Nairobi, 26. Mär 2008_ "Für
einen Mann, der nur einen Hammer als Werkzeug zur Verfügung hat,
sieht alles aus wie ein Nagel." Diese (vorgeblich) afrikanische
Weisheit kam in Kenia in den vergangenen Monaten zu gespenstischer
Wirklichkeit. Zuerst fälschte die mächtige Clique um
Staatspräsident Mwai Kibaki in plumper Manier vor
live-übertragenden Fernsehkameras die langersehnten Wahlen vom
27.12.2007. Danach brach mörderische Gewalt im Rift Valley aus
zwischen Angehörigen der Kalenjin, die sich seit vielen
Jahrzehnten um Land und Recht betrogen sehen, und Kikuyu, die als
Angehörige von Kibakis Heimatregion stellvertretend
niedergemetzelt wurden und sich anderenorts grausam revanchierten.
Schließlich gingen regierungsnahe Polizeispezialeinheiten mit
äußerster Brutalität gegen unbewaffnete Demonstranten
in den größten kenianischen Städten und Slums vor,
besonders in Kisumu an den Ufern des Lake Victoria, wo hunderte Tote,
überwiegend junge Menschen, Opfer von Polizeischüssen
wurden. Massakerhafte Szenarien allerorten, zeitnah in den
kenianischen Medien dokumentiert. 'Reality TV', das seine
Zuschauer unmittelbar nebenan erstarren ließ. Die Männer
und Frauen mit dem Hammerblick sahen offenkundig nur eine Option in
der Wahl ihrer Mittel. Sie regierten das Land als ginge es um alles
oder nichts -- für Sie und Ihre Clans, vorzugsweise aus
Zentralkenia, die sich seit 1963 und seit dem ersten kenianischen
Staatspräsidenten Jomo Kenyatta allein dazu berufen fühlen,
das ostafrikanische Land zu führen. Gegen Oppositionspolitiker
anderer Gemeinschaften, wie Luos aus Nyanza in West-Kenia, oder
Kalenjin aus dem Rift Valley, helfen traditionellerweise bösartige
Märchen. Beispielsweise ist das Argument in Kenia bis heute
weitverbreitet, daß ein unbeschnittener (Luo-)Mann nicht
führungs- und daher auch nicht politikfähig sei. Das zielt
vor allem gegen Politiker, die Angehörige der Luo sind, da
Beschneidung als Initiationsritual nicht Teil der Luokultur ist.
Inzwischen bin ich nicht mehr erstaunt, auf meine Frage, "Was
hälst Du von dem führenden Oppositionspolitiker Raila Amolo
Odinga?", die Antwort zu hören, "Auf keinen Fall
möchte ich von einem Luo regiert werden! Die sind zu nichts zu
gebrauchen. Und er ist nicht beschnitten." Ach ja, na klar.
Bleibt vielleicht nur zu erwähnen, daß Raila Odinga, Sohn
des legendären Jaromogi Odinga Oginga, des ersten
Vize-Präsidenten Kenias, ein erfolgreicher Politiker und
Geschäftsmann ist, der sich seit den 1980er Jahren für
Demokratie und Mehrparteiensystem in Kenia einsetzt und unter dem
Diktator Daniel Arap Moi mehr als neun Jahre ohne Anklage im
Gefängnis saß. Wie immer durchschlagen Fakten am
wirkungsvollsten den Nebel von Denunziationen, in diesem Fall von
ethnischen Klassifikationen. Man schaue sich nur mal an, wer in Kenia
wann als Beamter berufen und wer wann abberufen, wer in die höchsten
Gerichte ernannt wurde und wer nicht, wer von Banken
(Kleinst-)Kredite erhielt und wer nicht. Diese Daten erzählen
von Machtspielen und Lügengeschichten, die mit Hilfe von
ethnischen Etiketten aufgetischt und institutionalisiert worden sind.
Ein aktuelles Beispiel bieten derzeit die nationalen
Abitur-Ergebnisse, genannt: Kenya
Certificate of Secondary Education (KCSE), von Februar 2008, die gerade vor Gericht
angefochten werden. Es geht unter anderem darum, daß Lehrer und
Lernmaterialien aus Schulen in Westkenia und Rift Valley abgezogen
worden sind, daß bei der Auswahl von Lehrern die Schulen in
Zentralkenia bevorzugt wurden und die Ergebnisse nicht fair berechnet
worden sind. Davon betroffen ist die zukünftige Elite, der
führende Bildungsnachwuchs im ganzen Land, der unerbittlichem
Wettbewerb unterliegt.
