Chicago, 29. Apr 2002_
Die Rockplatte dieses Frühsommers kommt aus Chicago. Für Greg Kot
von der Chicago Tribune ist es sogar jetzt schon die Platte des
Jahres, und sein Kollege Jim DeRogatis von der Chicago Sun-Times
geht noch weiter: er kürte Yankee Hotel Foxtrot bereits im
Dezember zur Platte des letzten Jahres. Das neueste Werk der Band
Wilco geistert nämlich schon etwa ein Jahr lang auf dem Internet herum,
wurde zeitweise via Streaming auf
wilcoworld.net
den Fans zugänglich gemacht und in Folge eifrig den CD-Brennern
überantwortet, ist aber erst seit dieser Woche in den Läden zu
haben. Viel ist im Vorfeld geschrieben worden über die absurde Reaktion
von Wilcos ehemaliger Plattenfirma Reprise, der das 'Produkt' nicht
hitparadentauglich genug war. Einige Anzugträger müssen so erschrocken
sein, daß der sofortige Abgang der Band eingeläutet wurde. Von Wilco zu
scheinbar fairen Konditionen zurückgekauft, erscheint die Platte nun auf
Elektra/Nonesuch, wie Reprise ebenso zum Mediengiganten AOL Time Warner
gehörig, der die Aufnahmen nun also zweimal gekauft hat. Selbst ein
dreifaches Bezahlen aber wäre bei dieser Musik nicht zuviel
gewesen. Jeff Tweedys Songstrukturen finden sich mehr den je bedrängt
von Soundexpexperimenten, Interferenzen und neuen Kombinationen von
Instrumenten in fast jeder Strophe. Und das ist gut so. Jenseits des
Country-Rocks, der die Band bekannt machte, ist hier etwas
Individuelleres und Spannenderes zu hören, und es hat viel mit Chicago
zu tun, wo insbesondere Alternative Country und die neuere Rock- und
Jazz-Avantgarde die Akzente setzen. Selten sind diese Polaritäten bisher
auf einer Platte, in einem Song, in einer Strophe, ja, in einer Zeile so
zusammengebracht worden wie hier.
Nur verständlich also, wenn Architekturbilder aus der Heimatstadt
Cover
und Beiheft zieren und die Platte so ganz eindeutig
verorten. Besonders das Bild der zwei Türme des Wohnkomplexes Marina
City auf dem Cover ist aber gleichzeitig auch eine zeitliches
Merkzeichen. Wilco weist hier, so läßt sich behaupten, auf den
Einschnitt der Ereignisse vom 11. September letzten Jahres hin, und zwar
auf ungleich subtilere Weise als eine Unzahl ihrer Kollegen. So schreibt
Paul McCartney einen unsäglichen Song namens Freedom, und doch
sind die sogenannten 'Benefizkonzerte', auf denen er diesen zu Besten
gibt, nichts anderes als geschicktes Marketing in eigener Sache. Wenige
Monate später kann sich der Ex-Beatle dann die Freiheit nehmen,
im Geiste jenes demonstrativen Schulterschlusses mit Feuerwehrmännern
bei seinem Konzert am 10. April hier im United Center sage und schreibe
260 Dollar pro Eintrittskarte (inklusive Gebühren) zu verlangen. Neil
Young vergreift sich leider kaum weniger kraß, wenn er in Let's
Roll das Ärmelaufkrempeln gegen das Böse fordert und man sich fragen
muß, ob der Titel neben dem heroischen Tun der Männer im abgestürzten
Flieger von United Airlines nicht ebenso die Heldentaten der US Air Force
in Afghanistan beschreibt.
Tweedys neue Lieder sind vor September 2001 entstanden, und doch
erscheinen einige seiner Zeilen nun in einem anderen Licht. In War on
War heißt es: "let's watch the miles flying by / [...] you have to
learn how to die / if you wanna be alive", und in Jesus, etc.
erzittern die Wolkenkratzer. Der Text gehört seinem Autor nicht, und so
haben sich unzählige Textbrocken der Popkultur in den letzten Monaten in
den Medien so etwas wie Prophetie, oder jedenfalls neugewonnene
'Bedeutung' zuschreiben lassen müssen. Wilco allerdings tritt diesem
reichlich gewollten Interpretationsimperativ geschickt entgegen: durch
ein Bild. Die Türme von Marina City auf dem Cover sind, wenn man so
will, die anderen Twin Towers, und sie zeigen an, daß die auf
dieser Platte gespielte (wie auch jede andere) Musik sich nicht durch
einen allgemeinen New-York-Reflex, so verständlich dieser sein mag,
einschränken lassen sollte. Wie der Zufall es will, bringt der
Chicago Reader (die hiesige unabhängige, kostenlose
Wochenzeitung) in eben dieser Woche einen Artikel über Bertrand Goldberg
-- den Architekten, der Marina City in den 60ern gebaut hat. Gedacht als
ein Plädoyer für eine Wiederbelebung der Innenstadt jenseits der
Bürozeiten von Montag bis Freitag, sollte der Komplex durch Kombination
von Wohnraum und einem Konzertsaal in unmittelbarer Nähe der großen
Bürogebäude verdeutlichen, daß die radikale Trennung von Wohnen,
Arbeiten und Kultur nicht das sine qua non der Stadtplanung ist. Genau
diese Trennung aber ist es, die der New Yorker Financial District und
insbesondere das World Trade Center allein schon durch ihre Namen
repräsentier(t)en: Inkarnationen der spezifisch kapitalistischen Form
von Arbeit. Ich will nicht behaupten, daß Terroristen
Architekturgeschichtler seien. Dennoch scheint nur schwer denkbar, daß
die Türme von Marina City in gleicher Weise für jenes Amerika stehen
könnten, das den blinden Haß mit solch fataler Wirkung auf sich gezogen
hat. Wenngleich sich, man muß es zugeben, Goldbergs Ideen vierzig Jahre
später nicht unbedingt in die Praxis umgesetzt finden. Die Chicagoer
Innenstadt ist wieder attraktiv (Wachstum zwischen 1990 und 2000: 32%),
doch zu sozialer Integration führt dies leider nur im Ausnahmefall. Nur
wenige Leute, die ich kenne, könnten sich eine Eigentumswohnung in
Marina City leisten. Dabei hatte Goldberg hier Mietwohnungen
vorgesehen ...
"I've got reservations / about so many things" singt Tweedy im
letzten Song des Albums, und im Beiheft ist an dieser Stelle kein
Gebäude abgedruckt, sondern ein Gegenlichtbild, das entweder einen
Sonnenaufgang oder einen Sonnenuntergang darstellt. Leser und Hörer
dürfen selbst entscheiden, was hier der Fall ist, und ob bei allem
ziellosen Herumirren von Tweedys Protagonisten in der "großen
schimmernden Stadt" zwischen den Ashes of American Flags auch
noch ein Funke Optimismus glimmt.
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