Nairobi, 01. Mai 2007_ Afrika -- fängt
an den Rändern Nairobis an. Denn Nairobi ist eine Metropole der
Postmoderne und dabei typischerweise nicht sehr aussagekräftig für die
vielfältige afrikanische Alltagskultur, die in den urbanen
Lebensräumen zwischen Slumgebieten und Hochhausungetümen vom
westlichen Lebensstil nachhaltig überformt worden ist. Vielleicht
liegt hier der Kern des Nairobi-Lebens, in dem nichts so ist wie es
scheint und nichts so bleibt wie es ist. Vielleicht liegt hier auch
der Kern der kenianischen Politik, die von Nairobi aus dominiert wird,
und in der ein gewähltes Staatsoberhaupt schweigend im politischen
Wetterhäuschen verweilen kann, ab und zu hervortretend, um ein paar
Ländereien zu verschenken, das kapitale Wachstum der zufriedenen
privilegierten Klasse zu garantieren und winkend der duldsamen Masse
zuzurufen: "Wacha waendelee!" -- "Ach, laßt sie
doch machen!"
Sie, das ist beispielsweise der geliebt-gehaßte
Präsidentschaftskandidat Raila Odinga aus der Opposition, der
neuerdings in einem Modell der exklusiven US-amerikanischen Automarke
Hummer den Wahlkampf bestreitet. Im Ringen um Aufmerksamkeit hat der
ehemalige Roads Minister allerdings übersehen, daß sein Hummer
schwergewichtig und unbeweglich ist und allenfalls für sonnige
Pazifikstrassen in Los Angeles taugt, nicht aber für die mit
potholes gepflasterten, echten off road Straßen, die
außerhalb Nairobis das Fahrgefühl prägen. Schon beim ersten Trip nach
upcountry brach der Wagen zusammen und konnte die steilen
Hänge nicht bewältigen, sondern mußte, eilig nach Nairobi
zurückgebracht, zunächst mal in die Werkstatt. Sie, das ist auch eine
der bekanntesten Töchter Kenias, die aus der zweiten, traditionell
geschlossenen Ehe Mwai Kibakis, des amtierenden Präsidenten, stammen
soll. Vor wenigen Tagen war die junge Frau im East African
Standard abgelichtet in den Armen eines der beiden Artur-Brüder
zu sehen, die erst im Juni 2006 als persona non grata nach
Dubai deportiert worden waren (siehe E-Mails aus Nairobi von
Juni
und
August
2006). Nun soll das glückliche Paar Heiratsabsichten haben und
stürzt Kenias Öffentlichkeit erneut in tiefe Spekulationen über
Identität und Absichten der sogenannten Artur-Brüder, die in Kenia
kriminell auffällig geworden waren. "Ni sawa tu!" --
"Ist schon okay!", denn morgen ist alles Schnee von
gestern.
Mit dieser kenianischen Chuzpe steuern das Land und seine
Wetterwarte im State House auf die mit Spannung erwarteten Wahlen im
Dezember 2007 zu. Noch weiß niemand offiziell, mit welchem
Parteiticket der Präsident antreten wird, der vor kurzem das Parlament
an der Harambee Avenue wiedereröffnet hat, in dem eine Regierung ihren
Geschäften nachgeht, die seit 2005 nach dem Auseinanderbrechen der
legendären Regenbogenkoalition sich nicht mehr aufs Wählervotum
berufen kann. Solche schwergewichtigen politischen Fragen aber werden
in den nationalen Nachrichtenmedien kaum gestellt, und wenn doch, dann
nur für einen Tag. Denn Hummer und andere spektakuläre Nachrichten
sind quotenträchtiger.
In diesem Klima allgemeiner Nairobi-Amnesie ist deshalb auch stark
zu bezweifeln, daß die Opposition, die sich seit ihrem Sieg beim
Referendum gegen die neue Verfassung, als Orange-Democratic-Movement
(ODM) und ebensolche Partei zusammengeschlossen hat, Teilreformen noch
vor den Wahlen durchsetzen kann, die Zusammensetzung der Regierung und
andere Fragen die Gewaltenteilung betreffen würden. In ODM bewerben
sich derzeit nicht weniger als neun Präsidentschaftskandidaten,
darunter zwei Frauen, auf das Ticket der Partei, die angeblich mit nur
einem Kandidaten geschlossen ins Rennen gehen wird. Bei allem Chaos
und internen Intrigen, die durch diese unübersichtliche Menge von sich
überzeugter KandidatInnen hervorgerufen und genüßlich in den Medien
ausgebreitet werden, zeigt sich ODM bislang als demokratische
Sammelbewegung, die wesentlich durch das Charisma und die politische
Beweglichkeit Raila Odingas zusammengehalten wird. Odinga, 2002
mitverantwortlich für Kibakis erfolgreichen Griff nach dem
Präsidententsitz als Oberhaupt der damals euphorisch gefeierten
Regenbogenkoalition, ist schon in der Vergangenheit als
Koalitionsbauer und Königsmacher bekannt geworden. Als vor wenigen
Wochen sein ältester Sohn Fidel Castro Odhiambo, dessen Name auf die
einst revolutionären Überzeugungen des Vaters hinweist, der als
Maschinenbau-Ingenieur in Magdeburg zu DDR-Zeiten ausgebildet worden
ist, vor den Traualtar trat, war das Medienecho groß.
