Dresden, 08. Apr 2007_
Dresden. -- Kein Hochwasser, nirgends. Wenn auch das Riesengebirge
Schnee gehabt haben soll, dessen Tauwässer in der Elbe an Dresden
vorbeifließen, so war dieser Winter doch zu warm, zu trocken. Was im
Fluß abgeht, interessiert hier derzeit niemanden. Keine
RTL-Ü-Wagenposten an Brückenköpfen, wo Kneipen unter Wasser stehen
könnten. Keine fragwürdigen, aber immerhin nett inszenierten
Brückensperrungen wie im vergangenen April. Nach dem 2006er Jubeljahr
des 800. Stadtgeburtstags lag zunächst eine merkwürdige, fast schwüle
Ruhe über der Stadt. Die vielen neuen Läden und Lokalitäten der
Innenstadt hatten sich in weiser Voraussicht auf die Ebbe in den
Kassen eingestellt, getreu der Devise, die für die Monate Januar und
Februar gilt: Wenn vor der Frauenkirche keine Schlange steht, brauchen
wir auf gute Umsätze nicht zu hoffen. Zwar gehört dieser Barockneubau
zu den jüngsten Gebäuden der Stadt, aber er hat schon alle Macht,
Maßstäbe zu setzen.
Nein, in diesem Frühjahr gibt es keine Überschwemmung. Und dennoch
ist es mit der Ruhe vorbei. Es geht nicht um Wasser, sondern um das,
was darüber führt. Um das, was den Europaschwärmern gemeinhin als
Leitmetapher dient, Markenzeichen jeder Euro-Banknote -- eine
Brücke. Ihr Charakteristikum: es gibt sie nicht, und dennoch existiert
sie seit langem: als Möglichkeit in Bebauungsplänen, als politischer
Zankapfel, als Gesprächsthema fürs Stadtvolk. Sogar eine erstaunlich
objektiv geratene Wikipedia-Seite von beachtlicher Größe findet sich
inzwischen über sie. Man könnte von einem Luftschloß sprechen -- als
solches würde sich die Brücke prächtig an der für sie vorgesehenen
Stelle ins Ensemble einfügen, in einer Reihe mit den Schlössern
Albrechtsberg und Eckberg und der Villa Stockhausen. Selbst der
geplante und namensspendende Ort, das Dresdner Waldschlößchen, das
seine Entwicklung von der Marcolinischen Grafenvilla zur
Brauereigaststätte mit schönster Aussicht auf den Fluß und die
Silhouette der Stadt nahm, nobilitiert den Standort.
Und natürlich geht es am Ende doch wieder ums Wasser. Und Wasser,
das heißt in Dresden: die Elbe. Und die Elbe ist hier nicht einfach
ein Fluß. Sie ist ein landschaftliches Ereignis, das sich an
niedrigen, nicht selten mit Wein bewachsenen Hängen entlang durch eine
breite Aue schlängelt, sehenswert an fast jeder Stelle, Großstadt hin
oder her. Das, wie man meinen könnte, höchste Adelsprädikat bekam
dieser Naturraum 2004 von der Unesco zugesprochen: Weltkulturerbe. Und
es gibt sogar in Dresden ein paar Leute, die stolz darauf sind.
Doch wie immer im Märchen -- und das Reden über Dresden trägt
eindeutig Züge des Märchenhaften -- gibt es da die böse
Stiefmutter. Und die sagt: das Kind, also die Stadt, braucht eine neue
Brücke. Und sie kommt da und da hin. Ans Waldschlößchen, basta! Wie zu
Zeiten, als man noch Brillen "verpaßt" bekam, ganz egal,
ob sie schön aussahen. Sie mußten eben sein. Auch der Dresdner
Brückenstreit, der im übrigen schon seit Generationen geführt wird,
ist geprägt von diesem obrigkeitlichen Geist. Die Skandalchronik ist
lang.
Im ersten Generalbebauungsplan von 1862 ist die Möglichkeit
immerhin angelegt, das südliche Johannstädter Ufer der Elbe an der
Stelle des 'äußeren Environweges' durch einen
Brückenschlag mit dem nördlichen der Radeberger Vorstadt zu
vereinen. Doch Geldmangel, das an dieser Stelle sehr weitläufige Tal
und ästhetische Vorbehalte verhinderten dies -- im Jahr 1900 erließ
die Stadt sogar ein Bauverbot. Statt dessen wurde auf den
Johannstädter Elbwiesen bis zum Zweiten Weltkrieg Jahrmarkt
abgehalten, die berühmte 'Dresdner Vogelwiese'. Dann
kamen wieder Zeiten, in denen die Ingenieure am Zuge zu sein schienen,
allerdings ohne große Konsequenz. Die Brückenplanungen in den 30er
Jahren verhinderte der Zweite Weltkrieg, zu DDR-Zeiten scheiterten sie
in den modernistisch bewegten 60ern und 70ern wohl am Größenwahn --
achtspurige Querung mit Innenstadtautobahn -- und später, mit einem
abgespeckten Entwurf, an der Wende.
