Berlin, 28. Nov 2010_
Zeitgeschichtliche Analyse und Aufarbeitung verlaufen ja öfter wie
in Zeitlupe und werden von einer Generation an die nächste
weitergereicht. In Deutschland ist es nach 1945 und nach 1989/90 gute
politische Tradition geworden, beim Blick nach vorne immer auch
zurück zu schauen. Deshalb fördert die Aufarbeitung der Geschichte
und Verbrechen der Nazizeit auch nach 65 Jahren noch neue
Erkenntnisse und Dokumente zu Tage. So erschien nun jüngst die erste
vollumfassende historische Studie zum Deutschen Außenministerium in
der Zeit des Dritten Reiches Das Amt und die Vergangenheit.
Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik
(siehe auch
Perlentaucher)
In Berlin sorgte sie für einigen Wirbel und löste mit wohltuend
profunder Tiefe die Multi-kulti-Hysterie der vergangenen Wochen ab.
Erst nach couragierten Hinweisen der
pensionierten Übersetzerin Marga Henseler auf anhaltende Ehrungen
von Altnazis im AA, und durch aufmerksame Weiterleitung von Kanzler
Schröder, beauftragte 2004 der damalige grüne Außenminister
Fischer die monumentale Recherche bei den Historikern Eckart Conze,
Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, die zusammen eine
vielseitige Expertise und produktive Internationalität bei der
Aufarbeitung der NS-Zeit auszeichnet. Die Studie wurde ganz
selbstverständlich fortgesetzt unter SPD-Minister Steinmeier. Ihren
Abschluss fand sie aber nun unter dem FDP-Vorsitzenden und
amtierenden Außenminister Westerwelle, der, unschuldig daran, das
fertige Werk zu präsentieren hatte. Eine feine Herausforderung,
hatte vermutlich die Kenntnis dieser Detailfülle systematischer
Selbstinvolvierung des AA in die nationalsozialistische
Vernichtungspolitik zuvor unter verschiedenen FDP-Außenministern
nicht in die Öffentlichkeit gelangen sollen. Die unterschiedlichen
Interessen mündeten also Ende Oktober in mehreren Veranstaltungen in
der Hauptstadt, fast im Stundentakt, um die Studie öffentlich
vorzustellen. Im Haus der Kulturen der Welt taten dies Fischer und
Steinmeier am 28.10.2010 engagiert gemeinsam. Übrigens, ein Déjà-vu
der Koalition, an die man sich in Berlin immer öfter gerne erinnert.
Im HKW fasste der beteiligte Historiker
Norbert Frei, aus Jena, für die vierköpfige Kommission und ihr Team
das Ergebnis in einem Satz zusammen: "Das Auswärtige Amt im
Dritten Reich war das Auswärtige Amt des Dritten Reiches." Das AA
war aktiv als die internationale Kommunikations- und
Handlungszentrale, ohne die das funktionierende System der
Deportationen und sonstiger internationaler Infrastruktur nicht
denkbar gewesen wäre. Wie überall in Nazi-Deutschland gab es auch
hier seit den 1930ern eine freiwillige Selbstgleichschaltung, die
nach der Kapitulation von Mai 1945 schlagartig in den Modus der
Selbstverleugnung und Selbstentschuldung wechselte. Schließlich galt
es, Deutschland wieder aufzubauen -- und, natürlich auch die eigene
Karriere fortzusetzen. Dabei besaß und besitzt das Außenministerium
eine Schlüsselrolle als enorme Machtzentrale für Diplomaten- und
Politikerkarrieren insbesondere auch aus rechtskonservativen und
adeligen Milieus. Es ist kein Zufall, dass erst ein Außenseiter, der
unkonventionelle Grünen-Politiker Fischer, geboren in der
unmittelbaren Nachkriegszeit, den ungeschönten Blick zurück bewirkt
hat.
Die tagelang für dieses Thema fast ungeteilte Aufmerksamkeit in
Berlin Ende Oktober 2010, lenkt den öffentlichen Blick insbesondere
auch auf das politische Archiv und die internationale Leitidee der
ehemaligen Bundesrepublik und des heutigen Deutschlands. Das Archiv
des deutschen Außenministeriums wird bis heute restriktiv im Amt
selbst verwaltet und hat sich damit auf unvergleichbar dreiste Weise
die Deutungshoheit über seine Geschichte angeeignet, die sich zu
Teilen als Kriminalgeschichte bezeichnen lässt. Da überrascht es
nicht, dass der Vorsitzende der Historikerkommission, Eckart Conze
aus Marburg, davon ausgeht, man habe alles gesehen, was man habe
sehen wollen; er wisse aber nicht, was man noch hätte sehen können.
Ein gravierender Tatbestand, gelassen ausgesprochen. Die Studie weckt
hier auch gezielt Erwartungen auf einen zukünftig veränderten
Umgang mit dem politischen Archiv deutscher Außenpolitik. Laut
Bundesarchivgesetz (1988, 1995) nämlich gehört das Material des AA
längst ins Bundesarchiv, um es dort auf zeitgemäßem
wissenschaftlichem Standard und ohne Restriktionen auszuwerten. Die
anhaltende Umgehung dieser Bestimmung verweist eindrucksvoll auf
aktive politische Kräfte, die deutsche Geschichtsschreibung in ihrem
Sinne weiter manipulieren. Ihre relativierenden Stimmen sind auch 65
Jahre nach Ende des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs in der
deutschen Öffentlichkeit hörbar; siehe beispielsweise den Beitrag
von Rainer Blasius in der FAZ vom 26.10.2010.
