Dresden, 27. Jul 2008_ Inzwischen
ist er auch in Sachsen abgeholzt, der schwarzrotgoldene Fahnenwald.
Zuletzt hatten nur wenige Unermüdliche noch geflaggt, und zwar nicht
unter zwei Bundestrikoloren made in China. Die Wimpel des
Reichs der Mitte oder auch die von Gerolsteiner und Skoda für die
nächsten Sport- und Medienspektakel wird sich wohl niemand aufs Auto
stecken. Dabei wäre es so spannend gewesen, den heißblütigen und
patriotischen Sachsen nach gewonnener Europameisterschaft bei ihrem
Autocorso durch die aufgerissenen Straßen Dresdens und entlang der von
Brückenbaustellen verunzierten Elbaue zuzuschauen. So bleibt der fade
Nachgeschmack vergeudeter Abende mit komasaufenden Jugendlichen im
Angesicht von Großleinwänden vor historischer Kulisse und einer
geräuschmäßig total verhagelten Biergartensaison im Juni. Wofür haben
wir bloß gekämpft?
Diese Frage tauchte in den vergangenen Wochen häufiger mal am
politischen Horizont des Freistaats und seiner behäbigen Kapitale
auf. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich mit einem entfernten
Bekannten an dem Tag verbrüderte, als Ministerpräsident Milbradt
seinen Rücktritt bekannt gab. Ein Raunen ging durchs Land -- endlich,
er hat es verstanden! Das war im April und bildete den sommerlichen
Lichtstreif am Horizont eines ansonsten ziemlich durchwachsenen
Frühjahrs. Und dann ging, so schien es, Ende Mai tatsächlich die Sonne
über dem Freistaat auf: der Neue, europapolitisch gewiefter und
braungebrannter Sorbe aus dem oberlausitzischen Panschwitz-Kuckau,
sprachgewandt und ohne augenscheinliche DDR-Altlasten, machte sofort
eine ganz andere Figur als der plumpe Sauerländer, der sich seinerzeit
gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Ziehvaters Biedenkopf an die
Macht geputscht hatte. Daß auch Stanislaw Tillich ein CDU-Parteibuch
besitzt, konnte vor dem Hintergrund seiner katholischen Abkunft als
verschmerzbar gelten.
Doch das Frühlingsgefühl währte nur kurz. Bereits bei seinem ersten
Statement zur inzwischen zum Gradmesser für die politische
Beweglichkeit der sächsischen Führungsclique mutierten
Waldschlößchenbrücke -- in Internetforen ist gemeiniglich nur noch von
"WSB" die Rede --, das findige Zeitungsmacher dem neuen
Sachsenlenker nicht schnell genug ablauschen konnten, wußte auch der
letzte Illusionist, wo der Hammer hängt -- eben im politischen
Werkzeugschrank der sächsischen CDU. "Wird gebaut", war
die klare Ansage. Das ist nunmal so im östlichsten Freistaat des
Landes. Auch die besten des Volkes ordnen sich dem Willen des Systems
unter, schließlich gibt es ja keine wirkliche Alternative, sprich
Opposition. Ich habe mich natürlich auch deswegen geärgert, weil ich
mich fragte, wofür wir, mein Bruder in spiritu, seine Frau
und ich, nun den teuren Sekt vergossen haben, um doch nur wieder
denselben Quatsch zu kriegen. Immerhin habe ich so neue Freunde
gefunden, die ich nun mit "Du" anreden kann. Und
geteiltes Leid, das wissen wir, ist halbes Leid.
