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korrespondenz -> dresden, 27. jul 2008
 
 
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Das arrogante Sachsen

von Patrick Wilden

Dresden, 27. Jul 2008_ Inzwischen ist er auch in Sachsen abgeholzt, der schwarzrotgoldene Fahnenwald. Zuletzt hatten nur wenige Unermüdliche noch geflaggt, und zwar nicht unter zwei Bundestrikoloren made in China. Die Wimpel des Reichs der Mitte oder auch die von Gerolsteiner und Skoda für die nächsten Sport- und Medienspektakel wird sich wohl niemand aufs Auto stecken. Dabei wäre es so spannend gewesen, den heißblütigen und patriotischen Sachsen nach gewonnener Europameisterschaft bei ihrem Autocorso durch die aufgerissenen Straßen Dresdens und entlang der von Brückenbaustellen verunzierten Elbaue zuzuschauen. So bleibt der fade Nachgeschmack vergeudeter Abende mit komasaufenden Jugendlichen im Angesicht von Großleinwänden vor historischer Kulisse und einer geräuschmäßig total verhagelten Biergartensaison im Juni. Wofür haben wir bloß gekämpft?

Diese Frage tauchte in den vergangenen Wochen häufiger mal am politischen Horizont des Freistaats und seiner behäbigen Kapitale auf. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich mit einem entfernten Bekannten an dem Tag verbrüderte, als Ministerpräsident Milbradt seinen Rücktritt bekannt gab. Ein Raunen ging durchs Land -- endlich, er hat es verstanden! Das war im April und bildete den sommerlichen Lichtstreif am Horizont eines ansonsten ziemlich durchwachsenen Frühjahrs. Und dann ging, so schien es, Ende Mai tatsächlich die Sonne über dem Freistaat auf: der Neue, europapolitisch gewiefter und braungebrannter Sorbe aus dem oberlausitzischen Panschwitz-Kuckau, sprachgewandt und ohne augenscheinliche DDR-Altlasten, machte sofort eine ganz andere Figur als der plumpe Sauerländer, der sich seinerzeit gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Ziehvaters Biedenkopf an die Macht geputscht hatte. Daß auch Stanislaw Tillich ein CDU-Parteibuch besitzt, konnte vor dem Hintergrund seiner katholischen Abkunft als verschmerzbar gelten.

Doch das Frühlingsgefühl währte nur kurz. Bereits bei seinem ersten Statement zur inzwischen zum Gradmesser für die politische Beweglichkeit der sächsischen Führungsclique mutierten Waldschlößchenbrücke -- in Internetforen ist gemeiniglich nur noch von "WSB" die Rede --, das findige Zeitungsmacher dem neuen Sachsenlenker nicht schnell genug ablauschen konnten, wußte auch der letzte Illusionist, wo der Hammer hängt -- eben im politischen Werkzeugschrank der sächsischen CDU. "Wird gebaut", war die klare Ansage. Das ist nunmal so im östlichsten Freistaat des Landes. Auch die besten des Volkes ordnen sich dem Willen des Systems unter, schließlich gibt es ja keine wirkliche Alternative, sprich Opposition. Ich habe mich natürlich auch deswegen geärgert, weil ich mich fragte, wofür wir, mein Bruder in spiritu, seine Frau und ich, nun den teuren Sekt vergossen haben, um doch nur wieder denselben Quatsch zu kriegen. Immerhin habe ich so neue Freunde gefunden, die ich nun mit "Du" anreden kann. Und geteiltes Leid, das wissen wir, ist halbes Leid.

Die ohnehin kaum merkliche Rochade an der Freistaatsspitze wurde dann auch sofort vom Lärm der Europameisterschaft überdröhnt. Wo die Nation ruft, steht Sachsen sich eher selbst im Weg -- wie damals mit Napoleon. Fast ebenso unbemerkt fanden im Freistaat Kommunalwahlen statt. Und nicht nur das: Sie fanden wie von Geisterhand in nur noch zehn Landkreisen statt -- zehn Landkreise und drei kreisfreie Städte, das ist alles, was von Sachsen geblieben ist. Darunter befinden sich so illustre Neuschöpfungen wie "Nordsachsen" und "Mittelsachsen" und der Landkreis "Sächsische Schweiz / Osterzgebirge". Böse Zungen sagen, daß demnächst Kennzeichen wie "NS" oder "SS" auf Sachsens Straßen rollen werden. Freilich wäre das ungerecht und undankbar, stand doch erst kürzlich ein gut recherchierter Bericht in einer deutschen Tageszeitung zu lesen, in dem den Verhältnissen in der notorisch NPD wählenden Grenzgemeinde Reinhardtsdorf-Schöna auf den Grund gegangen wurde. Daß in den pittoresken Dörflein der Sächsischen Schweiz eine Kommunalwahl immer auch eine Personenwahl ist, erstaunt nicht wirklich. Bei genauerem Hinsehen stellte sich jedenfalls heraus, daß zwar einerseits ein Viertel der Bevölkerung den rechten Kandidaten gewählt, daß aber andererseits mehr als genauso viele die sich gegen rechts engagierenden Freien Wähler unterstützt hatten -- und von den sogenannten Volksparteien war da noch gar nicht die Rede.

