Nairobi, 20. Nov 2005_
"Man braucht nicht eine Frau zu werden, um sie zu
verstehen." Das ist die Quintessenz 'interkultureller
Kompetenz', wie sie der indisch-deutsche Philosoph Ram Adhar
Mall schon vor einigen Jahren im Gespräch mit mir
zusammenfaßte. "Andere Kulturen sind andere Kulturen, nicht
falsche Kulturen." Für das interkulturelle Verstehen ist es
also nicht wichtig, alles zu essen und alles genau so zu machen, wie
es in einer anderen Kultur üblich ist, sondern zu erkennen, daß es
andere Wege gibt, die nicht schlechter oder besser sind als die
eigenen Gewohnheiten. Der Einsicht Mahatma Gandhis folgend --
"das Ziel weicht ständig vor uns zurück" -- ist der Weg
wichtiger als der Inhalt, auch, wenn es um interkulturelles Verstehen
geht. Daran denke ich gerade, während ich dabei bin, einen Vortrag für
eine Konferenz in Wien zu konzipieren, der sich mit interkulturellen
Mustern beschäftigen wird. Aber auch in meinem Alltag in Nairobi
begleitet mich Mahatma Gandhi fast täglich. Die Unterrichtsräume des
German Department auf dem zentralen Gelände der University of Nairobi
liegen in einem Gebäude namens "Gandhi Wing" und wenn ich
zum 5. Stock hinaufeile, in dem unsere Räume beherbergt sind, fällt
mein Blick fast immer auf den Mahatma-Gandhi-Gedenkstein im 2. Stock,
der dort seit dem 12. Juli 1956 eingemauert ist, nachdem die Gandhi
Memorial Society mit großen Geldspenden den Bau dieses Unigebäudes
noch vor der Unabhängigkeit Kenias 1963 unterstützt hat. Wenn ich auf
meinem sportlichen Weg zu den Klassenräumen schwitzend endlich schon
einmal den 4. Stock erreiche, halte ich ein weiteres Mal inne, um den
brachliegenden Aufzug zu betrachten, dessen eiserne Eingeweide wie
eine verlassene Joseph-Beuys-Skulptur im eingesackten Fahrstuhlschacht
hängen. Seitdem sich der Schacht gesenkt hat, ist es vorbei mit der
sausenden Fahrt, wer weiß, seit wievielen Jahrzehnten schon dieses
moderne Kunstwerk dort zu bewundern ist. Auch eine Form der
Gewaltlosigkeit. Da es in Nairobi hin und wieder zu Stromausfällen
kommt, nutze ich grundsätzlich die Treppenhäuser in der ganzen Stadt
für meine persönliche Fitness.
In Afrika liegt ein ewiges Beginnen. Gandhi, der zwanzig Jahre lang
seit 1893 in Südafrika lebte und dort seinen Kampf für die Rechte der
Inder begann, ist in der ehemaligen britischen Kolonie Kenia bis heute
gegenwärtig. Nicht nur, weil die indisch-stämmige Bevölkerung in
Nairobis Stadtbild unübersehbar ist, auch wenn insgesamt im
Vielvölkerstaat Kenia die etwa 90 000 indischstämmigen Einwohner
nur einen kleinen Teil der etwa 22 Millionen Menschen im Land
ausmachen (2003). Aber viele der zahllosen Hotels und
Lebensmittelgeschäfte in den Städten, viele Banken, der Autohandel --
ein großer Teil der urbanen Ökonomie des Landes scheint zu weiten
Teilen von indischen Geschäftsleuten dominiert zu werden, die oft
schon in der vierten oder fünften Generation in Kenia leben und deren
Angestellte aus der einheimischen schwarzafrikanischen Bevölkerung
stammen. Im Einkaufszentrum Valley Arcade findet man auch einen
indisch-kenianischen Elektromeister, der in seinem Laden unter anderem
gebrauchte Waschmaschinen ankauft und verkauft -- glücklicherweise vor
allem auch reparieren kann --, und der seine Kenntnisse in Deutschland
erworben hat. Die multikulturelle Zusammensetzung der Stadtbevölkerung
Nairobis wird von den zahlreichen Hindu-Tempeln, Sikh-Tempeln, einer
