Berlin, 03. Okt 2010_
Tritt man in Berlin vor die Tür oder in eine U-Bahn, so trifft man
unweigerlich auf zahllose freilaufende Hunde und ihre Halter, die
alle mich, ohne solchen Anhang, keines Blickes würdigen. War ich
anfangs hin und wieder verschreckt, und sah im Geiste antizipierend
einen rotäugigen Bullterrier wuchtig auf meine Halsschlagader
zielen, so sehe ich heute diesen wuselnden Rudeln gelassen entgegen.
Nicht ohne Grund, denn, erstens bewundere ich inzwischen ihre
lautlose Geschmeidigkeit im Berliner Stadtverkehr, wo es ohne
Kläffen, Knurren, Anspringen zugeht, und, zweitens, bin ich in
blitzschneller Kickbox-Verteidigung trainiert. In anderen Städten
und Ländern fällt mir hingegen nun regelmäßig auf, wie
ungebändigt und laut sich ortsansässige Vierbeiner verhalten und
gerade freilaufend nicht selten zu gefährlichen Aliens werden, die,
wie ich im italienischen Bari beobachtete, auch mal kleine Kinder
attackieren, oder, wie an der Hamburger Alster, andere Hunde und
Passanten hemmungslos anbellen. Für etliche andere Zeitgenossen
allerdings, sitzen die Aliens heute im Web 2.0 und insbesondere den
sogenannten sozialen Netzwerken, in denen allerlei private Daten
verschwinden und unkontrolliert in der globalen Öffentlichkeit
flottieren. Tragische Fälle von Cyber-Mobbing machen dabei offenbar
deutlicher als es die mehrheitlich ja gelingende Kommunikation im
Internet tut, dass auch das World Wide Web ins Reale einschneidet und
Konsequenzen für das wirkliche Leben hat -- so wie alles andere
auch. Das wiederum ist ja sicher auch einer der maßgeblichen Gründe,
warum es so extensiv genutzt und eine prickelnde Plattform aus
demokratischer Intelligenz, kreativer Individualität und kollektiver
Informationsproduktion zur Verfügung stellt, mit allen Vor- und
Nachteilen, die inzwischen erschöpfend analysiert und nachzulesen
sind.
Jedenfalls, pünktlich zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit wurde
die Cyber-Welt auch im Berliner Ballhaus Ost an der Pappelallee auf
die freie Theaterbühne gebracht und dort als fantastische
Wiedervereinigung mit Scott Ridley's legendärem Science
Fictionfilm Alien (1979) in Szene gesetzt. Und, wer erinnert
sich, was stimmte Ridleys Alien milde? Klar, Liebe war's, bis heute
in und außerhalb der Cyber-Welt eine der größten menschlichen
Inspirationsquellen. Weshalb die reale Welt auch immer einen,
zumindest, empathischen Vorsprung behalten wird; so meine Prognose.
Auf Ähnliches zielt auch einer der Ballhaus-Protagonisten: "Ich
habe Angst, dass keiner von meinen Tausend Freunden auf facebook zu
meiner Beerdigung kommt." Ja, das hört sich gar nicht so
unwahrscheinlich an. Besser also, es gibt da noch was anderes.
Nämlich "skin in the game", wie der US-amerikanische
Schriftsteller Jonathan Frantzen im Interview mit der Süddeutschen
Zeitung formuliert (11./12.09.2010), und mit Bezug auf seine Romane
ergänzt, "Kein Leben zu haben, vergiftet das Werk ... die Maske
ist realer als die nackte Wahrheit darunter." Eine Beobachtung, die
auch außerhalb der Literatur gilt, in der realen Welt und im
Cyber-Universum. Es ist die Kombination von Kopf und Herz, Sprache
und Körper, die es uns ermöglicht, unser Leben authentisch zu
gestalten; die nackten Daten und Signifikanten allein spannen keinen
Lebensbogen, bleiben blutleer.
Im realen Berlin werden bei politischen
Groß-Veranstaltungen Straßen in Mitte gerne weiträumig abgesperrt,
dann lamentieren die Taxifahrer, Taxigäste nehmen teure Umwege in
Kauf, alle einheimischen Bewohner fühlen sich als Zuschauer eines
touristengefluteten Hauptstadt-Museums und verlieren kurzerhand das
Gefühl dafür, ob sie sich gerade in Google Street View oder ihrer
realen Stadt aufhalten. So schlimm kam es am diesjährigen 03.
