London, 21. Jul 2005_
Großbritannien nach den Anschlägen vom 7. Juli: Die Zahl der
Übergriffe auf Muslime und Anschläge auf Moscheen war sprunghaft
angestiegen. Muslime wurden auf offener Straße angespuckt, beschimpft
und tätlich angegriffen. In Nottingham wurde der Inder Kamal Raza
erschlagen -- die muslimischen Gemeinden befürchteten, daß es sich um
einen Racheakt für '7/7' (wie die Attentate in Anlehnung
an den 11. September bereits von mehreren Tageszeitungen genannt
wurden) handelte.
Die Nachricht, daß es sich bei den vier Selbstmordattentätern der
Terroranschläge um britische Staatsbürger handelte, schlug in
Großbritannien wie eine Bombe ein. Vergessen waren die Politiker-Reden
und Leitartikel, die unmittelbar nach den grausigen Ereignissen eine
schnelle Rückkehr zur Normalität forderten.
In der Tat hatte sich bei mir schon am Abend nach den Anschlägen
der Eindruck breit gemacht, daß Großbritannien nicht so schnell zum
"business as usual" zurückkehren würde. Die
Stimmung in London am Donnerstagabend war sehr bedrückend, fast schon
gespenstisch. Die Straßen der Innenstadt, die sonst bis spät in die
Nacht mit Leben pulsieren, waren wie leergefegt, Geschäfte und
Restaurants geschlossen und nur einige wenige Pubs geöffnet. Wer
wollte es den Londonern auch verdenken, ihren Frust in Ale und Whiskey
zu ertränken. In der Woche nach den Anschlägen hatte sich die
Normalität durchaus noch nicht eingestellt. "But normal
is not normal any more on the London Underground and on London
buses" schrieb Michael McCarthy in der englischen
Tageszeitung The Independent. Was er damit meinte, wurde mir auf dem
Weg zur Arbeit klar. Keine Spur von den üblichen Verkehrsstaus, in
Bussen und Bahnen blieben während der Rushhour sogar Sitzplätze frei
(zur Info: Die Tube ist während der Hauptverkehrszeiten in der
Innenstadt so überfüllt, daß man sich mit Gewalt hineinquetschen
muss. An einen Sitzplatz ist schon gar nicht zu denken). Von unseren
Nachbarn erfuhren wir außerdem, daß es schwierig war, in London
Fahrräder zu kaufen. Aus Angst vor erneuten Anschlägen waren viele
Bewohner der Metropole von öffentlichen Verkehrsmitteln auf Drahtesel
umgestiegen und hatten die Geschäfte leergekauft. Auch unsere
Nachbarin wird künftig nicht mehr in den Bus der Linie 388 zur
Liverpool Street einsteigen, denn eine ihrer Arbeitskolleginnen hatte
bei den Anschlägen beide Beine verloren. Unmittelbar nach den
Attentaten stellte sich auch die Frage nach den Langzeitfolgen eines
Ereignisses von solcher Tragweite: War mit den Opfern von 7/7 auch die
britische Multikulturalität gestorben? Star-Kolumnist Matthew Parris
schrieb dazu in der Times (bevor bekannt wurde, daß es sich bei den
'suicide bombern' um Briten handelte):
"Wenn sich herausstellen sollte, daß auch nur einer der
Übeltäter der Greueltaten vom Donnerstag ein britischer Muslim ist
oder von britischen Muslimen geschützt wurde, sollte man die Reaktion
der englischen Landbevölkerung nicht unterschätzen." Auch im
Independent wurde nach einer Serie von Anschlägen auf Moscheen in
London, Bristol, Leeds, Telford, und Birkenhead vor einer steigenden
'Islamophobia' gewarnt. Muslim-Führer riefen ihre
Glaubensbrüder auf, Ruhe zu bewahren.
In der Online-Ausgabe des Independent zeigten sich junge Muslime
besorgt, aber auch vertrauensvoll. Furkan Sharif, 24, Jurastudent aus
dem Londoner Stadtteil Hackney, fühlte sich nicht wohl in seiner Haut:
"Wer einen Muslim-Backround hat, der wird jetzt von Blicken
verfolgt, wenn er sich in der Öffentlichkeit sehen lässt. Ich fühle
mich genauso britisch wie jeder andere, aber in den Augen mancher
Menschen bedeutet das nichts. Es ist verständlich, daß man in so einer
Zeit mißtrauischer ist, aber es ist keine Entschuldigung für
Vorurteile." Andere Muslime setzten auf die vielbeschworene
Toleranz der Engländer: "Ich habe Glück, daß die Menschen hier
in London aufgeschlossen sind und verstehen, daß die Attentäter nicht
die Gesinnung der wahren muslimischen Gemeinschaft widerspiegeln",
sagte Waheed Araf, 27, ebenfalls aus Hackney.