Es
sind diese aufbrechenden Gespenster der Vergangenheit, die Kenia
jetzt einholen und jagen. Gespenster der älteren Vergangenheit
seit Machtübernahme Kenyattas 1963, und der jüngeren
Vergangenheit seit 2002 mit der gescheiterten großen
'Regenbogen'-Koalitionsregierung unter Mwai Kibaki, die
mit großer Unterstützung antrat und fast alle ihre
Versprechen brach. Die Konsequenzen wird das Land und die ganze
Region noch jahrelang spüren. Zwar boomte die Börse in
Nairobi ohne Unterbrechung und blieben wirtschaftliche Großdaten
vielversprechend, beispielsweise verdreifachten Tee- und
Kaffeexporteure ihren Gewinn. Doch der Tourismus, die stärkste
Devisen- und Einnahmequelle des Agrarlandes floppte gleich zu Anfang
Januar und etwa 1 Million Jobs wurden vernichtet, während sich
zugleich die Lebenshaltungskosten annähernd verdoppelten. Bauern
bewirtschafteten ihre Felder nicht rechtzeitig und konnten für
die nächste Ernte keine Saat auslegen; in wenigen Monaten droht
in weiten Landesteilen eine Hungersnot. Eine fatale Abwärtsspirale
in einem Land, in dem schon vor der 'Wahl-Krise' fast
zwei Drittel der über 30 Millionen großen Bevölkerung
unter der Armutsgrenze lebten.
So
taumelte Kenia Ende Dezember 2007 über Nacht in die größte
Krise seit seiner Unabhängigkeit 1963. Bis Anfang Januar kam der
Transport fast im ganzen Land zum Stillstand, in vielen Städten
waren die Regale in den Supermärkten fast leer, Geschäfte
öffneten nur stundenweise, Benzin und Kerosin wurden knapp.
Danach hielt für Wochen allein die hermetisch abgeriegelte
Innenstadt der Metropole Nairobi ihren Betrieb aufrecht, wie in einer
irrealen Phantasiewelt. Traumatisierte Bewohner aus dem riesigen
Landstrich des Rift Valley kamen auf verschlungenen Wegen in die
Hauptstadt und sahen fassungslos, wie Bewohner und Expats
weiterlebten wie zuvor. Sex, Drugs and Disco blieben hier wie in
einem zeitversetzten Film ganz oben auf der Tagesordnung. Seit Mitte
Januar öffneten die meisten Büros und Geschäfte wieder
normal und der Verkehr staute sich wie immer im richtigen Nairobi.
Schulen und Universitäten riefen ihre Studierenden nach und nach
zurück zum Unterricht, soweit sie zurück nach Nairobi
hatten kommen können. Das restliche Kenia hingegen befand sich
noch bis Ende Februar in einem unausgesprochenen Ausnahmezustand;
aufgelockert nur durch die überall in Kenia intensiv verfolgte,
couragierte Verhandlungsführung des ehemaligen
UN-Generalsekretärs Kofi Annan. Man verharrte im ganzen Land in
einem gelähmten Wartezustand auf das Unvermeidliche: ein
Wiederaufflammen der Gewalt oder eine nachhaltige politische Lösung
für die massiven Probleme, die unter dem Begriff 'Wahl-Krise'
zusammengekocht wurden.
Allen
war längst klar, daß diese Krise hausgemacht ist und aus
dem lange schwelenden, brutal unterdrückten Verteilungskampf
stammt, der nun zum ersten Mal öffentlich und extrem gewaltsam
ausgetragen wurde. In den großen Gebieten des Rift Valley und
Westkenias konnte man schon lange die Zeichen an der Wand lesen, wenn
man wollte. Kurz vor den Wahlen war man hier in Orange-Land zu Hause,
allerorten kleideten sich die Menschen in den grell orangenen Farben
der Opposition Orange Democratic Movement (ODM), das
mit dem überregionalen 'Pentagon-Team' angetreten
war, um die Hoheit der Zentralkenianischen Politiker zum ersten Mal
seit 1963 abzulösen. Raila Odinga und seine Mitstreiter bauten
auf eine moderne, vielseitige Wahlkampfstrategie, die in ihrer
Öffentlichkeitswirkung gezielt auch auf die
Unabhängigkeitsbewegungen Osteuropas nach 1989/1990 anspielte.