Den 'Persilschein', den Fischer den überführten Nazi-Diplomaten
nicht mehr länger ausgestellt wissen wollte, bezeichnen Historiker
wie Frei als "die Kontinuität des Mythos der Selbstentschuldung",
der bis hin zum gänzlich unzutreffenden Bild des Auswärtigen Amts
als Hort des Widerstands in den 1930er Jahren gelang. Wie sein
Kollege Moshe Zimmermann, aus Jerusalem, unterstrich, gab es "keine
Sprünge" im kollektiven Verhalten; so galt auch nach dem Krieg der
stillschweigende gesellschaftliche Konsens des Wiederaufbaus um jeden
Preis, auch um den der Geschichtsvergessenheit, der sicherlich auch
im AA eine verstärkende Rolle spielte. Denn andererseits
verkörperten und verkörpern naturgemäß das Außenministerium und
seine Mittlerorganisationen Deutschland in allen internationalen
Gremien und internationalen politischen Kontexten. Insofern waren
Strategien der Mythenbildung und Selbstentschuldung systemimmanent,
sobald sich die Bundesrepublik international rehabilitieren wollte
und Handlungsfähigkeit und Wirtschaftskraft zurückzuerobern wusste.
In diesem Kontext verlangsamten die pragmatischen tagesaktuellen
Prioritäten -- beispielsweise Willy Brandts immens erfolgreiche
aber auch gegen national und international heftigste Widerstände
durchgesetzte Ostpolitik -- die weitere Aufarbeitung der
Vergangenheit. Insofern ließen die aktuellen Herausforderungen die
beschämende Vergangenheit bald schon tagespolitisch so irrelevant
werden, dass sogar ehemalige Nazi-Täter in ehrbaren Nachrufen im AA
ohne großen Widerspruch wieder namentlich publiziert werden konnten.
Die Kontinuität der tagespolitisch geschichtsblinden Prioritäten
trug mit bei zur Kontinuität der falschen Mythenbildung. Etabliert
waren so auf lange Sicht zwei Parallelwelten. Rückwirkend,
ausgeschieden aus dem hektischen Politikalltag, beklagt Fischer
selbst deshalb auch heute: "Ich hatte anderes im Kopf nach dem 11.
September und habe mich nicht um die Geschichtspolitik gekümmert.
Das war ein großer Fehler." Der jüdische Berliner
Geschichtsphilosoph Walter Benjamin arbeitete bis zu seinem
Selbstmord 1940 auf der Flucht vor den Nazis an einem Instrumentarium
zeitgeschichtlicher Erkenntnis, die tagespolitischen Ereignissen und
restriktiver Geschichtsschreibung abzutrotzen sei. "Geschichte ist
Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere
Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet." Historische
Erkenntnis kann nur gewinnen, wer das "Kontinuum der Geschichte
aufsprengt" -- also Abstand von tagespolitischen Prämissen
gewinnt. Demnach vergeht Vergangenheit zwar nicht, aber sichtbar wird
sie nur für den, der das künstlich fortgeschriebene Kontinuum
verlässt, um sich dem ungeordneten Steinbruch der Vergangenheit
zuzuwenden. Insofern kann man davon ausgehen, geschichtliche
Erkenntnis bedarf sogar des Modus von Slow-motion, in der
Verlangsamung liegt das Unbekannte und neu zu Entdeckende.
Marga Henseler und Joschka Fischer haben schnelllebiger Politik und
unvermeidlicher Geschichtsrelativierung erfolgreich ein weiteres
wichtiges Kapitel deutscher Geschichtsschreibung des Dritten Reiches
abgetrotzt. Insgesamt ist in der Bundesrepublik auf dem Gebiet
verlangsamter Geschichtsbetrachtung nach 1945 intensiv gearbeitet
worden, und dies hat vermutlich am meisten zum internationalen
Respekt beigetragen, den das wiedervereinigte Deutschland heute
besitzt. Deutsche im Ausland, beispielsweise Mitarbeiter von
Goethe-Institut und Deutschem Akademischem Austauschdienst, erfahren
weltweit Freundschaft und Anerkennung, auch in Staaten, mit denen die
gemeinsame jüngere Vergangenheit extrem schmerzhaft verlief.
Trotzdem, der Blick zurück kann natürlich die tagesaktuelle Raison
nicht ersetzen. Saß doch mit Fischer auf dem Podium im HKW auch der
Außenminister, in dessen Amtszeit Deutschland wieder international
militärisch aktiv geworden ist und in fernen Erdteilen militärische
Präsenz zeigt, bei der zugleich völkerrechtlich relevante Fragen
offen scheinen. Diese jüngste internationale Entwicklung mit
deutscher Beteiligung war kein Thema bei der geschichtskritischen
Buchpräsentation. Es könnte sich aber um eine maßgebliche
zeitgeschichtliche Schnittstelle handeln, die zukünftig aus dem
Kontinuum gesprengt werden wird. Dann wäre auch zu überprüfen, ob
der Blick zurück, ausgehend von 1945 und den Verbrechen des Dritten
Reiches, für die aktuelle politische Analyse der heutigen Lage im
Nahen Osten und weltweit nach 9/11 angemessen ist.
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autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller , geboren 1966 in Düsseldorf, ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Eigene Textagentur MEMPLEXX. Autorin, Dramaturgin und Journalistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online-Medien. Von 1993 bis 2004 Redakteurin, Regisseurin und Autorin für SWR2. Von 2004 bis 2008 literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com