Als sich im Jahr 1990 der Freistaat Sachsen unter der Ägide des
Kurt Biedenkopf neu formierte, kam bald auch die Frage nach einer
weiteren Brücke im Dresdner Stadtgebiet aufs Tapet und wurde auf
Architektenworkshops, in Wettbewerben, im Stadtrat wie in der
Öffentlichkeit kräftig diskutiert. Doch es scheint, als habe die
sächsische Staatsregierung von Anfang an Förderzusagen nur einseitig
für den einen Standort gegeben: am Waldschlößchen, sonst nirgends. Wer
mag da nicht an die böse Stiefmutter denken? Zumal sie ihren
Helfershelfer stets im Dresdner Regierungspräsidium gehabt hat, das
gleich oberhalb des Waldschlößchens liegt, und böse Zungen sagen, daß
die fleißigen Beamten die Brücke vor allem deshalb unbedingt haben
wollen, um in ihren SUVs endlich einmal ohne Stau von der topsanierten
Blasewitzer Altbauwohnung im Süden an die Arbeit zu rollen.
Auf dieses vorgegebene Ziel steuerte der Rat der Stadt nun mit
wechselnden Mehrheiten hin. Es gab Ausschreibungen, Zuschläge,
Rücknahmen, Regreßforderungen, neue Ausschreibungen -- schon für die
ungebaute Brücke flossen Millionen. Schließlich wurde ein Entwurf
durchgewunken, der eine pfeilerfreie Querung vorsieht, mit hohen
Stahlbögen und langen Auffahrten, die auf der einen Seite in einen
Tunnel münden -- ein abenteuerliches Bauwerk, ingenieurtechnisch
machbar, aber eben doch nur ein Riesending aus Stahl und Beton, das
den umgebenden Naturraum negiert und der Stadt wachsendes
Verkehrsaufkommen beschert, welches neue Statistiken doch gerade als
sinkend ausgewiesen hatten.
Seither sind die Fronten jedoch so verhärtet, daß keiner meint,
ohne Gesichtsverlust aus der Sache heraus zu können. Zur Durchsetzung
des eigenen Standpunkts scheint jedes Mittel recht. Im Februar 2005
initiierten die Brückenbefürworter sogar einen Bürgerentscheid, in dem
sich von den gut 50 Prozent der Wahlberechtigten, die teilnahmen, rund
zwei Drittel für die Brücke aussprachen. "Baut das Ding
endlich", schien dieses Votum zu bedeuten, "dann ist
Ruhe." Der Dresdner Schriftsteller Jens Wonneberger schrieb
daraufhin im Stadtmagazin Sax, der Nachteil direkter
Demokratie in solchen Dingen bestehe vor allem darin, daß es niemanden
gibt, der die Bürger vor sich selbst schützt.
Der Stadtrat, mehrheitlich gegen das geplante Monstrum am
Waldschlößchen eingestellt, versuchte es trotzdem, und so ging die
Chose in eine weitere Runde. Seither arbeiten die Gerichte auf
Hochtouren, eine Klage und einstweilige Verfügung jagt die nächste. Da
hinein mischte sich nun auch die Unesco-Welterbe-Kommission, die
sagte: Mit dieser Brücke verliert ihr den Titel. Ministerpräsident
Milbradt konterte: "Der Verlust des Welterbetitels ist
verkraftbar", denn, so das machiavellistische Argument, die
Touristen kommen auch so. Zu einer sogar gerichtlich angemahnten
Mediation war auf seiten der Staatsregierung niemand bereit. Jüngst
urteilte das höchste zuständige Verwaltungsgericht Sachsens: Ihr habt
keine Handhabe gegen die von euch selbst beanspruchte direkte
Demokratie. Das Ergebnis eures Bürgerentscheids liegt vor, nun müßt
ihr die Brücke bauen. Sofort. Punktum!
Das war Anfang März. Inzwischen regt sich immer heftigerer
innerstädtischer Widerstand, denn so nahe war die vermaledeite Brücke
noch nie. Am Wochenende ist auf den Elbwiesen die Entschlossenheit der
Gegner zu besichtigen. Mehrere Tausend Menschen marschierten am
letzten Märzsonntag für den Erhalt des Welterbes vom Waldschlößchen
zur Frauenkirche, wo Ludwig Güttler, Startrompeter und
Wiederaufbau-Guru, und der Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen,
Martin Roth, die Demonstranten anfeuerten. Während einige Dresdner
Wurstblätter ihrem Landesvater applaudieren und anmahnen, daß die
Touristen auch weiterhin mit der Weißen Flotte durchs Elbtal gondeln
werden, mit oder ohne Brücke resp. Welterbetitel, läßt die versammelte
Kulturszene der Stadt keine Gelegenheit aus, sich gegen das Projekt
auszusprechen: von der Planung her häßlich, in sachen Unesco
rufschädigend und blamabel und mit veranschlagten 130 Millionen Euro
Baukosten geradezu irrwitzig teuer -- so ihre Argumente. Seit die
Sache so richtig ins Rollen gekommen ist, findet auch die Initiative
"Welterbe erhalten" regen Zuspruch. Die Liste der
Unterzeichner bei der noch laufenden Online-Unterschriftenaktion gegen
die Brücke, die binnen weniger Wochen um mehrere Tausend anwuchs,
liest sich wie ein Who is Who der versammelten Kulturprominenz, lokal
wie mittlerweile auch (inter)national.
