Gelsenkirchen, 18. Sep 2008_ Der Tag: Samstag. Die Zeit: Fünfzehndreißig. Die Welt: Ein
Schalensitz. Die Farbe: Blau. Hochamt auf Schalke. Die Ministranten
erscheinen in Vereinsfarben. Trikots, Schals, Mützen, Fahnen. Schon
auf der Autobahn haben sie Farbe bekannt. Schalke beginnt in der
Wiege. Schalke endet nicht mit dem Tod. Und von Ewigkeit zu Ewigkeit:
Schalke.
Mangelware
Ein Stadion füllt sich. Sechzigtausend streben der Kathedrale
entgegen -- festlich geschmückt. Die Woche: Das Muß. Der Samstag: Die
Kür. Wer hier teilhaben darf, kann sich glücklich
schätzen. Eintrittskarten sind Mangelware. Das gehört dazu. Wenn
jeder bekäme, was er will -- was hätten Wünsche noch für einen Wert?
Die Logenplätze füllen sich erst unmittelbar vor dem Spiel. Die
Geladenen laben sich im VIP-Bereich. Genuß bis zuletzt. Die anderen
essen Würstchen. Trinken Bier, Cola, Radler, Kaffee. Für die einen ist
Schalke Religion -- für die anderen ist es chic.
Geld und Gefühle
Auf den Gängen der Arena: Monitore. Sie zeigen schon das
Innenleben. Spieler, die sich warmlaufen. Interviews. Werbung. Die,
die jetzt eintreffen, kommen allein, als Familie, als Gruppe. Ihr
Magnet heißt Arena. Ein Dom der Freuden, ein Dom der
Leiden. Eigentlich müßte all das hier Schalke heißen, aber
Geldverdienen geht anders. Sie haben das Stadion nach einem Bier
benannt und auf den Trikots prangt der Name des russischen
Sponsors. Hier wird Philosophie zu Energie. Hier werden Gefühle zu
Geld.
Wer als Neuling auf Schalke einreitet, merkt schnell: Das hier ist
mehr als Liebe, es ist mehr als Familie, es ist mehr als Politik. In
den Gründerjahren mag Schalke vielleicht Sport gewesen sein -- jetzt
ist es Religion. Weltreligion. Mission ist überall. Missioniert wird
über Satellit. Sie kennen Schalke auf allen Erdteilen. Aber wer in
Australien ein Spiel sieht, sich als Fan fühlt, wird trotzdem nie
verstehen, was sich hier abspielt -- bei denen, die Schalke im Blut
haben.
Durchlauferhitzer
10 080 Minuten hat die Woche -- 9 990 sind Vorspiel. Manche denken,
in der Woche findet Wirklichkeit statt und am Samstag ist
Ausnahmezustand. Das ist falsch: Da unten auf dem Grün schütten sie,
wenn Heimspiel ist, das Leben von 60nbsp;000 Gläubigen in den
Durchlauferhitzer. Glück ist nicht planbar. Leiden auch nicht. Sie
liefern sich dem Schicksal aus. Zusammenhalt stiftet einzig der
Glaube, und das Bekenntnis heißt hier Schalke. Auch Irrglaube ist in
der Welt. Der Irrglaube heißt heute Bochum und wird -- das ist nicht
nur auf Schalke so -- eingezäunt. Die Irrglaubenden sitzen abgeschirmt
-- weit weg von da, wo Schalkes Herz schlägt -- weit weg von der
Nordkurve. Auch die Ungläubigen haben Priester. Auf einer Art Kanzel
steht der Vorbeter im Gästeblock und heizt den Seinen
ein. Megafongestützt. Er reißt die Arme hoch zum Dirigat, und die
Gemeinde singt (nicht nur die Spieler wärmen sich auf), klatscht;
schmettert geballte Fäuste an ausgestreckten Armen nach oben. Oben --
das ist hier das Loch in der Arenadecke. Schalker Himmel ist zwar
blau, aber er liegt unten -- auf dem Grün. Grüner Himmel -- blaue
Hölle.