Bemerkenswerterweise verband sich hier der älteste Sohn einer
traditionell einflußreichen Familie, die aus Luo-Land im Westen Kenias
stammt, mit der Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes aus
Zentralkenia, dem sogenannten Kikuyu-Land, aus dem Jomo Kenyatta, der
erste Präsident Kenias nach der Unabhängigkeit, und auch der heutige
Präsident Mwai Kibaki kommen. Die Schwiegertochter Odingas stammt
dabei angeblich sogar aus dem Umfeld der Kenyatta-Dynastie. Zwei
Familien aus zwei kenianischen Stämmen, die im politischen Alltag
immer noch gerne gegeneinander ausgespielt oder als natürliche Gegner
aufgefaßt werden. Natürlich sind alle exklusiven Hochzeitsfeiern in
Nairobi willkommenes Medienmaterial, mit denen ganze Ausgaben gefüllt
werden können. Doch diese jüngste VIP-Hochzeit zeigt auch nachhaltig,
daß der einheitsstiftende Wille der Odinga-Familie vor ihrem privaten
Clan nicht halt macht. Das spräche im entscheidenden Wahljahr für
einen versöhnlichen Präsidenten Odinga. Das aber wird im politischen
Feld noch von vielen angezweifelt. Diese Skeptiker denken laut darüber
nach, daß Kibakis populärster Gegenkandidat bekanntermaßen unter dem
Moi-Regime fast zehn Jahre inhaftiert gewesen sei und auf Rache sinnen
könne. Doch Befürchtungen zu seiner möglichen Revanche, widerlegt der
Kandidat bei jeder möglichen Gelegenheit mit dem Hinweis, das sei
Schnee von gestern, er trete an, um Kenia zu versöhnen, nicht zu
spalten. Eine Bemerkung, die allerdings hierzulande offenbar nur dem
Mann im Wetterhäuschen geglaubt wird.
Die andere Seite dieses Lokolkolorits Nairobis liegt im
internationalen Flair der Hauptstadt, die nunmehr seit fast vier
Jahrzehnten Sitz der Vereinten Nationen ist, mehrere Universitäten
und unzählige NGOs beherbergt und häufig Gastgeber
internationaler Konferenzen ist, die abgeschirmt hinter dem Zaun
irgend eines schwer bewachten vier- oder fünf-Sterne-Hotels
regelmäßig stattfinden. Im Januar dieses Jahres war dabei
alles ein bißchen anders, als das World Social Forum (WSF) zum
ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent zu Gast war und nach
Nairobi kam. Selten habe ich seit meiner schon mehr als zwei Jahre
zurückliegenden Ankunft in Nairobi so viele glückliche
Gesichter auf den Straßen gesehen. Häufig mit einem
Rucksack auf dem Rücken und Hand in Hand durchstreiften
neugierige Besucher aus der alten und der neuen Welt die kenianische
Metropole. Kenia ist ein Land, in dem an die 58 % der etwa 33
Millionen Bewohner täglich von 2 US-Dollar oder weniger leben
müssen. Das Regierungszentrum Nairobi gleicht dabei vielen
westlichen Großstädten und ist in seinem Zentrum dominiert
von einer massiven Hochhauskultur, überdimensionalen Bill
Boards, schwer bewachten Shopping Malls, funkelnden Einkaufsstraßen,
Fast Food Restaurants südafrikanischer Provenienz --
McDonalds und ähnliche Marken wird man hier vergeblich suchen,
denn die Kenianer lieben ihr kuku, ihr Huhn mit Pommes
Frites -- und Roundabouts, an denen sich zu jeder Tageszeit der
Verkehr staut. Abgesehen von den nach jedem Regen aufgeweichten
Strassen, regelmäßigem Stromausfall, Wasserknappheit in
Teilen der Stadt und Matatus mit dem Schriftzug "Kibera",
die täglich tausende von Arbeitern und Arbeitssuchenden aus dem
größten Slum Afrikas in die Innenstadt befördern und
zurück, strahlen Nairobis Innenstadtbezirke eine urbane
Normalität aus, die man im Rest Kenias und sicherlich auch in
weiten Teilen Afrikas nicht finden wird. Dementsprechend enttäuscht
reagieren dann teilweise gutmeinende MitarbeiterInnen aus
internationalen Organisationen, die nach Kenia kommen, und euphorisch
verkünden, "I give my first salary to the people."
