Nairobi, 29. Jun 2006_
'Walhalla'
so werden in nigerianischem Pidgin-Englisch alle möglichen
Formen von Ungemach genannt. Zwar können auch meine kenianischen
Freunde viel von Ungemach berichten, aber von 'Walhalla'
habe ich sie noch nicht sprechen hören. Trotzdem denke ich
selbst sofort an 'Walhalla', wenn ich mich an die
turbulenten Ereignisse der vergangenen Wochen erinnere, die Kenia in
aller Öffentlichkeit und laut der kenianischen Medien in den
Status einer 'Bananenrepublik' erhoben haben. Wie anders
soll man es auch sehen, wenn zwei goldbehängte 'blink
blink' Söldner aus -- angeblich -- Armenien, auf
Regierungs-Tickets heimlich nach Kenia eingeschleust werden und in
ihrer ersten öffentlichen Aktion am 2. März 2006 am späten
Abend vermummt und gemeinsam mit kenianischen Spezialpolizeikräften
in downtown Nairobi die Redaktionsräume der Tageszeitung
Standard und des dazugehörigen Fernsehsenders
KTN stürmen, die noch anwesenden RedakteurInnen
bedrohen, ausrauben, Computer und anderes Redaktions-Eigentum stehlen
und anschließend im nahegelegenen Industriegebiet die Druckerei
des Standard aufsuchen und nachtfrische Exemplare
öffentlich verbrennen. Der Standard hatte in den
Wochen zuvor kritisch über verschiedene Affären der
Regierung von Präsident Mwai Kibaki und seiner Minister
berichtet, die als 'Goldenberg' und 'Anglo-Leasing'
Skandale bekannt geworden sind. Von da an konnte man nur vermuten,
daß die beiden suspekten Helden im Dunkel des Schutzes von
Teilen des politischen Establishments Kenias handelten. Erst recht,
seitdem der nationale Sicherheitsminister John Michuki den Verlauf
der zwielichtigen Razzia im Parlament ausführlich rechtfertigte
und Wiederholung androhte. Von da an auch war die Geheimhaltung der
beiden Männer, die dank ihres -- angeblich -- selben
Vornamens als die 'Artur-Brüder' durch die
kenianischen Medien geistern, reine Makulatur. Ein Wild-West-Szenario
löste das andere ab. Erst ein Auftritt vor der Presse im
Standard-Gebäude in der Innenstadt Nairobis, nach der einer der
sinistren Kerle anschließend nur knapp einer aufgeheizten Menge
entkam, die ihn kurzerhand lynchen wollte. Danach folgte eine
Aufsehen erregende Pressekonferenz in den VIP-Räumen des
International Jomo-Kenyatta-Airports, bei dem die Brüder sich
als Investoren und Geschäftsleute verteidigten und zur
Untermauerung ihrer guten Absichten und Liquidität jede Menge
Dollars und Shillingnoten auf den Tisch warfen. Oppositionspolitiker
wie der populäre Raila Odinga, der bemerkenswerterweise als
erster die Öffentlichkeit auf die Anwesenheit der düsteren
Gäste aufmerksam gemacht hatte, wurden als Schuldner und
Geschäftspartner denunziert. Es folgten weitere medienwirksame
Preisverleihungen in der Musikbranche und fesche Parties in ihrer
neureichen Residenz im gutsituierten Runda, bei der sich alle
möglichen VIPs und Stars und Sternchen im güldenen Glanz
der angeblichen Geschäftspartner sonnten, und es folgten heiße
Liebesgeschichten und offenherzige Bekenntnisse zu den
'wunderschönen, warmherzigen Kenianerinnen', unter
denen sich mißlicherweise auch -- angeblich -- die
Tochter aus Präsident Kibakis zweiter, traditionell
geschlossener Ehe befindet, deren Existenz allerdings offiziell
niemals anerkannt worden ist, die jedoch, genauso wie ihre Mutter,
eine aktive NARC-Politikerin, einen zur Schau gestellten
märchenhaften Reichtum, auffällig hohen Sicherheitsapparat,
direkten Draht zu State House und ausgezeichnete politische Kontakte
besitzt. Also, Sex, Drugs, Gewalt und Politics, aber kein glückliches
Ende in Sicht. Am Abend des 8. Juni begann der Showdown, erneut am
International Jomo-Kenyatta-Airport -- als wäre das nicht
das sensible Eintrittstor des Landes, sondern sein Küchentürchen
