Cyber Suburbia, 19. Feb 2007_ Das Jahr weiß ich nicht mehr, es war jedenfalls
eine andere Zeit, das World Wide Web noch nicht einmal ein Funkeln in
den Augen von Tim Berners-Lee. Es war die Zeit der großen
Samstagabendshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen -- dem einzigen
-- als Kuli und Blacky noch Familienunterhaltung machten: routiniert
und brav abgelieferte Kost. An diesem Abend war
Johnny Cash
angekündigt, den kannte ich aus dem Radio und der
Schallplattensammlung meines Vaters; selbst für ein vorpubertäres und
somit in derartigen Geschmacksfragen tolerantes Kind, nicht gerade
etwas, dem man entgegenfieberte. Erwartet wurde eine professionell
abgelieferte Entertainment-Einlage, Country ohne Nach- noch
Nebenwirkung. Dann kam der 'Man In Black', sichtbar
erschüttert, jedes Kind begriff das. Er trat ans Mikrofon und sang
zunächst nicht sondern erzählte von der Sorge um seine Frau, die
gerade in diesem Moment tausende Kilometer entfernt operiert wurde,
ein lebensentscheidender Eingriff. Er sprach von seiner Angst und von
seiner Hoffnung, als säße dort kein Publikum und doch im vollen
Bewußtsein der Situation. Er sprach wie zu Freunden, überspielte
nichts. Dann sang er, für June Carter-Cash, Ring of Fire, wie
ich nie zuvor jemanden singen gehört hatte, mit allem, was er konnte
aber auch mit allem, was er war und beides verschmolz in jedem Ton. Im
Rückblick war es wohl dieser frühe Moment, in dem ich ahnte,
daß Musik etwas anderes sein konnte, als das, was das Radio
absonderte, daß sie etwas mit dem Leben zu tun hatte und eine
Verbindung zwischen Menschen herstellen konnte.
Die Musikmaschine Nashvilles hat es dagegen verstanden, Cash
beinahe in die künstlerische Bedeutungslosigkeit zu verbannen, indem
sie ihn zwang, über Jahrzehnte unter seinen Möglichkeiten zu
arbeiten. Es war sein und unser aller Glück, daß er in späten Jahren
von dem Rock- und Rap-Produzenten
Rick Rubin die Gelegenheit bekam,
auf den
American Recordings
zu zeigen,
was in ihm steckte.
Heute gibt es nicht nur drei Fernsehprogramme, sondern mehr als es
irgend jemanden kümmern könnte. Und es gibt Youtube. Das ist die Site mit den
Skateboard-Unfällen, den Mentos- und Diet-Coke-Clips und Teenagern,
die zu Shakira tanzen. Wie auch bei Büchern, Filmen oder CDs ist der
überwiegende Teil von Youtube Unfug. Und wie bei allem anderen, muß
man suchen, bis man etwas Interessantes findet. Das geht, man stößt
auf nette Dinge, Obskures, kleinere und größere Inspirationen, die
früher nicht möglich gewesen wären.
Und dann plötzlich, inmitten des medialen Gestöbers, ist da
diese junge Frau,
die singt, wie man kaum glaubt, daß es noch jemand könnte.
Rundherum wird es ganz still, als hätte draußen endlich ein winterlich
angemessener Schneefall begonnen. Aber es ist das was man hier
entdeckt hat, das alles andere herum ein wenig entrückt erscheinen läßt.
ysabellabrave
ist der Benutzername, der neben dem Video steht. Wenn man es nur nett
tut, darf man sie auch mit ihrem ersten Vornamen, MaryAnne,
nennen. Sie singt
Blues,
Jazz,
und
Gospel,
Musicals,
Rock,
Pop
und
Filmmusik
-- quer durch das american songbook. Und für jede
Richtung findet sie einen eigenen Stil, voller Leichtigkeit und Tiefe,
als wäre das gar nichts.
Die Musikindustrie ist weit gekommen. Es gibt CDs und
SuperAudio-CDs und Dolby 5.1 (tm). Es gibt genug Computertechnik um
eine halskranke Gans klingen zu lassen wie die Callas.
