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Europäische Regionen, Afrikanische Stämme -- so what?!

von Marie Elisabeth Müller

Nairobi, 7. Feb 2006_  Unter dem emphatischen Imperativ "Schreiben Sie so über Afrika!" konnte man am 17. Januar dieses Jahres in der Süddeutschen Zeitung eine Gebrauchsanleitung zum journalistischen Umgang mit Afrika lesen. Der kenianische Autor Binyavanga Wainaina, der in Nairobi die renommierte Literaturzeitschrift Kwani! ("Na und!") herausgibt, hat aus der in westlichen Medien üblichen Berichterstattung über Afrika alle gängigen Klischees zu einem publikumswirksamen Motivkanon für JournalistInnen aufbereitet. Wainainas Beitrag wirkt auf mich genauso witzig wie desillusioniert und wird in seinem verletzenden Witz nur noch von dem Fakt übertroffen, daß die von ihm angepriesenen Afrika-Klischees in den meisten Beiträgen westlicher KorrespondentInnen tatsächlich nicht fehlen. Afrika -- ein Kontinent mit 54 Ländern und über 900 Millionen Menschen -- wird gerne als ein einziges Land behandelt. In diesen Beschreibungen sind AfrikanerInnen aus dörflichen Gegenden in der Regel halbnackt -- beispielsweise auch in dem erbarmungslos naiven, doch gezielt so vermarkteten Film Die weiße Massai, der 2005 in deutschen Kinos lief, und in dem mal wieder halbnackte, edle Massaikrieger den Blick aufs heutige Kenia verstellen -- und sie sind immer dem Hunger nahe. Aus diesem Grund erregte am 30. Januar 2006 ein Photo in der kenianischen Tageszeitung The EastAfrican Standard meine besondere Aufmerksamkeit. Das Photo zeigt ein abgemagertes kleines Kind, das auf einer Straße hockt und Abfall ißt -- das Ungewöhnliche an dem Bild ist, dieses verlassene Kind ist weißer Herkunft. Das Bild wirkte auf den buchstäblich ersten Blick stark irritierend auf mich, weil es Sehgewohnheiten unterbricht. Diese Konstellation bekommen wir selten innmitten der vielen Bilder vom Hunger auf dem afrikanischen Kontinent zu sehen. Das Photo wurde eingeschickt von einem Leser des Standard, der damit an dem täglichen Wettbewerb "A good picture, they say, is worth a thousand words" teilnahm und 1 000 Kenyan Shilling (etwa 10,- Euro) gewann, die er dem "Food for Life"-Programm in Kenia spendete. Da der Photograph keine Aussage über den genauen Aufnahmeort gemacht hat, vermute ich, daß es irgendwo in der nordöstlichen, derzeit extrem trockenen Region Kenias aufgenommen worden ist.

Im Gegensatz zu den halbnackten, unterernährten Afrikanern aus ländlichen Gebieten, ist der urbane, moderne Afrikaner hingegen ein "raffgieriger Fettsack", so Wainaina, "der in einem Visabüro arbeitet und sich weigert, qualifizierte Mitarbeiter aus dem Westen einreisen zu lassen, obwohl ihnen wirklich an Afrika liegt." Gegen diese von Wainaina parodierte voreingenommene Afrikaberichterstattung wenden sich auch kenianische JournalistInnen, die westliche KorrespondentInnen und Medien über Jahre kritisch begleitet und analysiert haben, die allzu häufig fahrlässig über den afrikanischen Kontinent in all seiner geographischen, historischen, kulturellen und ethnischen Diversität berichten. Zu dieser Form der 'fast food' Berichterstattung, die hartnäckig die Beschäftigung mit den realen Verhältnissen verweigert, gehört auch, daß politische JournalistInnen und Analysten aus Europa politische Konflikte in afrikanischen Ländern gerne als Stammesauseinandersetzungen -- "tribal conflicts" -- bezeichnen und damit als prä-politische Verhaltensmuster abtun. Dazu fällt mir ein, was der kenianische Autor und Literaturwissenschaftler Ngugi wa Thiong'o schon 1986 in seinem Buch Decolonizing the Mind. The politics of language in African literature schreibt: "The study of African realities has for too lang been seen in terms of tribes. Whatever happens in Kenya, Uganda, Malawi is because of Tribe A versus Tribe B." Und Thiong'o erklärt, daß diese Reduzierung politischer Auseinandersetzungen auf ethnische Muster einer traditionell kolonialistischen Sichtweise entstammt, die heute oftmals nicht mehr als solche erkannt wird: "The divide-and-rule colonial origins of explaining any differences of intellectual outlook or any political clashes in terms of the ethnic origins of the actors." Thiong'o mündet in der Feststellung: "No man or woman can choose their biological nationality."