Die ohnehin kaum merkliche Rochade an der Freistaatsspitze wurde
dann auch sofort vom Lärm der Europameisterschaft überdröhnt. Wo die
Nation ruft, steht Sachsen sich eher selbst im Weg -- wie damals mit
Napoleon. Fast ebenso unbemerkt fanden im Freistaat Kommunalwahlen
statt. Und nicht nur das: Sie fanden wie von Geisterhand in nur noch
zehn Landkreisen statt -- zehn Landkreise und drei kreisfreie Städte,
das ist alles, was von Sachsen geblieben ist. Darunter befinden sich
so illustre Neuschöpfungen wie "Nordsachsen" und
"Mittelsachsen" und der Landkreis "Sächsische
Schweiz / Osterzgebirge". Böse Zungen sagen, daß demnächst
Kennzeichen wie "NS" oder "SS" auf Sachsens
Straßen rollen werden. Freilich wäre das ungerecht und undankbar,
stand doch erst kürzlich ein gut recherchierter Bericht in einer
deutschen Tageszeitung zu lesen, in dem den Verhältnissen in der
notorisch NPD wählenden Grenzgemeinde Reinhardtsdorf-Schöna auf den
Grund gegangen wurde. Daß in den pittoresken Dörflein der Sächsischen
Schweiz eine Kommunalwahl immer auch eine Personenwahl ist, erstaunt
nicht wirklich. Bei genauerem Hinsehen stellte sich jedenfalls heraus,
daß zwar einerseits ein Viertel der Bevölkerung den rechten Kandidaten
gewählt, daß aber andererseits mehr als genauso viele die sich gegen
rechts engagierenden Freien Wähler unterstützt hatten -- und von den
sogenannten Volksparteien war da noch gar nicht die Rede.
Freilich ändert das nichts daran, daß wir ab dem 1. August mit der
seit der Wende dritten, sicherlich ungleich kreativeren Generation
Autokennzeichnen durchs Land rollen dürften -- und auf den zahllosen
Garagengrundstücken rosten bestimmt noch jede Menge 311er Wartburgs
mit alten DDR-Plaketten vor sich hin. Vor allem auf dem Land wird die
Zusammenlegung kritisch gesehen, nachdem erst zwischen 1994 und 1996
die Anzahl der Landkreise von 48 auf 22 reduziert worden war. Aber was
sollen sie tun, die Verwalter des öffentlichen Lebens, wenn sie sich
einem prognostizierten Bevölkerungsrückgang um streckenweise bis zu 20
Prozent gegenübersehen. Nur "Boomtown LE" wird noch ein
wenig Wachstumspotential zugetraut. Und eben Dresden.
Es ist also noch nicht alles verloren im gemütlichen Sachsenland.
Allerdings hat sich auch nicht viel geändert. Die konservative
Systempartei besetzt alle zehn neuen Landratsposten -- und den einer
Dresdner Oberbürgermeisterin obendrein. Nach dem Hickhack um den
beurlaubten, weil bei Flutgeldern allzu spendabelen Ingolf Roßberg von
der FDP schien man sich in der Hauptstadt nach Ruhe und Ordnung zu
sehnen. Für die Wahl hatte der scheidende Georg Milbradt noch einen
letzten Trumpf ausgespielt, indem er seine populäre Sozialministerin
Helma Orosz in den Ring schickte. Die soll zwar nicht eben begeistert
über ihre Nominierung gewesen sein, dafür lächelte sie gleich zwei
Wahlrunden lang sehr tapfer von allen Litfaßsäulen und versprach mit
orangenem Stift in der Hand und Bauhelm auf dem Kopf
"Kulturplätze" und ähnlichen Unsinn mehr. Insgesamt
zeichnete sich der Dresdner OB-Wahlkampf durch ein Feuerwerk an
Nullformeln aus. Wen der Fahnenwald nicht interessierte, der konnte
sich am Schilderwald satt sehen, auf dem viel von Gerechtigkeit,
Zukunft und Arbeitsplätzen zu lesen war. Damit dürfte sich Dresden
kaum von anderen Städten abheben, schließlich hatte keiner der
Kandidaten -- bis auf die Frau von den Grünen vielleicht -- den Mut,
offen mit der "WSB" Politik zu machen. Das Resultat war
dann entsprechend: von den Wahlbürgern blieben beim ersten Durchgang
fast 58 Prozent zuhause, die CDU-Kandidatin verfehlte nur knapp ihre
Wahl ins höchste Amt der Stadt. Beim nächsten Durchgang blieben dann
gleich ungefähr zwei Drittel der Wähler den Urnen fern, und Frau Orosz
wurde mit rund 64 Prozent der Stimmen gewählt, während der Kandidat
der Linksfraktion, der einzige im Rennen verbliebene
"Linke", knapp ein Drittel der Stimmen bekam. Das ist
eben auch Demokratie, wenn ein Politiker mit rund 90.000 Stimmen
Oberbürgermeister einer Halb-Millionen-Stadt wird. Schlauberger würden
jetzt einwenden, daß die Wahlbeteiligung in Amerika ja noch viel
schlechter sei.
