Dresden, 12. Apr 2006_
Nein, "man steigt nicht in denselben Fluß zweimal", sang
Franz-Josef Degenhardt einmal, nicht lange vor der Wende, "in
diesen schon gar nicht: Baden verboten." Gemeint war der Rhein,
an dessen mythischer Bedeutung und öko-katastrophaler Realität der
störrische Barde, heute eine der letzten Mumien der deutschen
Liedermacherkultur, damals in geradezu kindischer Weise seine Leier
wetzte.
Inzwischen haben sich die Inhalte -- auch politisch -- verlagert,
sind andere Schauplätze wichtig geworden. Nicht die "trutzigen
Burgen" und "Traumtänzerritter" der
mittelrheinischen Weinberge, sondern die berstenden Dämme und
Feuerwehrretter entlang der Ströme des wiedervereinigten Deutschland
stehen im Vordergrund. Man erinnert sich vielleicht noch an die trüben
Ausblicke auf die Hochwässer an Rhein und Donau in den 1990er Jahren,
die Klagen der Geschäftsleute der Kölner Altstadt, die ihre Läden
mehrere Frühjahre in Folge trocknen, streichen und neu einrichten
durften.
Doch schon mit der sogenannten Oderflut des Jahres 1997 verschoben
sich die Gewichte. Plötzlich konnte man den Eindruck gewinnen, eine
ganze Nation fiebere mit den unfreiwillig Untergetauchten hinter den
rutschenden Deichen am Westufer der Oder mit. In der Sorge um die vom
Wasser versehrten Oderbruch-Hütten auf den Fernsehbildschirmen der
Wohnzimmer waren die Schmerzen der Wiedervereinigung gelindert, schien
das Land endlich zu sich selbst zu finden. Wobei -- aber das nur
nebenbei -- ein wenig aus dem Blick geriet, daß das Wasser am Ostufer
der Oder-Neiße-Grenze ganze Landstriche und einige hundert Kilometer
flußaufwärts das polnische Breslau verheerte.
Den Vogel abgeschossen aber hat Dresden -- das ist allen
klar. Nachdem die sächsische Landeshauptstadt im Sommer 2002 gleich
mehrfach durch reißende Bäche, die aus dem Erzgebirge zu Tal schossen,
und durch eine regelrechte Flutwelle der Elbe an vielen Stellen und
neuralgischen Punkten absoff, ist sie in diesen Tagen der
Schneeschmelze wieder in aller Munde. Die
'Jahrhundertflut', wie sie damals sehr schnell genannt
wurde, obwohl das neue Jahrhundert gerade erst zwei Jahre alt war,
sorgte nicht nur für Tote und Verletzte und milliardenteure Schäden im
ganzen Land, sondern sie schuf auch eine besondere Form von
Öffentlichkeit für die Stadt Dresden -- einen Namen sozusagen, der
auch heute noch verpflichtet.
Dazu leistet die Berichterstattung einen entscheidenden
Beitrag. Seitdem man von Massenmedien sprechen kann, also ungefähr
seit 150 Jahren, ist es eine Binsenweisheit, daß Nachrichten vor allem
für diejenigen verfaßt werden, die am Geschehen nicht beteiligt
sind. Das war zwar auch schon vor dem Erscheinen von Zeitungen in
hoher Auflage so, diese Nachrichten waren allerdings nur einer kleinen
Klientel von Menschen -- den des Lesens mächtigen eben --
zugänglich. Der große Rest der Gesellschaft befriedigte seine Neugier
mit den Gerüchten, die Händler und wandernde Gesellen streuten. Es ist
eine verhältnismäßig neue Entwicklung, daß das ganze Land über
Nachrichten und Fernsehbilder eine Überschwemmung mitverfolgen kann,
die es in weiten Teilen nicht betrifft. Auch wenn inzwischen so getan
wird, als sei das das Normalste von der Welt.
Das heißt aber auch: Dresden als prototypische Überschwemmungsstadt
ist zum Kristallisationspunkt für öffentliche Anteilnahme geworden.
Wenn hier die Elbe über die Ufer tritt -- was jedes Jahr im März
geschieht --, dann laufen sofort die Drähte heiß. Wer nicht umgehend
exklusive Bilder liefert, könnte womöglich einen neuen Flut-Superlativ
verpassen. Und wenn die Realität zu schwach ist, um den Aufwand zu
rechtfertigen, muß man eben ein bißchen nachhelfen. Die wenig
aussagekräftigen Bilder, die aus Dresden gesendet wurden, haben
immerhin ein paar bekennende Fluttouristen aus Hannover angelockt.
