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korrespondenz -> london, 15. jun 2004
 
 
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D-Day

von Frank Heinz Diebel

London, 15. Jun 2004_  Sie können sich gar nicht vorstellen, was in den Wochen vor dem 6. Juni, dem 60. Jahrestag des D-Day, in England los war. Tagelange Dauerberieselung zum Thema allierte Invasion in der Normandie 1944. Der Radiosender BBC 4 zum Beispiel (kürzlich zum Radiosender des Jahres gekürt) hatte in der Woche vor dem großen Tag zwei seiner täglichen Sendungen dem Thema D-Day gewidmet. Darüber hinaus wurden in Funk und Fernsehen unzählige Dramas, Reportagen, Dokumentarfilme und Live-Diskussionen übertragen. The longest day war ein gigantisches Medienereignis. Und die Bevölkerung feierte mit. Überall sah man Union-Jack-Flaggen (daneben hängen seit einigen Tagen auch sehr viele England-Fahnen -- rotes St.-Georgs-Kreuz auf weißem Grund -- in den Fenstern, die der moralischen Unterstützung der englischen Fußball-Nationalmannschaft dienen). Meine Friseuse zum Beispiel hatte die Schaufenster ihres Ladens mit Union-Jack-Flaggen und Zeitungsberichten zum Thema D-Day zutapeziert (ob Sie eigentlich weiß, dass ich Deutscher bin?).

Im Unterschied dazu wurde beispielsweise die EU-Erweiterung wenig beachtet. Am 1. Mai -- immerhin ein Ereignis von einiger historischer Tragweite -- blätterte ich verzweifelt in unserer Programmzeitung: Fehlanzeige. Keine Sendung, die sich mit dem Thema befaßte, von einer Übertragung der Feierlichkeiten ganz zu schweigen. Immerhin stellte die BBC im Radio die neuen EU-Mitgliedsländer in einer Reportage-Sendung vor. Mehr war nicht drin.

Seit dem Irak-Krieg und der Einführung des Euro, den so mancher Engländer für die wirtschaftliche Misere in Deutschland verantwortlich macht, ist die Populariät Europas auf der Insel im Sinkflug. Besonders militant anti-europäisch sind dabei die von den pro-europäischen Briten hämisch "Little Englanders" genannten Engländer. Die EU ist für die "Little Englanders" eine Art "französisch-deutscher Club", der ursprünglich dazu dienen sollte, die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in Schach zu halten und jetzt zum Superstaat hochgepäppelt werden soll. Ein mehr oder weniger offensichtlicher Versuch der Franzosen, wieder eine "Grande Nation" zu werden, und der Deutschen, endlich die Herrschaft in Europa zu erlangen. Manche Briten beäugen die Entwicklung der EU aus diesem Grund kritisch und mit wachsendem Unbehagen. Die historischen Wurzeln dieser Unmutsgefühle treten vor allem an Gedenktagen wichtiger Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu tage.