Oktober aber nicht, weil ja die offizielle Hauptfeier zu 20 Jahren
Deutsche Einheit turnusgemäß in Bremen stattfand. Anfangs dachte
ich schon, auch die Bremer Organisatoren hätten sich das Stück im
Ballhaus Ost angeschaut. Die Feier begann mit der Einspielung einer
durch unser Weltall schwebenden Raumkapsel, aus der merkwürdig
schwerelos schlingernde Grußkarten russischer und US-amerikanischer
Kosmonauten ins Nirgendwo zu segeln schienen. Auf alle Fälle ein
unverwechselbarer Auftakt mit Symbolkraft für internationale
Zusammenarbeit Deutschlands und innovative Technikorientierung des
Stadtstaates an der Weser, wo offenbar Teile des gezeigten
Space-Programms gefertigt werden. Größeres Aufsehen erregte danach
nur noch Deutschlands jüngster amtierender Bundespräsident,
Christian Wulff, mit seinem expliziten Bekenntnis, auch der Islam
gehöre heute zu Deutschland wie das Christentum und das Judentum,
und er sei der Präsident alle Deutschen, also auch der deutschen
Muslime. "Wow", hätte man vor einiger Zeit vielleicht noch
gedacht oder auch gesagt, der traut sich aber was, indem er uns hier
eine rhetorische Tautologie, also eine Selbstverständlichkeit,
mitteilt. Dieser Gedanke hätte sich dann noch verstärkt, wenn man
beispielsweise, wie ich seit kurzem, die brillianten Abhandlungen des
britischen Gelehrten Richard Dawkins kennt, der unter anderem in "The
God Delusion" 2006 analysiert, warum und wie religiöse
Partikularinteressen in post-modernen westlichen Gesellschaften immer
noch zentrale politische Entscheidungsprozesse mitbestimmen oder
gänzlich bestimmen. Dawkins zeigt auch, inwiefern es sich dabei um
irrationale Kriterien handelt, die mit ihrem Hegemonialanspruch
sozialen und gesellschaftlichen Frieden bedrohen und zerstören.
Weltweit beanspruchen Religionen für sich bis heute erfolgreich
einen Freibrief für irrationale Botschaften, die nicht hinterfragt
werden dürfen -- was sonst in unseren angeblich säkularen
Gesellschaften eher selten akzeptiert werden dürfte.
Nichtsdestotrotz, oder vielleicht auch gerade, weil sich nur wenige
Religionsskeptiker und Atheisten aktiv zusammenschließen: Religiöse
Feindbilder dominieren neuerdings wieder gesellschafts-politische
Diskurse und Wahlpropaganda weltweit, so als ob sich gerade die
Informationsgesellschaft vom Prinzip des Säkularismus verabschieden
wollte. Ob das mit folgender Gleichung zu tun hat: Die unübersehbare
Menge an Daten in den digitalen Medien gebiert ein Vakuum an
Orientierung und Identifikationsangeboten? Oder, 20 Jahre nach dem
Zusammenbruch der sozialistischen Länder wirken erst jetzt die Risse
und werden mit Feindbildern politisch instrumentalisiert? Jedenfalls,
als Fakt muss unter anderem gelten, neuerdings geht die Schweiz gegen
Minarette vor (29.09.2009), Belgien (30.04.2010) und Frankreich
(14.09.2010) verbieten den Gesichtsschleier -- den übrigens in
Frankreich von 5 Millionen muslimischen Bürgern etwa 2.000 benutzen
--, in den USA verweist die Tea-Party offiziell das Prinzip
Evolution ins Reich der Mythen (25.09.2010), um stattdessen auf die
Glaubwürdigkeit biblischer Genesis zu setzen -- die gleichen
Populisten behaupten wahrheitswidrig und hartnäckig, der amtierende
US-Präsident sei ein Muslim, was wohl inzwischen mehr als die Hälfte
der republikanischen Abgeordneten auch glaubten -, und in Deutschland
wird seit dem 23.08.2010 anhand des Buchs des Berliner
Ex-Finanzsenators und Ex-Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin auch
wieder über Angst vor Überfremdung diskutiert. Allein, britischer
Widerstandsgeist und Humor unterscheiden sich auch auf diesem Felde
merklich, so erhob auf der Insel jüngst eine Regierungskommission
das Druidentum zur offiziellen Religion (BBC News 03.10.2010).