Synagoge, Moscheen und Kirchen widergespiegelt, die unübersehbar sind,
wenn man sich durch die Straßen der kenianischen Hauptstadt
bewegt. Auch unüberhörbar. Meine Wohnung liegt ziemlich nah an
Downtown Nairobi, und morgens um 5 Uhr, wenn der Berufsverkehr noch
nicht zu einem gleichbleibenden Dauerrauschen angeschwollen ist,
dringt das melodische Rufen des Muezzins von der zentralen Moschee der
Innenstadt an meine Ohren. Samstags und Sonntags werde ich oft durch
laute Beschwörungen und einpeitschende Reden geweckt, die schon
frühmorgens mit Mikrophonverstärkung in den umliegenden Kirchen meiner
Wohngegend die gläubigen Schäfchen zur Vernunft bringen
sollen. "Wenn Du in Kenia Geld verdienen willst, dann mach eine
Kirche auf!", das ist der ironische Rat, den sich die wenigen
Anhänger einer stärker säkularisierten Gesellschaft unter meinen
kenianischen Bekannten erteilen. Allein in meiner Wohngegend komme ich
auf mindestens fünf Kirchen, die sich hier angesiedelt haben und an
deren Zusammenkünften ich leicht teilnehmen kann, ohne meine Wohnung
zu verlassen. Die von den regelmässig in Kenia einreisenden
US-amerikanischen TV-Pfarrern abgeschaute verschärfte und
mikrophonverstärkte Rhetorik kommt hier gut an. Das kann man
allerorten feststellen. Kenia, ja sogar ganz Afrika, wird gerade zu
einer großen Freiluftkirche. Born Agains und Seventh Adventists
wetteifern in der Gunst des Herrn und im finanziellen Ertrag um ihre
Mitglieder. Wichtige private Bildungseinrichtungen, wie das Strathmore
College und die Strathmore University in Nairobi werden von Opus Dei
unterhalten, einer orthodox katholischen Organisation, die Ende der
1920er Jahre in Spanien gegründet wurde und unter dem faschistischen
Diktator Francisco Franco an Bedeutung und Einfluß gewann, den sie
später international geltend machte, unter anderem auch im Chile
Augusto Pinochets. Nairobis Strathmore University wurde vor wenigen
Jahren mit nicht unerheblichen Finanzmitteln der Europäischen Union
gebaut.
Während in den mitteleuropäischen säkularisierten Gesellschaften
die Trennung von Staat und Kirche mehr oder weniger unumstritten ist,
ist der Kirchenboom in Kenia und vielen anderen afrikanischen Staaten
ein wachsender Markt. Der unter anderem mit dem Pulitzer Preis für
Internationale Reportagen ausgezeichnete nigerianische Journalist Dele
Olojede, der in Nigeria, Südafrika und den USA lebt, hat dieses
Phänomen am 28. Oktober 2005 in der kenianischen Tageszeitung The
Nation unter dem Titel "Ask nothing of God -- expect no
food from false prophets" analysiert. Dabei stellt Olojede
fest, daß es in Afrika viele Gewinner gibt, die ihre Haustiere besser
füttern als die vielen Verlierer ihre Kinder speisen können. Einen
beunruhigenden Grund dafür sieht Olojede in der auf dem ganzen
Kontinent rasant anwachsenden Glaubensindustrie, die verhindert, daß
die Menschen sich politisch organisieren und die richtigen Fragen
stellen an ihre versagende politische Elite, die sich in erster Linie
selbst bereichert und die Resourcen ganzer Völker im Zusammenspiel mit
westlichen Firmen ausbeutet und verschachert. Dele Olojede erteilt der
Hoffnung auf göttliche Intervention in seinem Text eine scharfe Absage
und meint: "I have been looking out of the window in hopes
of catching sight of this divine intervention, but perhaps my sight is
poor. There's no cavalry out there riding to our rescue."
