Berlin, 17. Aug 2010_ Anfang
August leeren sich in Berlin, so wie in Paris, London, Moskau
oder New York, die Büros und Straßen und zurück bleiben Singles,
Paare ohne Kinder in schulpflichtigem Alter, verarmte Menschen und
Touristen, die andere Metropolen verlassen, um in Berlin Urlaub zu
machen. Warum auch nicht. Die Schlangen vor dem Reichstag erreichen
Rekordmarken und ab und zu kann man auch jetzt noch eine Demo
beobachten, im August gerne zu einem Thema wie: "Feiern ohne Ende!"
Auch in Berlin bleibt Meinungsfreiheit natürlich selbst bei
Hitzegraden ein hohes Gut. Mir sind die langen Sommerferien meiner
Düsseldorfer Kindheit noch gut im Gedächtnis. In meiner Erinnerung
waren sie immer sonnig, völlig unbeschwert und schienen nie zu Ende
zu gehen. Meine Eltern verreisten mit allen Kindern, Hund und Oma im
kleinen Audi 60 aufs Land in Bayern, wo wir in Schweineställen
Verstecken und auf stacheligen, frisch geheuten Feldern Fußball
spielten. Daheim bevölkerten sich derweil die Campingwagen, die --
aus mir bis heute unerfindlichen Gründen -- unsere holländischen
Nachbarn ganzjährig am Unterbacher See parken, um dann im Sommer auf
dem kleinen Baggersee zu segeln, Enten zu beobachten und sich auf
einem öffentlichen FKK-Strand auch in Westdeutschland freizügig zu
zeigen. Letzteres sehr zum Missfallen meiner Eltern, die,
aufgewachsen im Kriegsdeutschland, ihren Nachbarn und Bekannten
höchst ungerne nackt einen "Guten Tag" hätten wünschen wollen.
In diesem August erinnere ich mich wieder häufiger an längst
vergangene Sommerfrische; beispielsweise auf dem Weg zum Müggelsee
hinter Köpenick, wohin man fast ununterbrochen der Spree folgt und
verschiedentlich an alten Holzvillen mit ausladenden Veranden und
Bauerngärten vorbeiradelt, die Assoziationen an Fontane oder
Hauptmann wecken. Eines aber muss ich heute revidieren: Sommerferien
enden immer -- und das ist auch gut so. Beispielsweise auch für die
gegenwärtige Bundesregierung, deren Vize-Kanzler sich am 12. August
dieses Jahres mitten im fast ministerfreien Regierungsviertel
möglicherweise in etwa dachte: "It's a lazy day and I am out to
have fun", und prompt seine erste Kabinettssitzung als
18-Minuten-Kanzler Deutschlands leitet. Warum nicht. Merkel ist
gerade in Südtirol, und es geht um den Führerschein ab 17 und,
außerdem, um das "Maß von Verantwortung, und zwar Tag und Nacht,
wie sich das nur wenige ausmalen können". Okay, Du hast gewonnen,
hätten wir als Kids gesagt. "I am sitting back in my lounge chair,
stone cool max. It's just a lazy day."
So tiefe, verantwortungsbewegte Gedanken konnte ich selbst mir in den
vergangenen Wochen gar nicht machen, während ich nächtens damit
beschäftigt war, die sechzig Stunden der US-amerikanischen
Fernseh-Serie The Wire (2002-2008) anzuschauen, die ich mir auf
Umwegen besorgt hatte. Die DVDs gibt es bisher käuflich noch nicht
in Deutschland, dank des global gesteuerten
Video-Vertriebsschlüssels. Vielleicht, übrigens, hat sich auch die
rechtslastige US-Radiomoderatorin Laura Catherine Schlessinger The
Wire angeschaut, bevor sie in ihrer Sendung am 18. August 2010 elf
Mal das N*word ausrief und anschließend ihren Job los war.