Inmitten dieses aufgewühlten
internationalen Gesamt-Szenarios erscheint Wulffs Bekenntnis zu
deutschen Muslimen in ganz anderem Licht und sehr nah am Leben zu
sein. Hiermit mag er zwar auch (s)ein wichtigstes Thema gefunden
haben, indem er selbstbewusst und klar einen gesamtdeutschen und
zeitgemäßen pluralistischen Blick auf das multikulturelle
Deutschland heute richtet. Wichtiger scheint aber, dass der oberste
deutsche Repräsentant die Bundesrepublik als europäische
Einwanderungsgesellschaft definiert, in der endlich auch öffentlich
um Integration und Migration gerungen wird. Die Deutsche Einheit im
Jahr 2010 ist eine europäische Geschichte und darf die innere
soziale Einheit nicht mehr vernachlässigen. Das vermutet auch die
ostdeutsche Autorin Jana Hensel: "Jetzt erst schießen bestimmte
Brucherfahrungen hoch, die vorher von Ost-West-Diskussionen zugedeckt
worden sind." (ARD 03.10.2010)
Solch nachdenkliche, ja subtile Gedanken, sind nicht Sache des
holländischen PVV-Führers Geert Wilders und seinesgleichen. Einen
Tag vor den Feiern zum Tag der Deutschen Einheit hielt Wilders am
02.10.2010 auf Einladung der Berliner Freiheitspartie des
Ex-CDU-Abgeordneten René Stadtkewitz eine Rede vor etwa 500
Besuchern des bürgerlichen Spektrums, wohlgemerkt als Gast in der
deutschen Hauptstadt (Spiegel Online 02.10.2010). Mit Sprüchen wie
"Islam ist der Kommunismus der Gegenwart" begeistert er sein
Publikum -- in Berlin offenbar gleichfalls mit Angriffen auf die
deutsche Kanzlerin, gleich vor der Haustür ihrer CDU-Zentrale. Wäre
man unter den offenkundig erhitzten Zuhörern, würde man sich
unweigerlich fragen, bin ich oder ist er da das Alien? Aus nüchterner
Distanz hingegen, fragt man sich bloß, ist da jemand verrückt
geworden? Nur, das mag vielleicht einzelne Intellektuelle und
Forscher sprachlos machen, die seit den 1970er Jahren das Verhältnis
zwischen Islam und Post-Moderne, zwischen eurozentristischen und
dekonstruktivistischen Denk- und Politik-Strategien präzise
analysiert haben. Man denke nur an Edward W. Saids aufschlussreiche
Abhandlung "Orientalism" über westliche Konzepte und Klischees
des Orientalismus (1978). Aber das wäre weit übers Ziel hinaus
geschossen; die Rhetorik der neuen Rechten speist sich aus
einfachsten Ressentiments und neupolierten Verallgemeinerungen, die
Migranten und vor allem Migranten mit islamischem Hintergrund zum
neuen Feindbild erheben. Immerhin, Künstler und Aktivisten reagieren
darauf inzwischen zeitnah mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen, die
im Web gleich weltweit zugänglich sind. Neuerdings ist
beispielsweise das Video "Die Schleierschlampen laufen durch Paris
/ Niqabitch secoue Paris" auf Vimeo (http://vimeo.com/15104826) zu
sehen, das das landesweite Schleierverbot ironisch kommentiert. Und
tatsächlich, Entschleierung -- Verschleierung, kulturelle
Kleidungsgewohnheiten sind komplexe Rituale und eben keine homogenen
Ausdrucksweisen, und die Konzentration auf den Schleier sollte nicht
unseren Blick auf Kulturen verengen.
Im deutschen Kontext hat Thilo Sarrazin
sein Thema im Polarisieren gegen das Fremde gefunden und äußert
sich despektierlich über deutsche Muslime, deren Herkunft er aus dem
"Morgenland" deutet. Wenn man bedenkt, wie differenziert im
heutigen Europa Identitätsprozesse betrachtet werden und werden
können, staunt man nicht schlecht über die ungebrochene Anwendung
eindeutiger Identitätszuschreibungen und die Verwendung überholter
Begriffe in dem Buch. Längst sind bi-nationale und multi-linguale
Biographien zu alltäglichen Phänomenen in europäischen Städten
geworden. Gegen diese Realität kommt mir Sarrazin vor, wie jemand,
der das Wort "Migrant" buchstabieren kann, aber nicht um seine
Bedeutung weiß. Oder, wie ein kenianischer Linguist mir mal sagte,
"Ein Dorfbewohner ist nicht unbedingt der beste Experte, um sein
Dorf zu verstehen und zu erklären." Trotzdem, das Thema berührt
ein politisches Vakuum, das deutsche Volksparteien bislang gern unter
Ausschluss der Öffentlichkeit beraten haben. Das kann zum Teil
erklären, warum Sarrazins umstrittene Thesen sofort den hektischen
Impuls der Talk-Show-Rotation auslösen und binnen Tagen unter die
Bestseller katapultiert werden. Dabei verpufft diese Diskussion
häufig an der Schallmauer der Rezeptionsgeschichte und seinem
bleiernen Satz: "Das steht nicht in meinem Buch." Pech, denn in
den meisten Fällen, hatten Mitdiskutanten das Buch dann leider nicht
zur Hand oder auswendig parat. Aber, das hindert eine bemerkenswerte
-- oder vielleicht auch nur besonders aktive? -- Anzahl von
Zuschauern nicht, Sarrazin begeistert zuzustimmen, wie jüngst im
Münchner Literaturhaus, wo die mehrheitlich bürgerlichen Zuschauer
weitere Podiumsteilnehmer lautstark stören und nicht aussprechen
lassen (SZ 01.10.2010), so dass sich der anwesende Journalist Peter
Fahrenholz schon an Nazi-Zeiten im Sportpalast erinnert fühlte.
