Dresden, 08. Feb 2006_
Auch Dresden ist Deutschland. Wenn auch nur als Kulisse: hinter der
spurtenden Radlerin, die mit den Worten "Es gibt keine
Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Deutschlandbahn" auf den
Lippen ihr Scherflein beiträgt zum inzwischen vielgeschmähten
"Du-bist-Deutschland"-Clip, ragt ganz deutlich die Kuppel
der Frauenkirche auf. Jenes Gotteshaus also, das gut sechzig Jahre
nach seinem kriegsbedingten Einsturz jüngst wiedereröffnet worden ist
und nun "in altem Glanze erstrahlt" -- oder wie die
erbauer- und bürgerstolzen Formulierungen in den einschlägigen
Publikationen dann auch immer lauten.
Baukräne sieht man hinter der Radlerin aufragen, die die steinerne
Reling einer Brücke entlangflitzt, und eine düstere Gebäudefront, über
der eine weitere, durchsichtige Kuppel aus Metall und Glas
schwebt. Deren güldene Figur kann von der Kamera allerdings nicht mehr
fokussiert werden, denn da ist die Radlerin schon wieder von der
Brücke herunter. Der sekundenkurze Blick auf die Dresdner
Stadtsilhouette ist verschwunden, kaum daß er Spuren hinterlassen hat
auf der Netzhaut.
Was soll ich nun schreiben über diese Stadt, über die doch schon so
viel gesagt worden ist; im vergangenen Jahr etwa, als die Reko-Kirche,
von der bereits die Rede war, ihre Weihe erhielt, aber auch da sich
das Kriegsende und die damit einhergehende Zerstörung Dresdens zum
sechzigsten Mal jährte. Was gibt es überhaupt zu schreiben über
Dresden, was nicht schon im gerade erschienenen Merian-Heft,
Nr. 11/2005, steht?
Ich könnte mir vorstellen, daß viele, die den
"Du-bist-Deutschland"-Clip gesehen haben, die Kulisse von
Dresden gar nicht bemerkt haben. Wenn man hier lebt, schaut man
genauer hin. Das hat wohl damit zu tun, daß von Kulissen und
Silhouetten hier allerorten die Rede ist. Augenblicklich findet in
einem wiedereröffneten Trakt des alten Akademiegebäudes an der
Brühlschen Terrasse eine ganze Ausstellung statt, die sich nur mit den
Darstellungen der Dresdner Stadtsilhouette durch die Jahrhunderte
beschäftigt: von den frühesten Kupferstichen in einem Städtebuch des
16. Jahrhunderts bis hin zu den Werken des vor kurzem verstorbenen
Kunstprofessors Siegfried Klotz, der das Ensemble an der Elbe wohl so
oft wie keiner sonst in großformatigen Ölgemälden festgehalten
hat. Die Kunstakademie mit ihrer Glaskuppel und der goldenen Fama ist
übrigens -- aber das nur nebenbei -- Teil der Silhouette, die in dem
Clip kurz aufscheint.
Auch Durs Grünbein, der Dichter, der seiner
Geburtsstadt bereits 1985 den Rücken kehrte, besingt in seinem
jüngsten Gedichtband Porzellan. Poem vom Untergang meiner
Stadt (Suhrkamp Verlag, 2005) in 48 Zehnzeilern aufgeklärt
nostalgisierend den fragilen Charme der Dresdner Stadtsilhouette. In
Nr. 32 etwa lesen wir:
Altstadtufer, Schokoladenseite, innigste Partie ...
Bin gebannt von diesen früh vertrauten
Umrißlinien.
Schließ die Augen: auf den Lidern, innen,
siehst du sie.
Schwarz vorm Abendhimmel, etwas andre Pinien,
Ragen Kuppeln, Glockentürme. Seltsam nah
Aus der Ferne geht dir dieser Haufen alter Steine.
Eine Lichtung in der Zeit dies, in pittura metafisica,
Und ein Hymnus, den der Raum sich sang zum Eigenlob.
Hier in eins geführt, zeigt eine Stadt sich als
das Eine
Ihren Nachgebornen, ein Ensemble, psychotrop.
Sicherlich hat auch die Radfahrerin, obwohl hörbar keine gebürtige
Dresdnerin, diesen Blick für die Silhouette Dresdens. Alle haben ihn
oder gewöhnen ihn sich an. Es ist ja auch fast das einzige, was der
Stadt nach den Metamorphosen, die sie im 20. Jahrhundert erfahren hat,
geblieben ist. Insofern war die Rekonstruktion der Frauenkirche nur
eine Art Schlußstein, um das Elb-Ensemble wenigstens äußerlich wieder
herzustellen -- als Kulisse, die nichtsdestoweniger ihre Originalität
bis heute bewahrt hat.
"Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der
Deutschlandbahn" -- das ist natürlich eine etwas andere
Rhetorik als die feinsinnige Grünbeinsche Verskunst. Da bleiben schon
ein paar Fragen offen. Woher nimmt die Frau zum Beispiel den
Überschwang, den sie in ihre Worte legt? Vielleicht weiß sie, daß aus
'Boomtown Dresden' jeder fünfte Computerchip kommt, der
weltweit produziert wird? Oder eine andere Frage: was ist eine
"Deutschlandbahn"? Ob damit einfach das nationale
Autobahnnetz gemeint ist, an das natürlich auch Dresden angeschlossen
ist? Damit auf dem Dresdner Abschnitt der
"Deutschlandbahn" weiter etwas rollt, hat der
Volkswagen-Konzern seine Nobelkarossen-Schmiede in die Stadt verlegt:
seit einigen Jahren wird hier der Phaeton in Schauproduktion
zusammengesetzt, damit auch der letzte merkt daß es vorangeht.
Zuletzt: wie ist das mit der Geschwindigkeitsbegrenzung
zu verstehen, wo doch im Ort Tempo 50 gilt? Für die mit den
Örtlichkeiten Vertrauten stehen die Worte der Frau in einem
gewissen Widerspruch zu den verkehrstechnischen Gegebenheiten. Es ist
ganz klar: die Frau radelt, nein, sie schrotet gerade über die
Augustusbrücke. Diese Brücke ist unter Radlern berüchtigt
für ihr Kopfsteinpflaster, an diesem Ort Geschwindigkeitsrekorde
zu brechen, und das, nach der Logik des Spruchs, "für
Deutschland", erübrigt sich also. Allerdings harmonieren
die schönen Worte der Frau auf erstaunliche Weise mit dem
Fahrverhalten von PS-starken Limousinen, deren Fahrer ihre Karossen
auf der Brücke gerne mal im zweiten Gang auf achtzig, neunzig
Sachen hochziehen. Das ist vielleicht auch der geheimere Grund dafür,
warum die Stadt an der breitesten Stelle des Tals eine
autobahnähnliche Elbquerung errichten will, auch wenn sie dies
den erst kürzlich erworbenen Status 'Unesco-Weltkulturerbe'
kosten könnte. Oder ist bei den rasenden Phaeton-Fahrern auf der
Dresdner Augustusbrücke der Groschen etwa schon gefallen? Sind
sie auch Deutschland?
Bleiben wir noch ein bißchen beim Kulissenblick. Neulich fragte
ein Freund, der ganz gerne mal ein Bier trinkt, als er zum ersten Mal
in seinem Leben vor der Semperoper stand: "Liegt Radeberg
eigentlich hier in der Gegend?" Eine treffende Frage (die
Antwort darauf lautet "Ja"), denn wer irgendwo in diesem
Land -- oder qua Globalisierung auch darüber hinaus -- mit Radeberger
Bier in Berührung kommt, wird auf das Gebäude der Sächsischen
Staatsoper stoßen. Festlich erleuchtet ragt dessen Fassade auf den
Werbetafeln der Brauerei aus der Nacht auf, in Untersicht aufgenommen
verjüngt sich der Bau nach oben, was einen monumentalen Eindruck
erweckt, und gebiert ein formschönes, leuchtendes Glas Bier aus seinem
Schoß bzw. Eingangsportal.
In der Wirklichkeit sucht man diese Perspektive, die durch das
Denkmal des Königs Johann versperrt wird, allerdings vergebens. Als
ich neulich wieder am Theaterplatz vorbeikam, habe ich das Denkmal von
allen Seiten beäugt und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß der Fotograf
seine Kamera dem Eingang gegenüber auf den unteren Stufen des
Monuments, direkt unterm Schwanz des königlichen Rosses aufgebaut und
für das Bild mit einem respektablen Weitwinkelobjektiv ausgestattet
haben muß. Damit ist ihm ein echtes Erfolgsfoto gelungen, denn dank
der intensiven Kooperation der Radeberger Brauerei mit der Semperoper
hat inzwischen jeder gute Deutsche -- gesetzt, jeder gute Deutsche ist
Biertrinker -- eine Vorstellung von Dresdner Kulissenkunst.
Vor ein paar Wochen wurde sogar neben der Frauenkirche, wo gerade
ein altes Stadtviertel in historischen Fassaden aus dem Schutt der
Geschichte neu ersteht, auf der ganzen Front eines noch im Rohbau
befindlichen Hauses ein solches Werbeplakat ausgerollt, keine 500
Meter von der Oper entfernt.
Dresden ist eben nicht nur Deutschland. Dresden ist auch
-- ein Radeberger!
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autoreninfo

Patrick Wilden , geboren 1973, aufgewachsen in der Gegend zwischen Kassel und Göttingen. Geschichtsstudium in Tübingen und Rouen, Verlagsvolontariat in Stuttgart. Lebt und arbeitet als Antiquar in Dresden. Schreibt neben gelegentlichen journalistischen Arbeiten Lyrik und Kurzprosa. Mitarbeit bei den Internet-Zeitschriften parapluie und kultura-extra.de. Im Jahr 2000 Würth-Literatur-Preis mit der Kurzgeschichte "Klassenfeind". Gründungsmitglied des Literaturforums Dresden.