Wahrscheinlich aber hatte sie sowieso vor, in Rente zu gehen und
ihren passenden Abgang gefunden. Jedenfalls, in der inzwischen schon
legendären Serie, die milieugetreu in Baltimores verschworenen
Politik-, Polizei- und Drogenzirkeln spielt, geschrieben von dem
ehemaligen Baltimore-Journalisten David Simons, wird dermaßen
Street-Slang gesprochen, dass selbst urbane Amerikaner
englischsprachige Untertitel einschalten, bis ihr Wortschatz ergänzt
ist und sie alles weitere ohne Hilfsmittel verstehen. In einer
minutenlangen Szene, in der die beiden Polizisten McNulty und Bunk
einen alten Tatort aufs Neue inspizieren und aufregende Indizien
finden, wird die Bestandsaufnahme verbal sogar ausschließlich mit
F*words bestritten. Tja, warum nicht; letztendlich wird der Fall
aufgeklärt. Eine meiner Lieblingsszenen hingegen spielt in einem
Supermarkt, in dem McNulty privat ist und gemeinsam mit seinen beiden
kleinen Söhnen einkauft. Da erkennt er in einem anderen, harmlos
wirkenden Supermarktkunden den Drogendealer Stringer Bell, der sich
seit Jahren geschickt polizeilicher Überwachung entzieht. Spontan
bittet der Polizist seine beiden Kinder zum Räuber- und
Gendarm-Spiel und ermuntert sie: "Follow this nigger there!"
Sofort erwidert sein älterer Sohn empört: "Dad! You've got to
say African-American!", was McNulty zerknirscht eingesteht. Nun,
ja, der Kontext spielt die ausschlaggebende Rolle und trägt
Erhellendes dazu bei, warum Laura Schlessinger in amerikanischen
Medien nicht einfach Slangworte benutzen kann, die sich in ihrem Mund
in einen rassistischen Irrtum, in Hate Speech verwandeln.
Milieugebundener Gruppenslang sanktioniert nicht die Verwendung
derselben Ausdrücke in milieufremdem Kontext; beim Transfer von
Milieu zu Milieu wird der Slang vielmehr umgewertet, fremd, unpassend
bis offensiv und diskriminierend. Schlessingers hartnäckig
nachgeschobene Ausrede, "I don't get it. If anybody without enough
melanin says it, it's a horrible thing; but when black people say it,
it's affectionate." ist total out. Nur ihr dahingesagtes
Eingeständnis, "I don't get it", ist zutreffend.
"I don't like your style, so check it!" Ich bin mir sicher,
dies oder ähnliches hätte neulich eine Freundin eigentlich gerne in
ein Berliner Amt in Charlottenburg hineingerufen, als sie einen neuen
Pass für ihr in England geborenes, inzwischen 4-jähriges Kind
deutscher Nationalität beantragen wollte. Ihr wird mitgeteilt, das
Amt in Berlin, Deutschland, sei nicht zuständig. Auf ihre Nachfrage,
was sie denn jetzt tun solle, wird ihr knapp beschieden, "Rufen Sie
England an!" Ja, gern, welche Nummer haben die gleich noch? Oder
auch ein Freund, bei dem ein anderer Beamter in Kreuzberg insistiert,
dass Cairo in Indien liege. Ähmmm, entweder an der Pisa-Studie ist
was dran, oder aber bei dieser Form von amtlicher Ignoranz handelt es
sich um ein spezifisches Berlin-Phänomen, nachdem die Stadt sehr
lange in einem Inselstatus lebte und erst nach und nach wieder als
Hauptstadt einer globalen Wirtschaftsmacht aufwacht. Da sehen wir ein
ganz handfestes Wolkenkuckucksheim, in dem alles möglich ist; das
heißt übersetzt, solange die Welt hierher kommt, kann man Längs-
und Breitengrade anderer ruhig mal vernachlässigen. Ob das auch
damit zu tun hat, dass in der multikulturellen Metropole weiterhin
wenig industrielle Produktivität existiert, aber ein riesiger
Beamtenapparat, daneben eine dynamische Kreativindustrie? Jedenfalls
pulsiert die Stadt wie ein lebendiges Palimpsest, in dem sich täglich
Orte, Milieus und Slangs auf der Matrix historischer Ruinen
entwickeln und neu vernetzen. Ein fantastischer Organismus. So
ähnlich wie beim Cloud-Computing, ja, ganz Berlin ist eine Wolke,
oder wie man in Baltimore, Maryland, sagt, "It's all in the f*ing
game".
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autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller , geboren 1966 in Düsseldorf, ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Eigene Textagentur MEMPLEXX. Autorin, Dramaturgin und Journalistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online-Medien. Von 1993 bis 2004 Redakteurin, Regisseurin und Autorin für SWR2. Von 2004 bis 2008 literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com