleichen sich. Ein bisschen digitales "Guitar
Hero" kombiniert mit ein paar realen Klavierstunden entwickeln prima
Koordination, Reaktionsschnelligkeit und Gefühlssicherheit bei Kindern. In
China werden seit einigen Jahren Jugendliche, die in den Augen ihrer Eltern
internetsüchtig sind, in Militärcamps verschlossen. Im Internet kursiert
bereits das IAD "Onlinesucht", Diagnostisches Handbuch zur
Internetsucht. Während ich noch darüber nachdenke, gegen welche
Realität diese Eltern ankämpfen und ob sich hier nicht auch ein massiver
Generationenkonflikt verbirgt, stoße ich bei Karin Steinberger, SZ
29./30.05.2010, auf das weltweit verbreitete "Cyberbullying", bei
dem Kinder im Internet Kinder mobben; nicht selten mit tödlichem Ausgang. Einen
Augenblick lang kommen mir Realität und virtuelle Welt ununterscheidbar und
unkontrollierbar vor. Alles scheint zu expandieren -- aber wohin? Diese rein
rhetorische Frage stellte vor kurzem auch Franz Beckenbauer im Pay-TV mit
Hinblick auf die neuesten Trends in der Fußballwelt. Übrigens, tatsächlich
gehören Beckenbauer und Oliver Kahn zu der Handvoll Deutsche, die im China des
21. Jahrhunderts berühmt sind. Als ich im März 2010 zum ersten Mal nach China
reise, betrachte ich vor einem Universitätsgebäude in Wuhan zudem monumentale
Porträts von Humboldt und Goethe. Parallelzeiten. Wir treffen unter anderem
junge Akademiker und Geschäftsleute, Mittzwanziger, für die die Kommunistische
Partei so etwas wie ein Branding aus lang vergangenen Zeiten ist. Solange man
den Machtapparat nicht kritisiert und sich nicht mit ihm anlegt, spielt die
Partei eher keine Rolle im Denken und Alltag der aufstrebenden Jugend in den
urbanen Landesteilen. So wie in deutschen Städten; solange mein smart phone den
tollsten Klingelton und praktische Apps hat, blende ich aus, dass es
beispielsweise bei Foxconn im chinesischen Shenzen produziert wird, wo die
Fabrikarbeiter militärischem Drill und kalkulierten Überstunden bei
Hungerlöhnen ausgesetzt sind.
Neben glitzernden Fassaden und farbenfrohen Lichteffekten in chinesischen
Handelsmetropolen, treffen wir in Universitäten in Wuhan und Beijing auf
Medienwissenschaftler, deren akademische Karrieren häufig an Top-Universitäten
in den USA und China verlaufen. Sie sind neugierig auf ihre eher seltenen
deutschen Gesprächspartner, und den Vortrag meines Kollegen, der die
globalisierte Medien-Entwicklung und zunehmend einflussreiche Interaktion der
User analysiert. Das ist ein zentrales Thema für chinesische Urbane. Einige der
populärsten westlichen "social networks" sind zwar im ganzen Land
blockiert und klassische Medien noch staatlich kontrolliert. Aber es gibt
eigene chinesische soziale Plattformen -- siehe beispielsweise
"QQ" -- und der dynamische Markt der digitalen Medien wird in der
Regel von privaten Unternehmern betrieben. Mehrmals sprechen uns Studierende
auf das Konzept des "social advertising" an - soziales Engagement
und nachhaltige Produktionsbedingungen als Werbe-Tool werden von der
Zivilgesellschaft Chinas unterstützt und erweisen sich zunehmend als
erfolgreiche Alternative in einem user-orientierten Markt, in dem klassische
Werbeslogans wirkungslos verpuffen. Nicht nur in China, aber auch dort sind die
"Parallelgesellschaften" der globalisierten Welt ohne weiteres
sichtbar. Während des Baubooms der letzten Jahrzehnte entstanden gigantische
Metropolen, in denen inzwischen nur noch Superreiche Immobilien mieten oder
erwerben können; gleich nebenan, mitten im Stadtzentrum, leben Tausende in
eingemauerten Slums. Ein junger Geschäftsmann erzählt mir, er habe
glücklicherweise vor wenigen Jahren ein 2-Zimmer-Apartment für umgerechnet etwa
70.000 EURO erworben; heute würde die Wohnung ein Vielfaches kosten und wäre
für ihn unerschwinglich. Während beispielsweise in Shanghai wohlhabendere Kids
in poshen Clubs feiern -- und sich bei unvermeidlichen Becherspielen
stundenlang betrinken -- reicht das durchschnittliche Einkommen eines Arbeiters
zum Überleben in der Stadt nicht aus. Arbeit poor, auch hier.