Es ist ein berechnendet Irrtum der Wanderprediger im Fernsehzeitalter,
daß sie die christliche Religion zu einer vermeintlichen Einsatzwaffe
umformieren, die den verarmten Massen auf dem afrikanischen Kontinent
jede Eigeninitiative ausredet, um Geld zu verdienen.
Vor wenigen Tagen habe ich in Karen, einem Stadtteil von Nairobi,
in dem größtenteils weiße, britischstämmige Kenianer wohnen, das
weitläufige Kloster der Benediktinerinnen besucht, dessen Hauptsitz im
deutschen Tutzing, in Bayern liegt. Eine ältere philippinische
Schwester, die schon vor 25 Jahren nach Nairobi gekommen ist, und eine
jüngere deutsche Schwester, die den größten Teil des Jahres als
Krankenhausärztin im benachbarten Tansania verbringt, begrüßten mich
und meine beiden KollegInnen, die wir gekommen waren, um die deutsche
Bibliothek des Klosters anzuschauen und uns Bücher für die Bibliothek
des German Department mitzunehmen. Der deutsche Nachwuchs im Kloster
bleibt aus und die kostenfreie Abgabe der deutschen Bücher soll in der
klostereigenen Bibliothek Platz schaffen für mehr fremdsprachige
Literatur in den Muttersprachen der heutigen Benediktinerinnen. Auch
eine Verschickung der kostbaren Bücher in die deutsche Zentrale in
Tutzing macht nach Ansicht der Schwestern keinen Sinn, weil auch in
deutschen Klöstern heute nur noch wenige deutsche, viel mehr Nonnen
aus dem nahen und fernen Ausland tätig seien.
Vergleichbar abgeschiedene Orte suchen deutsche Organisationen
übrigens gerne aus, um dort in aller Ruhe, fern aller Lärmquellen
akademisches Wissen zu wälzen und Fortbildungen abzuhalten. Ein
interkulturelles Phänomen. Vielen meiner kenianischen KollegInnen
kommt so etwas typisch deutsch vor, sie langweilen sich schnell, wenn
nicht Kindergeschrei, Fernsehgeschnatter und Straßenlärm für den
allzeit richtigen Hintergrundsound sorgen. Beim nächtlichen Autofahren
heben sich in Nairobi hingegen vorübergehend alle kulturellen
Unterschiede auf. Egal, wer hinterm Steuer sitzt, egal, welcher
Fahrzeugtyp, gerne fährt man auf kenianischen Straßen mit krass
aufgeblendetem Fernlicht. Während man in Deutschland noch in der
dustersten Ecke im bayrischen Wald bei jedem entgegenkommenden
Fahrzeug schnellstmöglich den Lichthebel betätigt, um sein nächtliches
Gegenüber nicht zu blenden und zusätzlich in der erratischen Nacht zu
verwirren, wird in Nairobi aufgeblendet, was die Fernstrahler
hergeben, vor allem und just in dem Augenblick, wenn man ein
entgegenkommendes Auto erspäht. Ein Autofreund, den ich einmal
nächtens als Beifahrer in meinem Gefährt mitnahm, erklärte mir
sogleich, ich müsse mein Fernlicht in jedem Fall auch aufdrehen, um
weniger geblendet zu sein. Ich gebe allerdings zu, noch nach einem
Jahr Nairobi zögere ich, seinem gutgemeinten Rat zu folgen, und
verharre in meiner eingeübten deutschen Zurückhaltung, die erst einmal
alles verstehen will, bevor sie sich so offenkundig irrationalen
Handlungen hingibt. Halbblind, im vollen Lichtkegel des gegnerischen
Fahrzeugs, erinnere ich mich erleichtert der Worte Gandhis, der Weg
ist das Ziel, auch wenn man zwischendurch kurzzeitig die Orientierung
verliert.