Beginnt man, auf dieses Erklärungsmuster zu achten, begegnet man ihm in vielen anderen Konstellationen wieder. Spricht man in Europa heute vom 'gewachsenen regionalen Selbstbewußtsein' seiner BewohnerInnen, handelt es sich in Afrika um -- meist korrumpierende -- Stammesinteressen; wurden jahrzehntelang europäische Gesellschaften im Fachbereich 'Soziologie' wissenschaftlich untersucht, kamen afrikanische Gesellschaften im Fachbereich 'Ethnologie' zu fragwürdigen Ehren. Erst in den letzten Jahren und im Zuge der sich von den US-amerikanischen und britischen Universitäten aus verbreitenden 'Postcolonial Studies' beginnt sich diese vorurteilsbeladende eurozentrische Perspektive zu verändern, kann man beispielsweise immer öfter auch afrikanischen KünstlerInnen in Museen für moderne und zeitgenössische Kunst begegnen, während Werke afrikanischer KünstlerInnen vor wenigen Jahren noch ausnahmslos in sogenannten Völkerkundemuseen ausgestellt wurden -- früher häufig rituelle Gegenstände mit dem Vermerk "KünstlerIn unbekannt" --, die inzwischen fast alle in Museen für Weltkultur umbenannt werden und worden sind. Dabei wird nicht selten übersehen, daß sich die europäische Avantgarde -- beispielsweise herausragende europäische Künstler wie Picasso und Matisse - schon seit Zeiten des Ersten Weltkriegs und im Laufe des 20. Jahrhunderts fast stillschweigend im kulturellen Archiv afrikanischer KünstlerInnen bedient hat.