Der britische Politologe Mark Leonard beschreibt in seiner brilliant
recherchierten Analyse des heutigen China (What does China think?,
HarperCollins 2008), wie die chinesische Regierung seit Anfang der 1980er Jahre
anfing, gezielt marktwirtschaftliche Parallelgesellschaften aufzubauen, um
zweigleisig und kontrolliert den Prozess auswerten zu können. Eine pragmatische
Strategie für die riesige Volksrepublik. Dabei entstanden zwei Gegenbewegungen,
die auf ambivalente, ja fast experimentelle Weise die Politik und das
Alltagsleben in China seit dem "Kulturfieber" der 1980er Jahre
bestimmen, und die, so Leonard, die eigentliche Matrix der Tiananmen Tragödie
von 1989 bilden: "Nach dem Blutbad spalteten sich die Reformer in zwei
Lager: in eine 'Neue Rechte' und eine 'Neue Linke'.
Die 'Neue Rechte' wird von Denkern wie Zhang Weiying geführt, sie
betrachtet die freie Marktwirtschaft als wichtigstes Ziel und ist bereit, sich
mit dem politischen Autoritarismus zu arrangieren. Die 'Neue
Linke' wird von Wissenschaftlern wie Wang Hui geführt und setzt sich zu
Lasten des absolut freien Marktes für mehr Gleichheit und politische Demokratie
ein." (deutsche Ausgabe 2009). Atmosphärisch symbolisieren für mich bei
meinem ersten Aufenthalt die beiden unter Ausländern bekanntesten Städte Chinas
diese Ambivalenz. Einerseits Shanghai, südliche Handelsmetropole, Hafenstadt
und aktuelle Expostadt 2010, und andererseits Beijing, Stadt des Nordens und
würdige Hauptstadt. Meine chinesischen Bekannten erzählen mir, Chinesen in
Shanghai handelten rein marktorientiert und scherten sich nicht viel um
traditionelle Netzwerke; in Beijing hingegen sei es schwieriger und
langwieriger ins Geschäft zu kommen und traditionelle Netzwerke besäßen eine
profunde Bedeutung für die Zusammenarbeit.
Im verschneiten Beijing waren im März kaum europäische Touristen unterwegs.
Dafür waren auffällig viele Besucher vom Land in der Stadt, die zum jährlichen
Nationalen Volkskongress der Partei angereist waren und sich auch die
"Verbotene Stadt" und umliegenden Parks anschauten. Während dieser
Woche blieben die Kneipenviertel Beijings abends leer, als ob ein power cut
eingesetzt hätte. Bloß, wer spielt und trinkt schon gerne, wenn Big Brother
zuschaut. Reality kills the remote control. Diesen Realitätstest haben Bewohner
Beijings ganz pragmatisch bestanden._//
autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller , geboren 1966 in Düsseldorf, ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Eigene Textagentur MEMPLEXX. Autorin, Dramaturgin und Journalistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online-Medien. Von 1993 bis 2004 Redakteurin, Regisseurin und Autorin für SWR2. Von 2004 bis 2008 literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com