Starker Tobak allerorten, hoffentlich Schnupftabak, der sich schnell
wieder ausspucken lässt...
Eine Frage bleibt noch: Was sagen wohl
beispielsweise Mesut Özil oder Fatih Akin dazu, wenn sie hören, sie
seien Menschen aus dem Morgenland? Um das Thema zu vertiefen, kann
man aber auch, wie Christian Wulff, einfach Johann Wolfgang von
Goethe lesen und mal wieder einen Blick in seine modernen
Islambetrachtungen im "West-Östlichen Divan" werfen -- anstatt,
wie Thilo Sarrazin, willkürlich "Wandrers Nachtlied" als
Quotentest für Integration einzuführen. Der universal interessierte
und inspirierte Goethe lässt sich nicht für kulturelle
Polarisierung gebrauchen. Aber, hier verbirgt sich nur eine der
vielen kleinen Unschärfen und Fallstricke dieser Debatte, die uns
noch länger begleiten wird - und das ist auch gut so. Sonst wären
vermutlich auch so hintergründig witzige Texte wie der des
holländischen Schriftstellers Leon de Winter nicht entstanden, der
in der Parabel "Das Geheimnis der jüdischen Intelligenz" am
08.09.2010 in der Süddeutschen Zeitung erzählt, wie er den Banker
einmal im Zug traf und ihm das Geheimnis der jüdischen Intelligenz
verkaufte, inklusive der Abmachung, das Geheimnis für sich zwar
nutzen zu dürfen, aber den Trick nicht weiter zu erzählen. Und dann
überreichte er Sarrazin eine Heringsgräte, die alle Juden immer bei
sich tragen...
Ja, ja, der alte Traum stirbt einfach
nicht: Gott möge nicht gewürfelt haben und wir lösten alle
Welträtsel und das Leben wäre einfach und klar. Zum Beispiel, weil
wir die Heringsgräte besitzen oder auch das Genom entschlüsseln.
Danach bliebe nur noch eine Frage offen: Was ist der Sinn des Lebens,
wenn es bloß um eine Heringsgräte geht, oder, immer nur genau das
im Mensch drin ist, was in seiner DNA steckt? Na ja, aber soweit ist
es lange noch nicht, wie der US-amerikanische Autor Richard Powers in
The Book of Me feststellt, in dem er über seine Erfahrungen
mit seinem entschlüsselten Genom berichtet, das ihm -- als neuntem
Menschen auf der Erde überhaupt -- 2008 von Wissenschaftlern auf
einem USB-Stick überreicht wird. Auch nach der Lektüre seines
genetischen Schlüssels bleibt für Powers eine einfache Lebensmaxime
maßgeblich: "Nütze Dein Leben, so gut Du kannst." Wir alle sind
Mitautoren am Buch unseres Lebens, aber die Codes und
Entscheidungsräume bleiben beweglich und müssen immer wieder neu
ausgelotet werden. Oder wie Lester Freamon in The Wire sagt:
"Life is what we do while we are waiting for those special moments
which'll never arrive." Also, solange es den großen Lebensplan
zum Glück noch nicht gibt, sind es wohl doch die vielen kleinen
Glücks- und Alltagsmomente, die sich zu einem erfüllten Leben
verdichten. Bis wir uns dann eines Tages Six Feet Under
wiederfinden; aber, ach, das ist ja eine andere Serie.
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autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller , geboren 1966 in Düsseldorf, ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Eigene Textagentur MEMPLEXX. Autorin, Dramaturgin und Journalistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online-Medien. Von 1993 bis 2004 Redakteurin, Regisseurin und Autorin für SWR2. Von 2004 bis 2008 literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com