--, als die beiden arroganten Ausländer plötzlich mit
schrankenloser Zugangsregistrierung im Sicherheitssektor auftauchten
und kenianische Zolloffiziere gewaltsam daran hinderten, die
Gepäckberge von just aus Dubai angereisten Freunden zu
kontrollieren, geschweige denn zu verzollen. Eine Waffe wurde
gezogen, ein Offizier geschlagen, man raste in Automobilen der
Superklasse von dannen, die Souveränität Kenias auf dem
Fußboden des Flughafens zurücklassend. Endlich setzte sich
in der offenkundig über diesem Treiben seit Wochen uneinigen
Polizeispitze des Landes die Einsicht durch, man müsse
einschreiten. Verhaftet und abgeschoben fanden sich die beiden Männer
eine Nacht später in Dubai wieder, ihr neuer Status als persona
non grata in Kenia verschont sie von jeglicher juristischen
Verfolgung. Dabei gäbe es einiges zu verfolgen. Ihre plötzlich
zugängliche Residenz in Runda gab weitere Einsichten frei, die
alles andere als freundliche Motive der beiden auffälligen Gäste
vermuten lassen. Jede Menge Waffen, angeblich teilweise von der
Präsidentengarde übernommen, gefälschte Pässe --
ich frage mich, ob irgendjemand im Land sie mit oder ohne Bart nicht
erkennen würde -- jede Menge Nummernschilder mit
Regierungskennung, eine Menge gestohlener Autos. Die Wogen der
Empörung schlagen in der Presse und der Bevölkerung hoch,
auch die internationale Gemeinschaft verlangt nun von der
kenianischen Regierung Erklärungen und die Garantie der
Sicherheit des Internationalen Flughafens. Insofern kann dieses
letzte große 'Walhalla' das Land im internationalen
Kontext noch teuer zu stehen kommen. Und ansonsten, ob es verebbt,
wie alle Spektakel zuvor? Es bleiben, wie immer, mehr Fragen offen
und die Spekulationen reichen weit. Die Tageszeitungen verkaufen sich
glänzend ob all dieser Geschichten aus dem Innenleben der
bewunderten und beneideten High Society. Doch die Regierungspolitik
scheint aus ihrem Dauertief seit dem verlorenen Referendum nicht mehr
herauszukommen, und nach dem Kampf ums Referendum steht schon jetzt
jede politische Aktion im Zeichen der Präsidentschaftswahlen
2007.
Von
politischen Programmen ist in diesem politischen 'Walhalla'
naturgemäß wenig zu sehen. Vermutlich ist all das Wasser
auf die nicht rosten wollenden Mühlen der sogenannten Kenyan
Cowboys -- so nennen sich viele der weißen Expatriots
selbst, die schon seit Generationen im Land sind -- von denen
einige so agieren, als wenn sie sich in der Zeit vor der
Unabhängigkeit wähnten und wünschten, Kenia hätte
ein "gigantischer Wildpark bleiben sollen, in dem die schwarze
Bevölkerung nur am Rande eine Rolle spielt",
beispielsweise als folgsame Wachleute und dienstbereite Fahrer, so
der kenianische Journalist Gitau Warigi in "Sunday Nation"
vom 14. Mai 2006. Solche zugespitzten Kommentare gaben in
kenianischen Tageszeitungen die erregte und deprimierte Stimmung
wieder, nachdem der 38jährige Thomas Cholmondeley, ein Nachkomme
der britischen Adelsfamilie Delamere, zum zweiten Mal innerhalb eines
Jahres einen jungen Kenianer erschossen hat. Robert Njoya Mbugua
hatte es gewagt, mit Freunden über Cholmondeleys gigantisches
Farmland bei Naivasha zu laufen und eine Antilope zu erjagen. Wie mir
Kenianer versichern, ein leider alltäglicher Vorgang auf dem
Land, der zeigt, wie die verarmte Bevölkerung zu Selbsthilfe
greift und auf bescheidene Jagdbeute ausgeht, weil sie sich Fleisch
sonst nicht leisten kann. Darauf als Reaktion eine Waffe zu ziehen,
bringt die Protagonisten in der Realität nahe an Verhältnisse
wie sie in Karl Mays phantastischem 'Wilden Westen'
herrschen und an die 'armenische' Problemlösungsvariante,
in der die Zivilgesellschaft ignoriert oder gewaltsam beseitigt wird.