Und zuletzt kam nun noch die Meldung, daß den Dresdnern ihr
Unesco-Titel noch ein weiteres Jahr erhalten bleibt. Ohne allzusehr
schwarzmalen zu wollen -- es dürfte das letzte Weltkulturerbe-Jahr für
Dresden sein, wir sollten es also genießen. Aber können wir das? Wer
wie ich gelegentlich das zu schützende Elbtal an der Nahtstelle der
arrondierten Brückenköpfe der "WSB" durchradelt, wird
schlicht und ergreifend feststellen, daß dort kaum mehr etwas zu
Schützendes geblieben ist. Noch im Februar 2008 gab der Dresdner
Schriftsteller Thomas Rosenlöcher in einer großen Hamburger
Wochenzeitung einen verschmitzt-ergreifenden Bericht über die den
Baumaßnahmen vorangehenden Rodungen und die Proteste der
Naturschützer, der in dem Schreckensruf kulminierte: "Ihr
zersägt eure Enkel!" Es hat nichts genutzt. Hunderte Bäume
wurden gefällt -- ein echter kleiner Wald, nix Fahnen, keine
Politikerkonterfeis. Unzählige Pylone für das Tragwerk der Brücke sind
bereits versenkt. Dem Fluß wurde eine Art Seitenarm gebaggert, in dem
demnächst ein weiteres Fundament gegossen werden soll. Derweil wachsen
am anderen Flußufer hohe Gußwände für neue abenteuerliche
Betonvorrichtungen aus dem Boden. Auch die Grabungsarbeiten für die
Zufahrtstunnel haben längst begonnen. Mit dem Mehrheitsbeschluß des
Bürgerentscheids von 2005 in der Westentasche werden, ganz im Sinne
der Gesetze, vollendete Tatsachen geschaffen. Die Wurstblätter
wiederholen gebetsmühlenartig die Sachlage und klagen die nationalen
Medien und internationalen Organisationen an, Volkes Willen nicht zu
respektieren. Die Bundeskanzlerin leistet einerseits Wahlhilfe für
ihre in Dresden nun auf allen Ebenen der Exekutive regierende Partei,
gibt sich andererseits sibyllinisch, indem sie den Kompromiß eines
Tunnels "begrüßen" würde -- einen
"Kompromiß", von dem bei den wirklich Mächtigen nie die
Rede war. Selbst die -- welterbefreundliche -- Zeit gibt sich
inzwischen offen Verschwörungstheorien hin, wenn Jens Jessen mutmaßt,
daß an den Schläfen der verantwortlichen Politiker längst der kalte
Lauf einer Pistole der Baumafia liegt. Dazwischen wuseln nach wie vor
die sieben Aufrechten von der Grünen Liga Sachsen und anderen
Naturschutzverbänden, die Engagierten, die meisten Kulturschaffenden,
viele Neustadt-Bewohner und ein paar versprengte idealistische
Politiker umher, halten ihre lautstarken Protestversammlungen auf dem
Neumarkt ab, reichen letzte teure Klagen ein. Und hoffen, denn die
Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Hoffnung worauf?