Auch wenn es in der Financial Times hieß, daß Tony Blair den Dialog
mit der britischen Muslim-Gemeinde verstärken wollte und eine
umfangreiche Kampagne ankündigte, die britische Muslime davon abhalten
sollte, den Verlockungen des Extremismus zu erliegen, so appellierte
der Premierminister doch auch an die Verantwortung der Imams
"to stand up to the poisonous and perverted interpretation
of the religion of Islam". Ähnliche Töne kamen auch von
der Times. In einem Leitartikel nahm die konservative Tageszeitung die
muslimische Gemeinschaft in die Pflicht: "Eine ungeheure Last
liegt nun auf den Schultern der muslimischen Gemeinschaft. Ihre
Führer, gebildet und wortgewandt, haben zwar den Extremismus
wiederholt verurteilt. Aber auf lokaler Ebene muss gehandelt
werden. Die Duldung von Extremismus ist völlig unakzeptabel."
Einige Zeilen weiter ging die Times noch härter mit den Muslimen ins
Gericht: "Zu oft sind solche Ansichten nicht nur toleriert,
sondern von schlecht ausgebildeten Imams sogar in Moscheen verbreitet
worden. Diese Imams wurden direkt aus pakistanischen Dörfern hierher
verschifft, sprechen kein Englisch und sind nicht in der Lage, junge
Muslime in einer westlichen Gesellschaft anzuleiten."
Kritisch anzumerken war bei diesen Überlegungen, daß hier die Rolle
der britischen Regierung völlig außer Acht gelassen wurde. Diesen
Umstand bemängelte auch Londons scharfzüngiger Bürgermeister Ken
Livingstone (Spitzname: 'Red Ken'), der die Ursache der
Anschläge in einer fragwürdigen Auslandspolitik Großbritanniens
suchte. Die jahrzehntelange Einmischung von Großbritannien und den USA
in die inneren Angelegenheiten der ölreichen Länder des Nahen Ostens
habe die Selbstmordattentäter von London motiviert, sagte Livingstone
in einem Gespräch mit BBC News. Zwar betonte der Bürgermeister, daß er
kein Mitgefühl mit den Attentätern habe, und er Gewalt grundsätzlich
ablehne, aber seiner Ansicht nach wären die Anschläge nie passiert,
hätte der Westen die arabischen Nationen nach dem Ersten Weltkrieg wie
versprochen in Ruhe gelassen. Livingstone: "Wir haben
fragwürdige Regierungen unterstützt, wir haben diejenigen, die uns
unserer Meinung nach nicht wohlgesonnen waren, gestürzt." Auch
Osama Bin Laden sah der Mayor als ein "hausgemachtes"
Problem an: "...die Amerikaner haben Osama Bin Laden angeheuert
und ausgebildet, haben ihm beigebracht wie man tötet...und ihn auf die
Russen angesetzt, um diese aus Afghanistan zu verjagen. Sie haben
nicht daran gedacht, daß Osama -- nachdem er mit den Russen fertig war
-- sich gegen seine 'Schöpfer' auflehnen würde."
Durch diese historische Brille betrachtet, wirkten Tony Blairs
Bemühungen, mit verantwortlichen Muslimen in den Dialog zu treten und
eine internationale Konferenz für Länder, die sich von islamistischen
Extremisten bedroht fühlen, ins Leben zu rufen, etwas
verkrampft. Insbesondere, weil der britische Premierminister eine
Verbindung zwischen Großbritanniens Beteiligung am Irak-Krieg und 7/7
kategorisch ablehnte. Die Frage war nur, wer ihm hier auf der Insel
noch Glauben schenkte? Wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete,
sahen laut einer Meinungsumfrage zwei Drittel der Briten einen
Zusammenhang zwischen dem Irak-Krieg und den Bombenanschlägen vom 7.