Auch die heutige Politik in Kenia wird in großer Regelmäßigkeit als Spielfeld von Stammesauseinandersetzungen bezeichnet. Dabei habe ich als aufmerksame, wenn auch kurzfristige Beobachterin des kenianischen Alltags inzwischen den Eindruck gewonnen, daß sich auch in der nationalen Politik Kenias Koalitionen aufgrund gleicher Interessen bilden, die oftmals auf vergleichbaren regionalen Herausforderungen (in den Wahlkreisen) und ähnlichen Erfahrungen beruhen. Genauso, wie ein bayrischer Politiker größerer Chancen bei Wahlen hat, wenn er aus Bayern kommt. Oder, genauso, wie sich die Probleme oder Standortvorteile bayrischer Bauern von denen sächsischer Bauern graduell unterscheiden, auch wenn beide Gruppen in demselben Land und unter der europäischen Agrarpolitik leben. Aber niemand würde auf die Idee kommen, die Bayern oder Sachsen Deutschlands parteiischer Stammesinteressen zu verdächtigen. (Vielleicht allein der 'Kölsche Klüngel' beim Fußball und sonstwo zeigt manchmal den Hauch dieses Erklärungsmusters, was ich als Rheinländerin -- wenn auch aus Düsseldorf ! -- wohl mit einem Augenzwinkern erwähnen darf.) Während des Referendums Ende 2005 zeigte sich, daß die Regierung von Präsident Kibaki -- das sogenannte Yes-Camp, mit dem Symbol einer Banane -- eine klare Niederlage eingefahren hat, weil sie mehrheitlich nur Kikuyus aus Zentralkenia zu ihrer Unterstützung aktivieren konnte. Die Gegenseite -- das sogenannte No-Camp, mit dem Symbol einer Orange -- aktivierte dagegen AnhängerInnen aus allen anderen Regionen und Stämmen Kenias (es gibt offiziell 42 Stämme im Land) und aus allen politischen Parteien des Landes und gewann das Referendum mit mehr als einer Million Wählerstimmen Vorsprung. Aber dieses pluralistische und demokratische Vorgehen der politischen Opposition, die sich unter dem Dach des Orange Democratic Movement (ODM) vereinigt hat, fand bis jetzt keinen besonderen Widerhall in der internationalen Berichterstattung. Auch in der kenianischen Politik konnte das klare Wählervotum bislang die Misere des Landes und ihrer politischen Elite nicht positiv verändern, sie ist nur noch deutlicher hervorgetreten. Nach dem Referendum hat Präsident Kibaki zwar die Niederlage beim Referendumsvotum anerkannt, aber den Ruf nach sofortigen Neuwahlen zurückgewiesen und die gesamte Regierung entlassen. Danach dauerte es wochenlang bis er ein neues Kabinett berief, aus dem sämtliche ODM-Mitglieder, die zuvor Regierungsmitglieder waren, ausgeschlossen blieben. Im Grunde eine Regierung ohne Wählerauftrag, denn die Wählerstimmen, die im Jahr 2002 Mwai Kibaki an die Macht und den alt gewordenen Diktator Daniel Arap Moi um die Macht brachten, hatten einer sogenannten Regenbogenkoalition gegolten, der National Alliance Rainbow Coalition (NARC), die nur mit Hilfe renommierter Mitglieder der jetzt entlassenen Regierung möglich wurde. Allein ein enger Allierter Mwai Kibakis blieb ebenfalls unberücksichtigt, der ehemalige Transportminister Dr. Chris Murungaru, der bereits durch ein striktes Einreiseverbot von seiten Großbritanniens und den USA -- zwei starken Geberländern in Kenia und Weltbankstimmen -- öffentlich als korrupter Politiker gebrandmarkt worden war. Auch die Arbeit an einer neuen Verfassung scheint zunächst stillgelegt. Der Präsident hat zudem bereits seit fünf Monaten darauf verzichtet, das Parlament einzuberufen, das zunächst aufgrund der Referendums-Kampagnen und nun aufgrund der vom Präsidenten und seinen Allierten gefürchteten Forderung nach Neuwahlen suspendiert bleibt. ODM hat inzwischen ein Ultimatum für den 14. Februar gestellt. An diesem Tag sind die kenianischen Parlamentarier aufgerufen, das Parlament in Nairobis Zentrum notfalls gewaltsam zu besetzen. Auf diese Forderung reagiert der Volksmund gewohnt schlagfertig und sagt den Mitgliedern des Hohen Hauses nach, sie seien auf ihre 'seat allowances' aus. Eine Anspielung, die heutzutage jeder in Kenia versteht, seitdem die Zeitungen täglich neue Fakten über den jüngsten gigantischen Korruptionsfall Kenias zu Tage fördern, der als 'Anglo Leasing' in die Geschichte eingehen wird. Unter dem Deckmantel einer bzw. mehrerer nicht existierender Firmen in England und für nicht-existierende Projekte -- unter anderem sollten Schiffe gekauft und fälschungssichere Pässe hergestellt werden - haben hochrangige Minister aus Präsident Kibakis engster Umgebung Steuergelder in großem Stil veruntreut. Auch der Präsident selbst und sein Vize Moody Awori werden immer öfter als unmittelbar Beteiligte an dem zweifelhaften Handel genannt. Ein Teil der Millionenbeträge aus Steuergeldern soll in die Yes-Kampagne beim Referendum, die Parteifinanzierung der Partei des Präsidenten, National Alliance Party of Kenya (NAK), schon im Hinblick auf die nächsten Wahlen 2007, und auf private Konten geflossen sein. Der ursprünglich als Permanent Secretary für Ethics and Governance berufene John Githongo, der dem Präsidenten unterstellt war und der diesen und anderer Korruptionsfälle aufklären sollte, war schon im Frühjahr 2005 ins Exil nach England geflohen, aus Angst um sein Leben. Die von ihm nun aus der Ferne veröffentlichten Details seines Forschungsberichts über 'Anglo Leasing' und andere Korruptionsfälle greift ODM gerne auf, um den Rücktritt der gesamten Regierung und Neuwahlen zu fordern. Die Kenya Anti Corruption Comission (KACC) und ihr Direktor Aaron Ringera sind ebenfalls unter Druck geraten, denn sie ermitteln bisher eher halbherzig, zumal die zwielichtigen Geschäfte auf höchster Regierungsebene abliefen und die Beteiligten sich weiterhin im Zentrum der Macht befinden. Der Rücktritt des respektierten Finanzministers David Mwiraria am 31. Januar 2006, eines Weggenossen Kibakis seit Universitätstagen in Makerere, Uganda, wird als erstes Zeichen der Schwäche des Präsidenten und seiner nächsten Umgebung bewertet. Noch vor dem Einbruch der Dunkelheit seien fünf weitere Rücktritte zu erwarten, wurde in Nairobi an diesem geschichtsträchtigen Tag gemunkelt. Doch bis jetzt weigern sich alle weiteren Beteiligten in der Affäre ihren Hut zu nehmen. Trotz der großen Hitze in Kenia und sommerlicher Temperaturen, stehen die Zeichen in Nairobi also weiterhin auf ungemütlicher Wetterlage, aber noch längst nicht auf Sturm, denn die unerschöpfliche Geduld -- und Leidensfähigkeit -- des kenianischen Volkes und seiner mündigen Wähler ist Legende und wird sich in der aktuellen Krise wohl wieder als hartnäckig erweisen. _//
 

autoreninfo 
Dr. Marie Elisabeth Müller  ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Seit Mai 2008 tätig im Internationalen Bildungsmanagement für deutsche Hochschulen und internationale Institutionen. Von Oktober 2004 bis April 2008 als literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Seit 1993 Arbeit als Journalistin, Redakteurin und Autorin für Radio und Printmedien und als Regisseurin für Radiofeatures. Autorin von über 40 Features und einigen Hörspielen; unter anderem Bearbeitung von Martin Amis, Night Train für den MDR (erschien im Audio-Verlag 2002). 2005 veröffentlichte Hoffmann Und Campe ihr Buch Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste, Die wahre Geschichte, das sie in enger Zusammenarbeit mit Mietek Pemper und Viktoria Hertling schrieb und das mehrfach übersetzt worden ist, u.a. 2008 in englischer Übersetzung bei The Other Press, New York. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachjournalen und in Internetzeitschriften. Themen: Kultur- und Bildungsmanagement -- Kulturjournalismus -- Interkulturelles Training -- Medientheorie -- Zeitgenössische Literatur.
Homepage: http://memplexx.de/
E-Mail: mem@gmx.com
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