Freilich ändert das nichts daran, daß wir ab dem 1. August mit der seit der Wende dritten, sicherlich ungleich kreativeren Generation Autokennzeichnen durchs Land rollen dürften -- und auf den zahllosen Garagengrundstücken rosten bestimmt noch jede Menge 311er Wartburgs mit alten DDR-Plaketten vor sich hin. Vor allem auf dem Land wird die Zusammenlegung kritisch gesehen, nachdem erst zwischen 1994 und 1996 die Anzahl der Landkreise von 48 auf 22 reduziert worden war. Aber was sollen sie tun, die Verwalter des öffentlichen Lebens, wenn sie sich einem prognostizierten Bevölkerungsrückgang um streckenweise bis zu 20 Prozent gegenübersehen. Nur "Boomtown LE" wird noch ein wenig Wachstumspotential zugetraut. Und eben Dresden.

Es ist also noch nicht alles verloren im gemütlichen Sachsenland. Allerdings hat sich auch nicht viel geändert. Die konservative Systempartei besetzt alle zehn neuen Landratsposten -- und den einer Dresdner Oberbürgermeisterin obendrein. Nach dem Hickhack um den beurlaubten, weil bei Flutgeldern allzu spendabelen Ingolf Roßberg von der FDP schien man sich in der Hauptstadt nach Ruhe und Ordnung zu sehnen. Für die Wahl hatte der scheidende Georg Milbradt noch einen letzten Trumpf ausgespielt, indem er seine populäre Sozialministerin Helma Orosz in den Ring schickte. Die soll zwar nicht eben begeistert über ihre Nominierung gewesen sein, dafür lächelte sie gleich zwei Wahlrunden lang sehr tapfer von allen Litfaßsäulen und versprach mit orangenem Stift in der Hand und Bauhelm auf dem Kopf "Kulturplätze" und ähnlichen Unsinn mehr. Insgesamt zeichnete sich der Dresdner OB-Wahlkampf durch ein Feuerwerk an Nullformeln aus. Wen der Fahnenwald nicht interessierte, der konnte sich am Schilderwald satt sehen, auf dem viel von Gerechtigkeit, Zukunft und Arbeitsplätzen zu lesen war. Damit dürfte sich Dresden kaum von anderen Städten abheben, schließlich hatte keiner der Kandidaten -- bis auf die Frau von den Grünen vielleicht -- den Mut, offen mit der "WSB" Politik zu machen. Das Resultat war dann entsprechend: von den Wahlbürgern blieben beim ersten Durchgang fast 58 Prozent zuhause, die CDU-Kandidatin verfehlte nur knapp ihre Wahl ins höchste Amt der Stadt. Beim nächsten Durchgang blieben dann gleich ungefähr zwei Drittel der Wähler den Urnen fern, und Frau Orosz wurde mit rund 64 Prozent der Stimmen gewählt, während der Kandidat der Linksfraktion, der einzige im Rennen verbliebene "Linke", knapp ein Drittel der Stimmen bekam. Das ist eben auch Demokratie, wenn ein Politiker mit rund 90.000 Stimmen Oberbürgermeister einer Halb-Millionen-Stadt wird. Schlauberger würden jetzt einwenden, daß die Wahlbeteiligung in Amerika ja noch viel schlechter sei.

Und zuletzt kam nun noch die Meldung, daß den Dresdnern ihr Unesco-Titel noch ein weiteres Jahr erhalten bleibt. Ohne allzusehr schwarzmalen zu wollen -- es dürfte das letzte Weltkulturerbe-Jahr für Dresden sein, wir sollten es also genießen. Aber können wir das? Wer wie ich gelegentlich das zu schützende Elbtal an der Nahtstelle der arrondierten Brückenköpfe der "WSB" durchradelt, wird schlicht und ergreifend feststellen, daß dort kaum mehr etwas zu Schützendes geblieben ist. Noch im Februar 2008 gab der Dresdner Schriftsteller Thomas Rosenlöcher in einer großen Hamburger Wochenzeitung einen verschmitzt-ergreifenden Bericht über die den Baumaßnahmen vorangehenden Rodungen und die Proteste der Naturschützer, der in dem Schreckensruf kulminierte: "Ihr zersägt eure Enkel!" Es hat nichts genutzt. Hunderte Bäume wurden gefällt -- ein echter kleiner Wald, nix Fahnen, keine Politikerkonterfeis. Unzählige Pylone für das Tragwerk der Brücke sind bereits versenkt. Dem Fluß wurde eine Art Seitenarm gebaggert, in dem demnächst ein weiteres Fundament gegossen werden soll. Derweil wachsen am anderen Flußufer hohe Gußwände für neue abenteuerliche Betonvorrichtungen aus dem Boden. Auch die Grabungsarbeiten für die Zufahrtstunnel haben längst begonnen. Mit dem Mehrheitsbeschluß des Bürgerentscheids von 2005 in der Westentasche werden, ganz im Sinne der Gesetze, vollendete Tatsachen geschaffen. Die Wurstblätter wiederholen gebetsmühlenartig die Sachlage und klagen die nationalen Medien und internationalen Organisationen an, Volkes Willen nicht zu respektieren. Die Bundeskanzlerin leistet einerseits Wahlhilfe für ihre in Dresden nun auf allen Ebenen der Exekutive regierende Partei, gibt sich andererseits sibyllinisch, indem sie den Kompromiß eines Tunnels "begrüßen" würde -- einen "Kompromiß", von dem bei den wirklich Mächtigen nie die Rede war. Selbst die -- welterbefreundliche -- Zeit gibt sich inzwischen offen Verschwörungstheorien hin, wenn Jens Jessen mutmaßt, daß an den Schläfen der verantwortlichen Politiker längst der kalte Lauf einer Pistole der Baumafia liegt. Dazwischen wuseln nach wie vor die sieben Aufrechten von der Grünen Liga Sachsen und anderen Naturschutzverbänden, die Engagierten, die meisten Kulturschaffenden, viele Neustadt-Bewohner und ein paar versprengte idealistische Politiker umher, halten ihre lautstarken Protestversammlungen auf dem Neumarkt ab, reichen letzte teure Klagen ein. Und hoffen, denn die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Hoffnung worauf?

Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß Dresden in der Wirklichkeit angekommen ist. Der Mythos ist verraucht -- nein, er ist selber zum Mythos geworden. Der Schriftsteller Volker Braun, gebürtig aus der Elbestadt, dichtete soeben lakonisch in der Zeit (Nr. 30, 2008): "Dummheit / Ists die dauern will und loslegt / Von Amts wegen oder Volks Willen: / Wollt ihr den totalen Sieg? -- Jaa / (Scholls aus dem Tal), und ruiniert / Lag vor mir die Ziegelsteppe, wo wir / Steine klopften". Die "WSB" wird, so schmerzlich und unerhört das ist, gebaut -- wobei man sich auch dabei nie zu sicher sein sollte; Totgesagte (wie der Kompromiß-Tunnel) leben oftmals länger, als es manch einem lieb ist. Der schmucke Titel "Unesco-Weltkulturerbe Dresdner Elbtal" wird im kommenden Sommer aberkannt. Die Unesco-Mitarbeiter werden sich vielleicht hinter vorgehaltener Hand darüber unterhalten, wie man so bescheuert sein kann, solch einen Status sausen zu lassen; vielleicht auch nicht. Die konservative sächsische Systempartei wird große Krokodilstränen weinen, während die Fortschrittler offen über die Aberkennung jubeln und ihre Planungen für dekorative Hotelneubauten am Elbhang nun offen propagieren dürfen. Freuen wird sich auch der ADAC, der -- als demokratische deutsche Volkvertretung -- ohnehin gefordert hatte, den Titel lieber gleich zurückzugeben. Und die Mitarbeiter des Regierungspräsidenten können endlich schneller zur Arbeit kommen. Viele werden die Schultern zucken und so etwas sagen wie: "Hat uns doch sowieso nischt gebracht." Eine dumpfe Mehrheit wird es schlicht gelangweilt zur Kenntnis nehmen. Manche Landschaftsästheten -- die in Dresden zahlreicher sind als in anderen Städten -- werden mit blutendem Herzen vor dem Ungetüm stehen. Die Kulturschaffenden wie auch die Abonnenten überregionaler Tageszeitungen und andere Über-den-Tellerrand-Gucker haben sich längst daran gewöhnt, daß ihre Argumente nichts zählen. Ich tippe auch darauf, daß irgendjemand einen schönen Spitznamen für die "WSB" in Umlauf bringen wird, so etwas wie "Zitronenpresse" oder "Freßwürfel", die es in der Stadt beide schon gibt bzw. gab. Und den etwas informierteren der Drei-Tage-Touristen, denen man vor den barockisierten Neubauten der Innenstadt lange genug die vom Freiherrn von Pöllnitz kolportierten Eskapaden Augusts des Starken und des Galanten Sachsen (so der Titel seiner berühmten Schrift) eingebleut hat, wird man auf den Schiffen der Weißen Flotte, die unter der Brücke ihre Schornsteine einziehen, einreden, man brauche den Titel gar nicht, schließlich sei man in Dresden längst Weltkulturerbe der Herzen.

Irgendwie ist es doch manchmal fast liebenswert, dieses arrogante Sachsen. _//
 

autoreninfo 
Patrick Wilden , geboren 1973, aufgewachsen in der Gegend zwischen Kassel und Göttingen. Geschichtsstudium in Tübingen und Rouen, Verlagsvolontariat in Stuttgart. Lebt und arbeitet als Antiquar in Dresden. Schreibt neben gelegentlichen journalistischen Arbeiten Lyrik und Kurzprosa. Mitarbeit bei den Internet-Zeitschriften parapluie und kultura-extra.de. Im Jahr 2000 Würth-Literatur-Preis mit der Kurzgeschichte "Klassenfeind". Gründungsmitglied des Literaturforums Dresden.
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