Einmal angekommen, ist der Weg zu den Massen der hilfsbedürftigen
Menschen aber häufig schwieriger zu finden, als geahnt, und die
Euphorie der Anfangstage versiegt schnell, wenn man feststellt, daß
Afrika -- und Nairobi -- ganz anders sind als im
europäischen Fernsehen dargestellt. Slumbewohner und andere
Stadtmenschen sind auf den ersten und zweiten Blick nicht voneinander
zu unterscheiden, der Bildungshunger der kenianischen Bevölkerung
und ihre Sprachkompetenz ist überwältigend und auch in den
riesigen Slums um Nairobi herum findet man informelles Management und
Infrastruktur. Wer hier wirkungsvoll (mit)helfen will, vor allem beim
'empowerment of the poor', und der Selbstorganisation der
armen Masse der Bevölkerung, muß sich auf eine Politik der
kleinen Schritte, manchmal auch der winzigen Schritte einstellen.
Außerdem zeigt sich in Nairobi täglich die universelle
Wahrheit, daß unterprivilegierte Gruppen und ausgebeutete
Menschen nicht die besseren Menschen sind. Eine Erkenntnis, die einem
die Erfahrung des Fremden schon mal verleiden kann. So wurden
AktivistInnen und DichterInnen während einer WSF Veranstaltung
im Kulturzentrum Go-down im Industrieviertel Nairobis
um Taschen, Mobiles, ein Laptop und Portemonnais gebracht. Eine
ausgesprochen unerfreuliche Erfahrung, der während großer
Veranstaltungen in Nairobi nur durch vorausschauende Vorsicht zu
begegnen ist. Ein 'self-empowerment' mit ungewünschten
Effekten, das weniger mit struktureller Armut in Afrika als mit
städtischer Kriminalität zu tun hat. Hauptversammlungsort
des WSF war das außerhalb des Stadtzentrums gelegene
Kasarani-Sportstadion, in dem der kenianische Minister für
Innere Sicherheit das Catering in die Hände von Firmen gelegt
hatte, an denen er mitbeteiligt sein soll. Luxushotels wie
Windsor-Hotel und Norfolk-Hotel verkauften internationale Gerichte zu
internationalen Preisen. Daraufhin stürmte ein heterogene Gruppe
unter den TeilnehmerInnen und anderen Passanten die exklusiven
Essensstände und machten dem Verkauf den Garaus. Nachdem der
anfängliche Tages-Eintritt für das WSF und die Anfahrt zum
Stadion für viele Interessierte unerschwinglich war, verlagerte
sich außerdem ein Teil des WSF in die Jevanjee Gardens
im Zentrum Nairobis, wo sich kenianische PolitikerInnen und
AktivistInnen versammelten und eine Gegenveranstaltung ohne Eintritt
organisierten. Es scheint, als müsse das vor wenigen Jahren mit
großer Resonanz und Massenwirkung gestartete WSF sich neu
definieren. Mit etwa 60 000 TeilnehmerInnen und einem zu erwartenden
Riesendefizit von über einer halben Million US-Dollar blieb man
in Nairobi auch quantitativ weit hinter den Erwartungen zurück.
Erfahrungsberichte von TeilnehmerInnen zeigen, daß sich auch
innerhalb eines Forums wie dem WSF, das mit einem globalen Anspruch
und kritischem Potential gegen die Übermacht der Industrieländer
antritt, interkulturelle Sprachlosigkeit und Mißverständnisse
verfestigen. Die wichtigsten Politikbereiche des WSF bleiben weiter
unerreicht: mit der Forderung nach Schuldenerlaß für
Länder der sogenannten Dritten Welt; mit der Bekämpfung der
Korruption; mit dem Einsatz gegen Gewalt gegen Frauen und für
Rechte von Frauen, unter anderem auf Bildung und faire Bezahlung; mit
dem Bemühen um effektive interkulturell adaptierte Aufklärung
und finanzielle Hilfe bei HIV/Aids; mit dem Einsatz für die
Rechte von Schwulen und Lesben. Deren Slogan wurde bei der größten
Demonstration des WSF zum ersten Mal in Kenia weithin sichtbar: "We
are here, we are queer, we are proud." So ist Nairobi --
vielversprechend, glitzernd, gefährlich und hart. Aber in
Afrika, außerhalb Nairobis, da, wo kein Hummer
hinkommt, sieht man das wahrscheinlich ganz anders, da sind solche
Slogans der Schnee, der nie gefallen ist.
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Dr. Marie Elisabeth Müller ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Seit Mai 2008 tätig im Internationalen Bildungsmanagement für deutsche Hochschulen und internationale Institutionen. Von Oktober 2004 bis April 2008 als literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Seit 1993 Arbeit als Journalistin, Redakteurin und Autorin für Radio und Printmedien und als Regisseurin für Radiofeatures. Autorin von über 40 Features und einigen Hörspielen; unter anderem Bearbeitung von Martin Amis, Night Train für den MDR (erschien im Audio-Verlag 2002). 2005 veröffentlichte Hoffmann Und Campe ihr Buch Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste, Die wahre Geschichte, das sie in enger Zusammenarbeit mit Mietek Pemper und Viktoria Hertling schrieb und das mehrfach übersetzt worden ist, u.a. 2008 in englischer Übersetzung bei The Other Press, New York. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachjournalen und in Internetzeitschriften. Themen: Kultur- und Bildungsmanagement -- Kulturjournalismus -- Interkulturelles Training -- Medientheorie -- Zeitgenössische Literatur.Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com