Ein Segen,
nicht zuletzt für die zusammengecasteten Bands der Saison, die ein
Klavier nicht von einem Triangel unterscheiden könnten wenn ihr Leben
davon abhinge. Für richtige Musiker ist es gerade diese Technik, die
sie zunehmend erdrückt. Bob Dylan hat das vor einigen Monaten in einem
Interview
beklagt und von seiner Mühe berichtet, die Hemschuhe der
technischen Rahmenbedingungen zu überwinden, um wieder zur Musik
durchzudringen.
Ysabellabrave hat eine
digitale Kamera
mit Videofunktion und
eingebautem Mikrofon, außerdem eine Schreibtischlampe und einen
Schwung Karaoke-CDs. Meist gibt es nur einen Take für ihre Songs und
niemals Nachbarbeitung. Sie singt live-on-tape und das reicht, um in
jeder einzelnen Aufnahme etwas ganz wunderbares geschehen zu lassen.
Ysabellabraves
Youtube-Channel
haben inzwischen über 16 000 Nutzer abonniert, einige ihrer
bislang
58 Videos
wurden über eine
halbe Millionen
mal angesehen. Inzwischen bemerken
auch die alten Medien, daß hier etwas im Gange ist: In Deutschland war es
die Süddeutsche Zeitung die in ihrer
Clip-Kritik
mit der ganz großen kulturtheoretischen Artillerie versucht hat, das Phänomen
in den Griff zu bekommen. Nicht wirklich mit Erfolg, und das nicht nur
aufgrund schlampiger Recherche und einer verflachten
Barthes-Interpretation.
Dabei ist es ganz einfach: MaryAnne singt, wonach ihr ist und sie
singt es mit allem, was sie kann und was sie ist und beides verschmilzt
in jedem Ton. Wenn sie dabei
dramatisch
oder
albern,
verspielt
oder
sinnlich
sein mag, dann zeigt sie das, wenn ihr
die Tränen kommen,
dann läßt sie es eben zu -- all gimmicks gone. Wenn man
seinen kritischen Tag hat, stöpselt man die HiFi-Köpfhörer an den
Computer, schließt die Augen und lauscht, vorbei an den Beschränkungen
eines stecknadelkopfgroßen Mikrophons und der minimalen Bitrate von
Youtube, lauscht auf die Details ihres Ausdrucks, die Phrasierung, die
es sogar schafft, das starre Korsett der Karaoke-CDs zu umspielen,
lauscht auf eine Interpretation, geprägt von Erfahrung und
Wahrhaftigkeit. Man hört manches, das man lange vermißt hat -- ein Gespür für Leben
etwa, ein Gespür für Bedeutungen im Einklang mit einem
erstaunlichen Talent. Die Fähigkeit zu musikalischer Gestaltung ohne
Netz und doppelten Boden. Und nur manchmal, da ertappt man sich doch
bei dem Wunsch, dies alles wäre mit einem guten Studiomikrophon
aufgenommen worden. MaryAnne
weiß es besser: "Don't you
think it's amazing, that I'm singing into this silly camera with a
desk lamp and it's going through all this wires and computers, and you
still fell what I'm feeling and you still get what I'm trying to
do?"
Derweil wird der Superstar-Zombie der Woche durchs Dorf
getrieben, ohne den leisesten Schimmer was er singt oder warum, oder
was er tun soll, falls die Nachbearbeitungs-Computer
versagen. Weichgespülte Belanglosigkeiten im allerbesten Fall. Reine
Oberfläche in bester Tonqualität, garantiert rauschfrei,
stromlienienförmig und teflonbeschichtet für ein Publikum, das sich
sowenig für Musik interessiert wie für alles andere, vermarket durch
eine um sich selbst kreisende Medienmaschine.
Kümmert sowas irgendwen?
Aber könnten nicht beide, die Musik und das Business eins sein?
Oder wäre das das Ende der Sehnsucht und das Ende der
Welt?
Ich räume jedenfalls im CD-Regal neben den vollständigen
American Recodings schon mal Platz frei, hoffe auf die
Zukunft und einen Produzenten vom Format eines Rick Rubin. Bis dahin
gibt es Youtube: im Browser läuft ein
ein Song
von ysabellabrave und ich ahne erneut, welche
Möglichkeiten Musik eigentlich in sich trägt und wofür wir sie
brauchen.
Nachtrag: ein lesenswerter englischsprachiger Artikel über ysabellabrave ist soeben auf
SFluxe
erschienen
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