Dann:
Die Hymne. "Wir stehen auf, weil wir Schalker sind."
Jetzt zeigen sie die Schals -- halten sie an weit geöffneten
Armen vor den Oberkörper. Jetzt ist alles ein großes Blau.
Jetzt setzt Magie ein. Aus Einzelwesen, Familien, Fangruppen wird
Schalke -- das Eine, Große.
Alles und Nichts
Jetzt lädt sich die Arena mit Energie auf:
Erwartung. Hoffnung. Schon bei der Vorstellung der Spieler zeigen sich
Liebe und Kritik. Wenn sie pfeifen, willst du nicht wirklich da unten
stehen und ihr Ziel sein. Sie tragen dich auf Händen -- sie stürzen
dich ins Nichts. Was jetzt und hier entsteht, ist weit mehr als die
Summe der Einzelteile.
Hier ist Menschsein im Zeitraffer zu sehen: Nachlaß, Vergebung und
Verzeihung. Liebe, Enttäuschung und Sehnsucht. Vorspiel, Höhepunkt und
Fall. Es ist eine Ehe, was da stattfindet zwischen Verein und
Volk. Sie lieben sich. Erwarten alles. Bekommen manchmal nichts. Sie
verfluchen die Elf auf dem Grün -- hassen sie ... aber all das doch
nur in der Gewißheit, daß Scheidung hier nicht möglich ist. Eine Ehe
kannst du beenden. Schalke-Fan ist ein ewiges Gelübde. Lebenslänglich
Blau. Aus diesem Wissen wächst die Energie. Hier liefern sie sich dem
Leben aus. Schutzlos. Bedingungslos. Unverstellt. Hier geht es nicht
um alles oder nichts. Hier geht es um alles und
nichts. Du kannst nicht aussuchen. Hier sind Bankdirektor und
Fließbandarbeiter gleich vor ihrem Gott: gleich ausgeliefert, gleich
ohnmächtig, gleich euphorisch. Gott ist Schalke.
"Halt", spricht die Zensur. Da fehlt ein
Buchstabe. "Gott ist Schalker", muß es heißen, und der
Papst ist Ehrenmitglied. Im Innern des Riesen haben sie eine
Kapelle. Heiraten auf Schalke? Das ist möglich. Manche lassen sich im
Trikot beerdigen. Königsblau. Schalke never ends. Hier hat der Tod
nichts zu scheiden.
Nordkurve
Schalkes Herz pocht in der Nordkurve. Hier geben sie alles. Haß und
Liebe, Verzweiflung und Kampf. Hier werden Geschichten geschrieben:
Nach drei Niederlagen (so eine der Geschichten) hat sich die Nordkurve
in den ersten 20 Minuten des nächsten Spiels vom Rasen abgewandt. Mit
dem Rücken standen sie zur Mannschaft. Ignoranz als Strafe.
Dann, nach 20 Minuten, dreht sich die Wand mit einem Schrei. Es
geht gegen Bayern. Die Wand schreit. Das Tor fällt. Noch heute
bekommen sie glasige Augen, wenn diese Geschichte erzählt
wird. Dergleichen findest du sonst nur in der Bibel. Stichwort:
Wunder.
Huhn, Ei, Urknall
Mannschaft und Fans, Volk und Regenten: Du weißt nicht, wer wer
ist. Keine Mannschaft ohne das Volk. Kein Volk ohne die
Mannschaft. Huhn oder Ei -- das ist in Schalke nicht die Frage. Das
eine geht nicht ohne das andere. Kein Huhn ohne Ei. Kein Ei ohne
Huhn. Sie bedingen sich gegenseitig. Das "Prinzip
Schalke" existierte längst vor der Erfindung des Fußballs. Es
ist das Prinzip des Urknalls. Alles Sein wird Energie.