Nur wenige Tage vor dem Referendum für oder gegen den Wako Draft
genannten Entwurf für eine neue Verfassung Kenias am 21. November
2005 fühlt man sich in ganz Kenia wie nach einem Marathonlauf und kurz
vor der Ziellinie. Das Ziel allerdings liegt weiterhin im
Ungewissen. Während der letzten großen Kundgebungen, im Osten, an der
Küste zum Indischen Ozean, und im Westen, im Land der Luos und Lhuyas
am Lake Victoria, kam es zu starken Ausschreitungen, als die
verfeindeten Anhänger der Bananen (Yes-Camp) und Orangen (No-Camp)
aufeinander losgingen und die kenianischen Sicherheitskräfte
rücksichtslos Schußwaffen einsetzten. Tote und Verletzte haben schon
vor der Abstimmung weite Teile der Bevölkerung in Wut und Trauer
versetzt, während viele der Regierungsmitglieder um Präsident Kibaki
alles dafür getan haben, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit
neuen Versprechungen für die neue Verfassung zu gewinnen. Die beiden
letzten großen Kundgebungen fanden am 19. November in der Hauptstadt
Nairobi statt, wo beide Camps in weit voneinander entfernt gelegenen
Arenen ihre Botschaften feierten. Diese beiden letzten
Großveranstaltungen blieben friedlich und inzwischen hoffen die
Kenianer auf eine ebenso friedliche Abstimmung. Aber alles erscheint
möglich für die Zeit nach der Abstimmung, wenn entweder die
Befürworter oder die Gegner des Wako Draft ihre Niederlage anerkennen
müssen. Am Sonntag vor dem Referendum hält Präsident Kibaki eine Rede
an die Nation, die versöhnenden Charakter haben wird. Der Tag nach dem
Referendum ist bereits zum Feiertag ausgerufen worden, damit sich die
erste Aufregung nach dem Abstimmungsergebnis legen kann, bevor sich
die arbeitende Bevölkerung wieder auf den Straßen Nairobis ausbreiten
wird. Auch die Türen der University of Nairobi werden geschlossen
bleiben. Der indisch-US-amerikanische Historiker Ashutosh Varshney
2002 konnte in seiner Studie zur Gewalt zwischen Hindus und Muslims in
Indien dokumentieren, daß die 'normalen' Menschen in
aller Regel friedlich leben wollen und nicht an Gewalt gegen ihre
Nachbarn und andere ethnische Gruppen interessiert sind. Diese Gewalt
wird vielmehr im Regelfall von interessierten Politikern und
Unternehmern geschürt, die davon politisch oder finanziell zu
profitieren glauben. Meine StudentInnen im German Studies Programme
und ich haben vereinbart, daß wir uns erst wieder treffen, wenn alles
ruhig bleibt. Gewaltlosigkeit als interkulturelles Phänomen, über das
wir gar nicht lange diskutieren mußten.
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Dr. Marie Elisabeth Müller ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Seit Mai 2008 tätig im Internationalen Bildungsmanagement für deutsche Hochschulen und internationale Institutionen. Von Oktober 2004 bis April 2008 als literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Seit 1993 Arbeit als Journalistin, Redakteurin und Autorin für Radio und Printmedien und als Regisseurin für Radiofeatures. Autorin von über 40 Features und einigen Hörspielen; unter anderem Bearbeitung von Martin Amis, Night Train für den MDR (erschien im Audio-Verlag 2002). 2005 veröffentlichte Hoffmann Und Campe ihr Buch Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste, Die wahre Geschichte, das sie in enger Zusammenarbeit mit Mietek Pemper und Viktoria Hertling schrieb und das mehrfach übersetzt worden ist, u.a. 2008 in englischer Übersetzung bei The Other Press, New York. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachjournalen und in Internetzeitschriften. Themen: Kultur- und Bildungsmanagement -- Kulturjournalismus -- Interkulturelles Training -- Medientheorie -- Zeitgenössische Literatur.Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com