In Zusammenhang mit dem ersten Fall vor etwa einem Jahr, war
Cholmondely nach einer kurzen Untersuchungshaft freigesetzt worden,
und wieder einmal kursierte unter der einheimischen Bevölkerung
der Verdacht, daß Menschenleben unterschiedlich viel wert sein
könnten. Dieses Mal scheint die Justiz den Fall anders zu
behandeln und Cholmondely ist nicht nur verhaftet, sondern ins
Sicherheitsgefängnis Kamiti verbracht worden, bis der Fall im
September 2006 verhandelt werden soll.
Immerhin
weiß man bei Cholmondelys Fall höchstwahrscheinlich, mit
wem man es zu tun hat. In vielen anderen Fällen setzt sich
inzwischen eine pragmatische Sichtweise auf Identität und
Nationalität durch, die in der globalisierten Welt wie
Zutrittscodes, Marken und Logos funktionieren. Die beiden
Artur-Brüder, die in Kenia als undercover-Söldner fungieren
sollten, bevor sie wie B-Movie-Personal lieber direkt das Rampenlicht
suchten, werden in den kenianischen Medien von Anfang an als Armenier
beschrieben, die möglicherweise auch Russen sein könnten.
Trotz ihrer ungeklärten Nationalität und variierender
Zuschreibungen werden sie hartnäckig als die beiden 'armenischen
Brüder' tituliert, die ihre Hauptrolle in der 'armenischen
Saga' sicher haben. Ich bin mir nicht sicher, was der Grund
hierfür sein könnte, vielleicht klingt 'armenisch'
etwas ungefährlicher oder auch rätselhafter in hiesigen
Ohren. Oder es ist einfach unkomplizierter, alle Söldner als
armenischer Abstammung zu betrachten, denn alle Verbrecher kommen von
weit weit her und aus einem Land, von dem man unter Schwierigkeiten
gerade mal den Namen behalten kann, von weit weit, ganz weit weg ...
Jedenfalls, ich erinnere mich, daß der deutschsprachige und
russischstämmige Autor Wladimir Kaminer dasselbe Phänomen
in seinem Buch Russendisko erwähnt, in dem er
seinen multi-kulturellen Alltag in Berlin nach der Wende beschreibt.
(Die Texte waren ursprünglich fürs Radio konzipiert.)
Nationale Logos werden als simple Marketingstrategie erfolgreich
eingesetzt, wie wir im Kapitel "Geschäftstarnungen"
erfahren. Einmal nachts landet Wladimir Kaminer zusammen mit seinem
russischen Freund Ilia Kitup in einem türkischen Imbiß in
Wilmersdorf, in dem bulgarische Musik läuft. Die beiden wundern
sich darüber: "Hören die Türken nachts immer
bulgarische Musik?" Nach einem kurzen Gespräch mit den
Imbißverkäufern erklärt Ilja: "Das sind keine
Türken, das sind Bulgaren, die nur so tun, als wären sie
Türken. Das ist wahrscheinlich ihre Geschäftstarnung."
Dabei besticht auch die ehrliche Erklärung der beiden
Imbißbetreiber, die erläutern: "Man muss die Lage
nicht unnötig verkomplizieren. Der Konsument ist daran gewöhnt,
daß er in einem türkischen Imbiss von Türken bedient
wird, auch wenn sie in Wirklichkeit Bulgaren sind." Türken,
Bulgaren, Armenier, Russen ... Namen wie von Ferne, in den
heutigen Städten erscheinen sie nur noch als Erkennungsmelodie.
Das ist der wahre Melting Pot in den Metropolen des 21. Jahrhunderts.