So kommt es, daß eine Brücke, die es noch gar nicht gibt,
Geschichte macht. Sogar der Bundestag hat schon über sie
diskutiert. Die Berliner tageszeitung polterte letzten
August, nachdem die Stadt bei Frank-Walter Steinmeier um Vermittlung
angefragt hatte: "Habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Das
Auswärtige Amt? Nur weil der Weltkulturerbe-Titel der Unesco auf dem
Spiel steht? Und die Politik hat nichts Besseres zu tun, als bei dem
Kasperletheater auch noch mitzumachen." Vor gut zwei Monaten
stellte Ira Mazzoni in der Süddeutschen Zeitung die
rhetorische Frage: "Aber was, wenn in Dresden nun die
Welterbekonvention für Deutschland ausgehebelt wird?" Und gab
selbst die Antwort: "Unvorstellbar." Denn es wäre in der
Geschichte der Institution Unesco-Weltkulturerbe das erste Mal, daß
einem Ort der Welterbetitel aberkannt würde. Selbst beim prominenten
Streit um Hochhäuser in der Nähe des Kölner Doms wurde ja eine
Einigung erzielt, mit der beide Seiten leben konnten.
Daß es auch in Dresden stets stadtplanerische Alternativstandorte
für eine kürzere, schlichtere und vor allem billigere Brücke gab oder
daß die nicht ganz abwegige Idee eines -- landschaftsschonenden --
Tunnels diskutiert wurde, hat sich in der Stadt noch immer nicht
herumgesprochen. Während dessen steht Dresden bereits auf der roten
Liste, seit erkennbar ist, daß die derzeitigen Planungen auf Gedeih
und Verderb umgesetzt werden sollen; die Aberkennung droht im
Juni. Für die Gerichte, die, da ihnen keine andere Wahl blieb,
schlicht formaljuristische Urteile sprachen, war vor allem
ausschlaggebend, daß der Bundestag das Weltkulturerbe bisher nicht in
nationales Recht überführt hat, Länder und Kommunen daher rein
rechtlich nicht daran gebunden seien. Inzwischen wurde ein Brief des
Auswärtigen Amtes an die Kultusminister der Länder bekannt, in dem
gerade diese Rechtsprechung als "verfassungsrechtlich
bedenklich" eingeschätzt und darin ein "erheblicher
Schaden für die Bundesrepublik Deutschland und alle Länder"
vorausgesehen wird. Das Kasperletheater geht also weiter.
Dresden gegen den Rest der Welt -- unter Superlativen tun
wir’s hier nimmer. Im "symbolischen Zentrum des deutschen
Kulturkonservatismus", so Evelyn Finger am 15. März 2007 in der
Zeit, wird das Welterbe für ein schmuck- bis sinnloses
Straßenbauprojekt beerdigt. Zugleich wird von hier aus das
Bundesverfassungsgericht angerufen, um über eine neue Brücke für
Dresden zu entscheiden. Verrückter geht es wirklich nicht mehr.
"Es ist nichts Wesentliches zerstört worden",
resümierte schon vor einigen Jahren der bekannte Dresdner
Architekturhistoriker und Denkmalpfleger Volker Helas in einem Band
über den Bauplatz Dresden seit 1990 (Michel Sandstein Verlag,
Dresden 2003) und befand, daß schon allein diese Feststellung
"ein Grund für Freudenfeste" sei. "Wäre die
geplante Waldschlößchenbrücke an ihrer vorgesehenen, landschaftlich
hochempfindlichen Position schon gebaut, fiele dieses Resümee wohl
anders aus, aber sie ist es noch nicht." Hoffen wir, daß das
Märchen doch noch gut ausgeht und es am Ende ein Freudenfest gibt, auf
dem alle tanzen. _//
autoreninfo

Patrick Wilden , geboren 1973, aufgewachsen in der Gegend zwischen Kassel und Göttingen. Geschichtsstudium in Tübingen und Rouen, Verlagsvolontariat in Stuttgart. Lebt und arbeitet als Antiquar in Dresden. Schreibt neben gelegentlichen journalistischen Arbeiten Lyrik und Kurzprosa. Mitarbeit bei den Internet-Zeitschriften parapluie und kultura-extra.de. Im Jahr 2000 Würth-Literatur-Preis mit der Kurzgeschichte "Klassenfeind". Gründungsmitglied des Literaturforums Dresden.