Die Spieler auf dem Rasen: Verurteilte -- abhängig von der Gunst
der Schächer. Trifft einer den Ball, kämpft, setzt sich ein, hallt ein
"Schööön" durch die Arena. Versagt einer, springen sie
auf, greifen sich an den Kopf, lassen Schimpftiraden ins Rund
strömen. Die Emotionen können in Sekundenbruchteilen in ihr Gegenteil
wegbrechen. Die Tribünen: Ein Bienenstock. Alles bewegt sich. Sie
sammeln Siege und wenn du angreifst, stechen sie.
Bremsweg unendlich
In den Fanblocks strömen die Litaneien durcheinander. Spieler und
Fans inspirieren sich gegenseitig. Wenn vom Rasen nichts kommt, läuft
das Leben auf den Rängen noch ein Stück weiter, aber irgendwann
verstummt das Volk. Es verstummt in Entsetzen -- eher in
Lethargie. Ein Schuß aufs Tor bedeutet Wiederbelebung.
Auferstehung. "Ich glaube an Schalke ..."
Die Regeln unten sind einfach. Jeder kann sie verstehen. Alle
denken mit, aber eigentlich ist Denken hier Fühlen. Hier im
Allerheiligsten werden Denken, Fühlen, Erwarten, Tun und Lassen
eins. Wenn die Nordkurve Fahrt aufnimmt, tendiert der Bremsweg gegen
unendlich.
Gegen Bochum fällt ein Tor. Es fällt auf der richtigen Seite. Es
gibt nur eine richtige Seite. Das Spiel dümpelt und läßt die Fans
allein. Wenn unten einer nur den Ball trifft, loben sie ihn. Im Leben
wäre das nicht möglich. Auch im Job nicht. Wenn du solche Arbeit
ablieferst, wird dich niemand loben. Hier schon. Und am Schluß singen
sie "Auf Wiedersehen" in Richtung des Bochumer
Blocks. Als Dank fliegen Bierbecher zurück: Halb voll. Was wohl wäre
-- ohne den Zaun? Man möchte es nicht wissen. Allein die Ahnung
lähmt.
Nach dem Schlußpfiff leert sich das Rund schnell. Manche haben sich
schon vorher auf den Weg gemacht. "Hier läuft doch eh nix
mehr." Dann wenigstens an der Parkplatzausfahrt Sieger sein.
Die Arena stülpt ihr Innerstes nach Außen. Eine blaue Walze arbeitet
sich zum Ausgang.
Meister der Schmerzen
Das Spiel läuft weiter: In den Köpfen. Was in 90 Minuten passiert
ist, muß für den Heimweg reichen. Für die Woche. Für das
Weiterleben. Die das Stadion verlassen, sind jetzt wieder Einzelne,
Familien, Gruppen. Jetzt diskutieren sie. Der Rückblick kennt keinen
Konjunktiv. "Wenn der Asamoa den Ball nicht verliert, macht er
ihn doch rein." Auf dem Weg zum Parkplatz findet Entzauberung
statt. Spätestens beim Einfädeln ist sich jeder der Nächste. Dann
kämpfen sie für sich. Schalke ist Religion, aber Nächstenliebe ist
nicht Teil der Regeln.
Es fällt leicht, sich vorzustellen, was hier los ist, wenn sie da
unten auf der Zielgeraden die Meisterschaft vergeigen. Dann kennen
auch Indianer Schmerz. Dann dürfen auch Männer weinen.
Hemmungslos. Meister der Schmerzen. Dann geht die Welt unter, aber:
Schalke ist unsterblich. Schalke hat zu jedem Untergang die eingebaute
Auferstehung. Nachlaß, Vergebung und Verzeihung. Früher oder später
werden sie die Schale holen. Dann liegt das Paradies in Gelsenkirchen._//
autoreninfo

Heiner Frost geboren 1957 in Rees am Niederrhein, lebt heute mit Frau und Tochter Lena in Kranenburg (Niederrhein). Kompositionsstudium an der Robert Schumann Musikhochschule in Düsseldorf. Berufe: Journalist, Autor, Komponist, Dirigent. Veröffentlichungen: Lenzenhorst oder: Die Zeit ausschütten (2002, edition anderswo)Homepage: http://www.heinerfrost.de