Juli. In einem an die Öffentlichkeit durchgesickerten Memo des
englischen Geheimdienstes wurde außerdem vorgeschlagen, daß der
Irak-Feldzug das Land eher zu einer Zielscheibe für Terroristen
gemacht habe. Spätestens nachdem die irakischen
Massenvernichtungswaffen -- immerhin der casus belli für den
bewaffneten Konflikt -- nie gefunden wurden und Blair somit als Lügner
dastand, dürfte es vielen Briten schwer fallen, Tonys rethorische
Winkelzüge noch Ernst zu nehmen.
Über einen Mangel an Verantwortung ganz anderer Art beschwerten
sich aber einige US-Journalisten, die London bereits in
'Londonistan' umgetauft hatten: "London is
easily the most jihadist hub in western Europe" teilte ein
ehemaliger Spezialist für Terrorismusbekämpfung des Weißen Hauses,
Roger Cressy, der Los Angeles Times mit. "London has been an
indoctrination and recruiting centre for many years",
sagte auch Michael Radu, Terrorismus-Experte des Foreign Policy
Research Institute in Philadelphia der Philadelphia Tribune. Der
Grund: Die britische Regierung habe es versäumt, Überwachung und
Anti-Terror-Gesetze zu verschärfen, aus Angst, britische Muslime zu
verprellen.
Das sollte sich ändern: Tony Blair kündigte an, daß radikale
Muslim-Kleriker, die religiösen Haß predigen oder Terroranschläge
anzetteln, von der Gemeinschaft ausgeschlossen oder ausgewiesen werden
sollten. Die zentrale Frage war und ist, ob die Kardinaltugend des
britischen Multikulturalismus, die Toleranz, von einem krankhaften
Mißtrauen abgelöst wurde? Der Kompromiß -- ein gesundes Mißtrauen
beispielsweise -- ist den Briten weitgehend unbekannt. Wer im Alltag
zu neugierig erscheint oder zu viele Fragen stellt, gilt schnell als
unfreundlich. Ein Vorurteil, daß besonders Deutschen mit ihrer eher
direkten Art anhaftet. Die britische Idee der Toleranz kann allerdings
bisweilen auch mit blindem Vertrauen gleichgesetzt werden. Madeleine
Bunting schrieb im Guardian, daß der britische
Multikulturalismus wie nie zuvor in Frage gestellt werden würde. Sie
riet außerdem, die muslimischen Gemeinden zu Verbündeten zu machen,
nicht zu Feinden. Das war leichter gesagt als getan. Die Sun
und der Daily Telegraph hatten auf ihren Titelseiten bereits
dazu aufgerufen, den islamischen Intellektuellen Tariq Ramadan
auszuweisen, weil er angeblich den Terrorismus unterstütze. Im
Gegenzug plädierte Bunting dafür, respektierte Muslime wie Ramadan als
Alliierte im Kampf gegen den Terrorismus zu gewinnen.
Ähnlich zwiegespalten war auch die britische Bevölkerung. Es gab
solche, die Brandbomben auf Moscheen warfen, und andere, die
Gemeinschaftsaktionen von Christen, Juden und Muslims
organisierten. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß 7/7 das Ende des
britischen Multikulturalismus eingeläutet hat. Die Anschläge haben
jedoch eines bewirkt, und die Terroristen in dieser Hinsicht ihr Ziel
erreicht: Die Attentate zeigten ein Problem, daß der
Multikulturalismus nur zu gerne verdeckt: Daß ein Nebeneinander der
Kulturen noch lange keinem Miteinander gleichkommt. Und das war ein
Schock für die britische Gesellschaft von dem sie sich noch lange
nicht erholen wird.
Bereits zwei Wochen nach den Ereignissen vom 7. Juli heulten in
London am Donnerstag, 21. Juli, schon wieder die Alarmsirenen. Bei
Redaktionsschluß war noch nichts genaueres bekannt, außer das die Tube
gegen 14 Uhr wegen vier versuchter Selbstmordattentate (U-Bahn: Oval
Station, Warren Street Station, Sheperds Bus Station; Bus: Linie
Nr. 26) geschlossen wurde. Nach Angaben der Londoner Polizei
detonierten die Bomben nicht vollständig, so daß die Zahl der
Verletzten sehr gering war. Der Londoner Polizeichef Sir Ian Blair
appellierte jedoch an Londoner sich nicht vom Fleck zu rühren. Ein
Update wird in Kürze folgen.
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