Demonstrative Coolness von seiten der Politiker ist ebenfalls nicht
gefragt -- das hat niemand so schmerzlich erfahren müssen wie der
sächsische Ministerpräsident. Als Georg Milbradt -- von seinen
Experten offenbar gut informiert -- öffentlich sagte, daß dieses
Hochwasser nicht so schlimm ausfallen werde wie das des Jahres 2002
und daß es diesmal keine staatliche Hilfe geben werde, wurde er von
vielen verständnislos angesehen. Die betroffenen Bewohner, ob nun in
Gohlis bei Riesa oder im gleichnamigen Dresdner Stadtteil, empfahlen
dem gebürtigen Sauerländer sogar, dahin zurückzugehen, woher er
gekommen sei. Zu tief sitzt der Schock der Flut vor vier Jahren, bei
den Beteiligten, bei den Zeitungslesern und Fernsehguckern, ja sogar
bei den Journalisten.
Noch immer sind wir hier der Paradiesvogel unter den
Hochwasserstädten. Die Anrufe und E-Mails, die in den letzten Tagen
bei mir eingegangen sind, waren rührend. Die wohlmeinend-ironische
Frage "Na, seid ihr schon abgesoffen?" war wohl der
häufigste Satz, mit dem die Telefongespräche begannen, und der
geäußerte Wunsch, die Deiche mögen halten, ließ einen schon etwas
schmunzeln. Eine gewisse Medienroutine spricht natürlich daraus, aber,
wie mir scheint, auch so eine kleine Abenteuerspielplatz-Phantasie.
Die Vorstellung vielleicht: "Ich kenne einen, der wohnt
tatsächlich in dieser Stadt, die immer absäuft", und damit
verbunden die ernst gemeinte Frage, ob ich mein Auto schon habe
umparken müssen.
Ich gebe zu: ein bißchen adventure ist schon dabei. Zum
Beispiel ist die Loschwitzer Brücke, das bekannte Blaue
Wunder, für den Autoverkehr gesperrt worden. Was die
Stadtrundfahrtsbusse machen, die die Überquerung der Brücke
normalerweise als Highlight nutzen, weiß ich nicht, aber es herrscht
ein reger Fußgängerverkehr, und viele Menschen halten Fotoapparate in
der Hand, während die Stadtwerke die unverhoffte Ruhe zur Ausbesserung
der Fahrbahn nutzen. Auch die Straße hinüber zum Stadtteil Laubegast
war ein paar Tage lang überspült, weshalb die Straßenbahnen nicht
dorthin fuhren.
Vor den elbnahen Gastronomien am Blauen Wunder und an der
Augustusbrücke fallen die Sandsackbarrieren und Pumpstationen ins
Auge, mit denen der Fluß aus den Gebäuden ferngehalten werden
soll. Und es ist daher kein Wunder, daß genau dort die Ü-Wagen der
Fernsehsender parken. Die Presseleute sind denn auch die letzten
zahlenden Kunden der versumpfenden Kneipen, wo der Ausschank, ähnlich
wie auf der Titanic, so lange weitergeht, bis die Stadt den
Strom abstellt.
Vielleicht sollte man dem Ministerpräsidenten glauben, der im
übrigen ein medienerfahrener und in seinem Freistaat ohnehin nicht
sehr beliebter Mann ist. Es gibt keine Katastrophe -- zumindest nicht
in dieser Stadt --, nur mehr Verkehrsstaus infolge gesperrter Brücken
und Uferstraßen und für die nicht eben zahlreichen Bewohner, die
tatsächlich 'zu nah am Wasser gebaut' haben, ein paar
höchst ärgerliche wasserreiche Tage, die neuerliche
Renovierungsarbeiten und Auseinandersetzungen mit der Versicherung
nach sich ziehen.
Man steigt nicht in denselben Fluß zweimal, und nicht jedes
Hochwasser ist eine Jahrhundertflut -- zumindest nicht in Dresden. Die
Bilder aus Melník und Ústí nad Labem, aus Hitzacker und Lauenburg
sprechen da schon eine andere Sprache. Aber auch hier in Dresden hat
die Elbe wieder einmal, und das sogar pünktlich zum 800. Geburtstag,
der vor wenigen Tagen begangen wurde, unter Beweis gestellt, daß wir
Respekt vor ihr haben dürfen. Das war aber wohl auch schon bei den
drezdani, den altslawischen 'Waldbewohnern'
so, die der Stadt ihren Namen gaben.
Was Dresden betrifft, sind wenigstens in diesem Jahr die Bilder von
der Überschwemmung gewissermaßen Routine.
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autoreninfo

Patrick Wilden , geboren 1973, aufgewachsen in der Gegend zwischen Kassel und Göttingen. Geschichtsstudium in Tübingen und Rouen, Verlagsvolontariat in Stuttgart. Lebt und arbeitet als Antiquar in Dresden. Schreibt neben gelegentlichen journalistischen Arbeiten Lyrik und Kurzprosa. Mitarbeit bei den Internet-Zeitschriften parapluie und kultura-extra.de. Im Jahr 2000 Würth-Literatur-Preis mit der Kurzgeschichte "Klassenfeind". Gründungsmitglied des Literaturforums Dresden.