Alle
kenianischen 'Walhalla' Geschichten werden von den
Bewohnern des Landes und speziell von Nairobi-Menschen mit Würde
und Humor ertragen. Am liebsten verweist man im ersten Moment darauf:
"It happens!" -- ein magischer Spruch in Kenia, der
allen tragischen Momenten ihre Verzweiflung nehmen und sie in den
alltäglichen Verlauf des Lebens einspeisen soll. Dieser Tage
hört man auch häufiger den Spruch: "These things
happen only in movies or in Kenya!", vor allem wenn man an das
jüngste Flughafen-Debakel denkt. Zu den filmreifen
Inszenierungen gehört für mich auch das 'Maze'-Drama,
als Francis Kaparo, der mächtige Sprecher des kenianischen
Parlaments, den 'Maze', das stabsähnliche
Herrschaftssymbol des hiesigen Parlaments Anfang Februar 2006 zu
kostspieligen Renovierungsarbeiten nach London bringen ließ, um
so die rechtzeitige Wiedereröffnung des Parlaments nach dem Ende
vergangenen Jahres heftig umkämpften Referendumsvotum über
eine neue Verfassung zu verhindern. Die afrikanische Filmindustrie,
vor allem bekannt durch das nigerianische Nollywood -- eine
Anspielung auf die boomenden Vorbilder in Los Angeles und in Bombay --
faßt inzwischen auch langsam Fuß in Ostafrika. An der
Universität Mainz gibt es einen Lehrstuhl für 'Populäre
Afrikanische Kultur' und die KollegInnen waren erst kürzlich
in Nairobi zu Gast, um sich bei der hiesigen Filmproduktion
umzuschauen, die unter anderem downtown Nairobi an der River Road
beheimatet ist. In winzigen Studios werden hier die low-budget Film-
und Videoproduktionen bis zur Master-DVD fertiggestellt, oftmals im
Ein-Frau/Mann-Betrieb. Aber die nigerianische Filmindustrie mit ihren
über tausend Jahresproduktionen hat den Appetit auf afrikanische
Eigenproduktionen und ein eifriges Publikum überall auf dem
Kontinent angeregt. Dabei werden häufig zentrale Motive und
Bildelemente aus bekannten US-amerikanischen Kinofilmen und
MTV-Videos zunächst in indischen Produktionen und nachfolgend
auch in nigerianischen und kenianischen Filmen/Videos verarbeitet und
in die lokalen Kulturcodes transformiert. Beispielsweise gibt es den
Bestseller Titanic auch als afrikanische Version. Das
aktuelle Thema in afrikanischen Filmshows heißt
dementsprechend: "Africa shoots back!" Im April 2006
tagte der dritte Afrika Film Gipfel in Johannesburg,
bei dem auch ein Filmetat unter Nepad und der Afrikanischen Union
gegründet wurde, der die afrikanischen FilmemacherInnen von
westlicher Unterstützung unabhängiger machen soll. In
Nairobi kann man neueste Informationen über das vibrierende
urbane Leben in der kenianischen Metropole aus gut gemachten,
schrillen Magazinen beziehen, die von Freitag bis Sonntag den
Tageszeitungen beiliegen und von eigenen Redaktionen betreut werden.
Die Homepage
"The Webbandit -- Living the Nairobi Life"
vervollständigt diese ganz normale Seite
Nairobis. Zwar haben wirklich viele Kneipengäste ausgebeulte
Jackentaschen, und noch nicht einmal ein Stadtanzeiger scheint ohne
das Wort 'Bandit' auszukommen, aber sonst dreht sich
abends nach acht auch hier alles nur noch um Bier, Fußball,
schöne Frauen, coole Männer und die besten Hits; vor allem
jetzt, im Weltmeisterschaftsmonat Juni. Da sind --
Globalisierung hin und her -- Identitäten und Fronten doch
gleich wieder klar.
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autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Seit Mai 2008 tätig im Internationalen Bildungsmanagement für deutsche Hochschulen und internationale Institutionen. Von Oktober 2004 bis April 2008 als literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Seit 1993 Arbeit als Journalistin, Redakteurin und Autorin für Radio und Printmedien und als Regisseurin für Radiofeatures. Autorin von über 40 Features und einigen Hörspielen; unter anderem Bearbeitung von Martin Amis, Night Train für den MDR (erschien im Audio-Verlag 2002). 2005 veröffentlichte Hoffmann Und Campe ihr Buch Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste, Die wahre Geschichte, das sie in enger Zusammenarbeit mit Mietek Pemper und Viktoria Hertling schrieb und das mehrfach übersetzt worden ist, u.a. 2008 in englischer Übersetzung bei The Other Press, New York. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachjournalen und in Internetzeitschriften. Themen: Kultur- und Bildungsmanagement -- Kulturjournalismus -- Interkulturelles Training -- Medientheorie -- Zeitgenössische Literatur.Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com