Ich
kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß Dresden in der
Wirklichkeit angekommen ist. Der Mythos ist verraucht -- nein, er ist
selber zum Mythos geworden. Der Schriftsteller Volker Braun, gebürtig
aus der Elbestadt, dichtete soeben lakonisch in der Zeit (Nr. 30, 2008): "Dummheit / Ists die dauern
will und loslegt / Von Amts wegen oder Volks Willen: / Wollt ihr den
totalen Sieg? -- Jaa / (Scholls aus dem Tal), und ruiniert / Lag vor
mir die Ziegelsteppe, wo wir / Steine klopften". Die "WSB"
wird, so schmerzlich und unerhört das ist, gebaut -- wobei man
sich auch dabei nie zu sicher sein sollte; Totgesagte (wie der
Kompromiß-Tunnel) leben oftmals länger, als es manch einem
lieb ist. Der schmucke Titel "Unesco-Weltkulturerbe Dresdner
Elbtal" wird im kommenden Sommer aberkannt. Die
Unesco-Mitarbeiter werden sich vielleicht hinter vorgehaltener Hand
darüber unterhalten, wie man so bescheuert sein kann, solch
einen Status sausen zu lassen; vielleicht auch nicht. Die
konservative sächsische Systempartei wird große
Krokodilstränen weinen, während die Fortschrittler offen
über die Aberkennung jubeln und ihre Planungen für
dekorative Hotelneubauten am Elbhang nun offen propagieren dürfen.
Freuen wird sich auch der ADAC, der -- als demokratische deutsche
Volkvertretung -- ohnehin gefordert hatte, den Titel lieber gleich
zurückzugeben. Und die Mitarbeiter des Regierungspräsidenten
können endlich schneller zur Arbeit kommen. Viele werden die
Schultern zucken und so etwas sagen wie: "Hat uns doch sowieso
nischt gebracht." Eine dumpfe Mehrheit wird es schlicht
gelangweilt zur Kenntnis nehmen. Manche Landschaftsästheten --
die in Dresden zahlreicher sind als in anderen Städten -- werden
mit blutendem Herzen vor dem Ungetüm stehen. Die
Kulturschaffenden wie auch die Abonnenten überregionaler
Tageszeitungen und andere Über-den-Tellerrand-Gucker haben sich
längst daran gewöhnt, daß ihre Argumente nichts
zählen. Ich tippe auch darauf, daß irgendjemand einen
schönen Spitznamen für die "WSB" in Umlauf
bringen wird, so etwas wie "Zitronenpresse" oder
"Freßwürfel", die es in der Stadt beide schon
gibt bzw. gab. Und den etwas informierteren der Drei-Tage-Touristen,
denen man vor den barockisierten Neubauten der Innenstadt lange genug
die vom Freiherrn von Pöllnitz kolportierten Eskapaden Augusts
des Starken und des Galanten Sachsen (so der Titel seiner
berühmten Schrift) eingebleut hat, wird man auf den Schiffen der
Weißen Flotte, die unter der Brücke ihre Schornsteine
einziehen, einreden, man brauche den Titel gar nicht, schließlich
sei man in Dresden längst Weltkulturerbe der Herzen.
Irgendwie
ist es doch manchmal fast liebenswert, dieses arrogante Sachsen.
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autoreninfo

Patrick Wilden , geboren 1973, aufgewachsen in der Gegend zwischen Kassel und Göttingen. Geschichtsstudium in Tübingen und Rouen, Verlagsvolontariat in Stuttgart. Lebt und arbeitet als Antiquar in Dresden. Schreibt neben gelegentlichen journalistischen Arbeiten Lyrik und Kurzprosa. Mitarbeit bei den Internet-Zeitschriften parapluie und kultura-extra.de. Im Jahr 2000 Würth-Literatur-Preis mit der Kurzgeschichte "Klassenfeind". Gründungsmitglied des Literaturforums Dresden.