Vor allem die "Little Englanders" leben -- was den Zweiten Weltkrieg betrifft -- in einer verklärten, ja fast schon romantischen Welt. Die eigenen Kriegserfolge werden gerne überbetont, die Leistungen der übrigen Allierten unter den Scheffel gestellt. Auch werden die maßgeblichen militärischen Erfolge der anderen Allierten (wie beispielsweise die Siege der Roten Armee) kaum gewürdigt. Das geht so weit, daß in diesem Jahr mit Vladimir Putin zum ersten Mal ein russisches Staatsoberhaupt bei den Feierlichkeiten zum D-Day anwesend war. Der Festakt zum 50. Jahrestag der Militär-Offensive fand ohne die Russen statt -- sie waren nicht eingeladen worden. Ein Affront, der in Rußland große Bitterkeit auslöste. Denn es war ja die Rote Armee, die den Deutschen unter großen Verlusten stärker zugesetzt hatte als Großbritannien und die USA. Allenfalls die Amerikaner werden für ihren Beitrag gewürdigt, was wiederrum darauf hindeutet, daß der Graben zwischen dem englischsprachigen Teil der Welt und dem Rest (wie auch der Irak-Krieg anschaulich belegt) noch tief ist. Und so denkt nicht nur die Ex-Premierministerin Maggie Thatcher, die bei öffentlichen Anläßen stets betont, daß alle Probleme der Welt von englischsprachigen Völkern gelöst worden seien. So denken auch die Mitglieder der neu gegründeten U.K. Independence Party (Ukip). Die Partei setzt sich vehement dafür ein, daß Großbritannien der EU den Rücken kehrt. Denn daß die ehemaligen Retter Europas sich jetzt vor den Karren eines deutsch-französischen Superstaates spannen lassen wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Der ehemalige Labour-Abgeordnete und TV-Star Robert Kilroy-Silk, das prominente Zugpferd der Ukip, bringt es auf den Punkt, wenn er die EU-Regierung als "corrupt, dictatorial regime" bezeichnet. Wie der Ausgang der Europawahlen in England bestätigt, kommt diese Rhetorik an: Nach ersten Hochrechnungen hat die Ukip 17 Mandate gewonnen und sowohl den Tories als auch der Labour-Party beträchtlichen Schaden zugefügt. In der englischen Tageszeitung The Guardian war jedoch einige Tage nach der Wahl zu lesen, daß Labour-Politiker glauben, die Ukip würde mit ihrer Politik der Abkehr von der EU die Wähler letztendlich vertreiben. So wie in der Presse gibt es auch in der Bevölkerung große Gegensätze. Ich habe mich schon mit vielen Engländern unterhalten, die Großbritanniens Platz in Europa sehen. Darunter sind so populäre Figuren wie der Ex-Vize-Premierminister Michael Heseltine, einer der bekanntesten pro-europäischen Politiker auf der Insel. Auch er bezieht sich gerne auf die Geschichte: So sagte er zum Beispiel bei einer TV-Diskussion vor einigen Monaten, daß die Probleme Europas vor allem durch übersteigerten Nationalismus verursacht worden seien. Ein Seitenhieb gegen die "Little Englanders" und seine Erzfeindin Maggie Thatcher.

Trotz aller Europa-Feindlichkeit, die ja vor allem in der deutschen Presse gerne ausgeschlachtet wird, gibt es in Großbritannien auch andere Stimmen. Wie zum Beispiel diese: Angesichts der D-Day-Feierlichkeiten beschwerte sich ein englischer Veteran live auf BBC Radio 4, daß die D-Day-Zeremonie eine Verherrlichung des Krieges sei: Um seine toten Kamderaden zu erinnern, brauche er keine pompösen Staatsakte. Die Deutschen, so sagte er weiter, hätten nach dem Zweiten Weltkrieg einen mustergültigen demokratischen Staat aufgebaut und somit den englischen Medien keinen Grund gegeben, durch ihre negative Berichterstattung über Deutschland Vorurteile aufrechtzuerhalten und zu verstärken.

Solche Stimmen sind wiederrum in den deutschen Medien kaum zu hören, denn eine (einigermaßen unreflektierte) anti-amerikanische (beziehungsweise anti-britische) Haltung ist in Deutschland seit dem Irak-Krieg populär und auch unter den Auslandskorrespondenten der deutschen Presse sehr beliebt. Es ist also nicht verwunderlich, daß über die pro-europäischen Briten in Deutschland nur wenig zu lesen ist. Mit welchem Recht dann im Gegenzug die konservative englische Presse wie die Times und der Daily Telegraph und Boulevardzeitungen wie die Sun und der Daily Express wegen ihrer europafeindlichen (oder -skeptischen) Haltung kritisiert werden, habe ich bislang nicht ganz verstanden. Mir scheint, daß die deutsche Presse den plumpen Kampagnenjournalismus mancher englischer Blätter nachahmt -- und dabei einen pro-europäischen Kurs einschlägt.

Für viele Deutsche sind die negativen Gefühle der Engländer in Bezug auf Europa nicht nachvollziehbar. Was wiederum verständlich ist: Für die Deutschen macht Europa einen neuen Nationalismus möglich. Mit gutem Gefühl ein deutscher Nationalist zu sein, ist ein Unding. Sich aber nachhaltig für ein starkes Europa einzusetzen, das kann auch ein Deutscher. Insofern haben die Deutschen keine Wahl -- für sie gibt es nur Europa oder nichts.

Für die Briten gibt es dagegen die Wahl zwischen Europa und England. Und weil es der englischen Presse ein leichtes ist -- dank eines offensichtlich anti-amerikanischen Chirac -- Europa als deutsch-französische Veranstaltung zu verunglimpfen und -- angesichts der Wirtschaftsmisere in Deutschland -- den Euro als Wachstumsbremse zu verteufeln, zieht so mancher Engländer den britischen dem europäischen Patriotismus vor. _//
 

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