London, 25. Nov 2003_
Londoner Innenstadt nahe Covent Garden, winziges Theater,
Studioatmosphäre in einem ehemaligen Warehouse aus viktorianischen
Zeiten, starre Blicke aus den Zuschauerreihen, atemlose Stille, auf der
Bühne niemand geringeres als Hollywoodstar Nicole Kidman --
splitterfasernackt. So geschehen im Theaterstück The Blue Room
einer Adaption des Schnitzler Schauspiels Der Reigen, Regisseur:
Sam Mendes. Tom Cruises bildhübsche Exfrau live, voll entblößt und zum
Anfassen nahe -- das lockte die Massen ins Theater. Die Karten fanden
reißenden Absatz, die Kassen klingelten. Binnen kürzester Zeit waren die
begehrten Tickets nur noch auf dem Schwarzmarkt zu haben: für angeblich
bis zu 500 Pfund. Die Wogen der Begeisterung schlugen so hoch, dass
selbst der Duke of Westminster in Ermangelung von Karten auf die
hüllenlose Kidman verzichten musste. Sein Kommentar: "Das ist ein
bisschen stark, wenn man sich vor Augen hält, dass mir das Grundstück
gehört auf dem das Theater steht."
Das Phänomen wiederholte sich, als Popdiva Madonna in Up for
Grabs im Wyndham's Theatre auftrat (bekleidet allerdings). Ein
Superstar auf den Brettern, die die Welt bedeuten -- und das für 30
Pfund! Verzweifelte Versuche, Karten über das Internet oder sonstwo zu
kaufen waren von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Seit geraumer Zeit läßt sich ein spezifisches Globalisierungsphänomen
im Londoner West End beobachten: Hochkarätige Hollywoodstars erklimmen
als 'Kulturimporte' die Bühnen ehrwürdiger
Schauspielhäuser an der Themse. In den letzten Jahren waren das (außer
Madonna und Nicole Kidman): Gwyneth Paltrow, Matt Damon, Jessica Lange,
Macaulay Culkin, Daryl Hannah, Kathleen Turner, Kevin Spacey, Juliette
Binoche und andere. Von einer Ausnahmeerscheinung kann nicht mehr die
Rede sein: dieser Kulturexport ist bereits ein
Trend. "Hollywood stars stage a takeover of the West
End" titelte der Observer, "London is
calling" das US-Magazin People. Das ist
karrierefördernd, weil sich ein Ausflug in die englischen Theater im
Lebenslauf sehr gut macht. Insbesondere in Hollywood hat Großbritannien
als Heimat talentierter Schauspieler einen guten Ruf. Auch (und
besonders) für die Vita eines (abgehalfterten) Hollywoodstars sind
einige Vorstellungen in 'good old England' unter
Umständen ein Lebenselixier. Außerdem sind die Engagements an der Themse
kürzer als am Broadway, so dass die vielbeschäftigten Topstars eine
Theaterverpflichtung in England eher mal einschieben können. Während die
Stücke in New York meist vier Monate gespielt werden, brauchen die
Londoner Theaterbesucher offensichtlich mehr Abwechslung: dort sind die
Aufführungen im Schnitt nur sechs Wochen zu sehen. Die englischen
Kritiker sollen auch nicht so harsch sein wie ihre US-Kollegen. Am
Broadway droht schneller ein Verriss, der sich dann in Windeseile unter
Hollywoodfreunden und -feinden (darunter natürlich auch Regisseure,
Studiobosse etc.) herumspricht. London dagegen ist weit weg, und was
dort in den Zeitungen steht wird in L.A. nicht immer so aufmerksam
gelesen.
Außerdem will man die amerikanischen Stars im Vereinigten Königreich
nicht vergrätzen, denn man fühlt sich angesichts des hohen Besuchs auch
ein bisschen geschmeichelt.
Geld spielt ausnahmsweise für die High Society aus Hollywood keine
Rolle. Dazu sind die Gagen einfach zu niedrig. Gwyneth Paltrow zum
Beispiel erhielt für ihren Auftritt in David Auburns „Proof“
im Donmar Warehouse nur 300 Pfund pro Woche. Dafür ist die finanzielle
Seite den englischen Theaterbesitzern um so wichtiger. Schließlich
sorgen Publikumslieblinge wie Madonna oder Kidman für ausverkaufte
Häuser: "Dank Nicole Kidmans nacktem Auftritt [in The Blue
Room] schnellten die Preise für Karten enorm in die Höhe",
informierte der Guardian. Die Versuchung ist groß. Schließlich
hat die Musicalwelle der renommierten Theaterszene bereits gehörigen
Schaden zugefügt. Der Guardian kommentierte:
"Unzureichende Subventionen, die Suche nach Sponsoren und ein
Verschwimmen der Grenzen zwischen Zuschuß und Kommerz sorgen für eine
merkwürdige Situation. Das britische Theater, der Moral des Kapitalismus
einst kritisch gesonnen, ist gezwungenermaßen zu einem Verbündeten
geworden." Leider läßt sich der finanzielle Mehrwert des
Hollywood-Einkaufs nicht immer in einen künstlerischen umsetzen. Auch
wenn Macaulay Culkin, Kevin Spacey oder Nicole Kidman (The Daily
Telegraph: "pures Theater-Viagra") gelobt wurden,
hatte die englische Presse für Madonna oder Daryl Hannah (The
Guardian: "Sie ist doppelt so groß wie die Monroe, halb so
dünn und hat ein Viertel ihres Charismas") nur ein müdes Lächeln
übrig. Ganz schlimm muss es Charlton Heston (der sich ja erst kürzlich
bei Michael Moore in dessen Film Bowling for Columbine
unbeliebt gemacht hat) getrieben haben. Ihm warfen die britischen
Kritiker vor, sein Auftritt in Love Letters sei nur ein
verlängerter England-Urlaub gewesen.
Die Gefahr liegt auf der Hand: Die ehemals angesehene englische
Theaterlandschaft wird demontiert, dient nur noch als Kulisse für
Hollywoodstars, die die Massen anlocken sollen. Dramaturgie,
Inszenierung, Bühnenbild, etc. verkommen zur Nebensache. Denn wer
erinnert sich schon an den großen Monolog, wenn Nicole Kidman die Hüllen
fallen lässt. Die Presse befürchtet, dass dieses Globalisierungsphänomen
die notleidenden Schauspielhäuser kurzfristig unterstützt, es aber
langfristig zum Niedergang des englischen Theaters beiträgt, wie der
Guardian prophezeit: "Es wird bereits davor gewarnt, dass
es mit dem West End bergab geht, dass die Integrität des britischen
Theaters von den Verführungskünsten der Stars zerstört wird." Ein
Ende dieses 'Kulturaustauschs' ist nicht abzusehen. Im
Gegenteil befürchtet der Observer: "Aus der Welle der
Anglophilie, die Hollywood erfasst hat, ist eine Sturmflut
geworden."
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