London, 04. Aug 2008_ In
Großbritannien herrscht Krisenstimmung. Gordon Brown scheint am Ende
seiner Kräfte zu sein, die Inflationsrate nähert sich der
Vier-Prozent-Grenze -- 3,8 Prozent im Juni -- , für einen Liter Benzin
müssen britische Autofahrer inzwischen bis zu €2,50 berappen und
die einst optimistischen Prognosen für das Wirtschaftswachstum weichen
einer Weltuntergangsstimmung. Seit einiger Zeit fallen auch die
Immobilienpreise, und die Banken werfen das Geld nicht mehr beidhändig
für Kredite aus dem Fenster. Mervyn King, Direktor der Bank of
England, malt die Zukunft in düsteren Farben aus: "Millionen von
Familien sollten sich warm anziehen, denn es kommt eine schwere Zeit
auf uns zu, in der die Finanzen bis an die Belastungsgrenze
strapaziert werden. Großbritannien muß sich auf die schwierigste
wirtschaftliche Herausforderung seit zwei Jahrzehnten
vorbereiten." King spricht auch von einem tödlichen Cocktail
aus Gehaltserhöhungen unterhalb der Inflationsrate, steigenden Kosten
für Energie, Lebensmittel und Immobilienkredite.
Auch die Kriminalität steigt in manchen Städten fast
explosionsartig an: Allein in London wurden dieses Jahr bereits 20
Teenager ermordet. Etwa 170 Gangs treiben in der britischen Metropole
ihr Unwesen. Die Regierungsberaterin Louise Casey warnt vor einer
"Walk on by-Gesellschaft", in der gesetzestreue Bürger
bei Übergriffen auf der Straße wegschauen, aus Angst selbst zu Opfern
von Verbrechen zu werden.
Inzwischen hat die Regierung Brown so viele Pannen produziert, daß
es dem Premierminister massiv an den Kragen seines Manschettenhemdes
geht. Führende Mitglieder der Regierungspartei sollen kurz vor der
Revolte stehen. Dabei ist fraglich, ob das Problem mit der Ernennung
eines neuen Premierministers gelöst ist. Wenn die Labour Party jetzt
einen neuen Staatschef bestimmt, dann wird das Volk eine Unterhauswahl
fordern -- denn der Brown-Nachfolger muß sich sein Mandat erst
verdienen. Bei der Ablösung Tony Blairs durch seinen Finanzminster
Brown war das seinerzeit anders: Der Schotte hatte sich durch seine
erfolgreiche Wirtschaftspolitik auf den britischen Inseln einen guten
Namen gemacht -- und so konnte die Labour Partei auf eine Neuwahl
verzichten. Träte Brown jetzt ab, müßte sich sein Nachfolger über kurz
oder lang einer Unterhauswahl stellen -- bei der die zurzeit
unpopuläre Regierungspartei gegen die Konservativen unter David
Cameron vermutlich keine Chance hätte. Die erfolgreichste
Regierungszeit der Labour Party seit dem Zweiten Weltkrieg scheint
sich einem katastrophalen Ende zu nähern.
Was ist passiert? Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und
andere Meinungsmacher sind sich nicht einig. Tory-Oppositionsführer
David Cameron, der selbst neulich ein Opfer der Kriminalität wurde --
ihm wurde beim Einkaufen das Fahrrad geklaut -- schiebt es auf Brown
und die Labour Party. Die Regierung schiebt es auf die schwächliche
Weltwirtschaft. Gordon Brown hat es schwer, das ist keine Frage. Sein
großes Manko ist aber nicht nur mangelnde Kompetenz, sondern auch
seine schottisch-grummelige, stoisch-aufrichtige Art. Statt die Massen
mit Brot und Spielen ruhig zu stellen, bei Pannen die Verantwortung
auf andere zu schieben und Wählern und Opposition eine handvoll
Erfolge immer wieder wie ein Mantra unter die Nase zu reiben -- wie
das Tony Blair so geschickt tat -- krempelt Brown die Ärmel hoch und
will wirklich etwas bewegen. Soweit so gut, aber erstens gelingt ihm
das nur bedingt, und die Wähler wollen neben dem Politiker auch den
Showman, der die Muskeln spielen läßt, und die Massen mit starken
Sprüchen in seinen Bann zieht.
Und tatsächlich gibt Brown bei den täglichen Wortgefechten im
britischen Unterhaus keine besonders gute Figur ab. Er spricht
langsam, pathetisch, ist nicht sehr schlagfertig und sieht entweder so
aus als ob er gleich in die Luft gehen oder in Tränen ausbrechen
würde. Der Privatschüler und Oxford-Absolvent Tony Blair dagegen ist
ein Meister der Diskussion: Kaum einer war seinen wortgewaltigen
Ergüssen im Unterhaus gewachsen. Blairs rhetorische Kardinaltaktik
war, das Parlament und die Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen
mit Donnerstimme an die "schlimme" Zeit unter der
"Eisernen Lady" Margaret Thatcher zu erinnern. Das zog,
denn viele Briten denken mit Schrecken an Thatchers Reformwut, die
Wirtschaftskrisen und die Massenarbeitslosigkeit der 80er Jahre
zurück.
Brown kann sich auf dieses Argument nicht mehr berufen, denn die
Wirtschaft stagniert und neue Erfolge kann er noch keine
vorweisen. Und so diskutiert die britische Presse bereits mögliche
Nachfolger. Dabei kann Brown sich glücklich schätzen, daß er die
Labour Partei anführt. Bei den Torys wäre er schon längst einem
Komplott zum Opfer gefallen. Aber Labour tut sich mit solchen
politischen Brachialmaßnahmen schwer. Wenn Brown wider Erwarten im Amt
bleibt, dann muß er noch zwei Jahre bis zur nächsten Unterhauswahl
überleben. Daß er nicht mehr wiedergewählt werden wird, darüber sind
sich Presse und Öffentlichkeit bereits einig.
Im Moment scheint es so, als ob das ganze Land auf einen gewaltigen
Zusammenbruch zusteuert. Erinnerungen an die berühmt-berüchtigten
Streiks im "Winter of Discontent" 1978-79 werden wach:
Damals konnten Patienten in Krankenhäusern nicht behandelt werden,
Schulen mußten geschlossen werden, weil Hausmeister und Köche (eine
Ganztagsschule kann nicht ohne Kantine funktionieren) streikten,
Notrufe konnten nicht beantwortet werden, weil aufgrund der Streiks
nicht genug Ambulanzen im Einsatz waren, auf den Straßen türmten sich
stinkende Müllberge (weil die Müllmänner streikten) und gelegentlich
schalteten die E-Werke als Sparmaßnahme den Strom ab.
Steht uns ein solcher Winter bevor? Ich will es wirklich nicht
hoffen!_//