Im Gegenzug verwendeten Kibaki und seine Party of National
Unity (PNU) in direkter Anspielung auf ihre Traditionslinie
bis zum Gründungsvater Jomo Kenyatta ein blau-rotes Logo mit der
Feuerfackel der Unabhängigkeit. Damit unterschätzten sie
das moderne Auftreten der ODM-Werbemaschine und den in weiten
Bevölkerungsteilen aufgestauten Haß gegen den
jahrzehntelangen Nepotismus, für den viele jüngere Kenianer
auch Gründungsvater Kenyatta und neuerdings den dritten
Präsidenten Kibaki und seine Clique verantwortlich machen. Man
hörte vielerorts ungeduldige Prognosen, die diese Sicht
zusammenfaßten. Beispielsweise hieß es im Rift Valley,
"Die Wahlen 2002 standen unter dem Motto 'Kenia gegen
Kanu' (die Moi-Partei), die diesjährigen Wahlen stehen
unter dem Motto 'Kenia gegen Kikuyu'." Hierin hätte
man schon vor der Wahl im Kern die Gewalt gespiegelt sehen können,
die unmittelbar im Anschluß an den Wahlputsch ausbrechen
sollte.
Natürlich
wäre kein Kenianer so naiv, zu erwarten, daß sich die
langjährigen korrupten Mechanismen in den legalen und exekutiven
Wegen der Regierung schlagartig in Wohlgefallen auflösten, wenn
nur ODM als Wahlsieger an die Macht gekommen wäre. Zuviele der
Politiker im Oppositionslager sind altbekannte Gesichter, die
teilweise auch schon jahrzehntelang auf der politischen Bühne
mitspielen. Das ganze Spiel und seine Protagonisten sind wohlbekannt,
aber man wäre allgemein schon zufrieden, wenn sich peu à
peu einige Spielregeln ändern liessen und nach und nach auch
Teile des ganzen Spiels und seines Personals. Und ODM traute man
allgemein doch am ehesten zu, daß seinen Politikern neben ihren
Eigeninteressen auch die existentiellen Interessen der gesamten
Bevölkerung, insbesondere der ärmsten Schichten, am Herzen
lägen. Deshalb hörte man vor den Wahlen immer wieder die
lapidare Feststellung: "Nicht nur 1 Stamm soll essen, alle
anderen 41 Stämme sollen auch essen." Zum ersten Mal in
der kenianischen Geschichte trat mit ODM eine Partei an, die ihre
politische Wirkungskraft mit der Kombination von Konzepten und
Personen erzielt. Es geht ihr dabei um fairere Landverteilung, um
gerechtere Postenverteilung im Beamtenapparat, um eine föderal
ausgerichtete Verteilung der Staatsresourcen auf alle Regionen.
Hoffnungsfroh hatte die Mehrheit der Kenianer auf lange Reisen über
das sonst für Familientreffen genutzte Weihnachtsfest
verzichtet, um am 27.12. stundenlang anzustehen und ihre Stimme
abzugeben. Doch was eintrat, war ein totales Desaster, das das
restliche Vertrauen der Kenianer in legale und staatliche Strukturen
womöglich komplett zerstörte. Nur einige wenige waren auf
dieses Gewaltszenario vorbereitet, als sie schon im November 2007
skeptisch davon sprachen, daß nicht ausgeschlossen werden
könne, daß die Clique um Kibaki auch eine Diktatur plane,
weil ihre Bereitschaft zu friedlicher Machtübergabe nicht
vorhanden sei. Sie sollten Recht behalten. Als bei der von
internationalen und nationalen Wahlbeobachtern gut überwachten
Auszählung der Stimmen klar wurde, daß ODM voraussichtlich
in sechs von acht Provinzen, PNU in einer von acht Provinzen gewonnen
hatte -- Eastern, die siebte Provinz sollte danach an ODM-Kenya
gehen, eine PNU-nahe Partei aus Ostkenia unter Führung des
ebenso windigen wie wetterfesten kenianischen Vize-Präsidenten
Kalonzo Musyoka -- schlug tatsächlich die Stunde der
unversöhnlichen Betonköpfe. Die selbsternannte
Regierungsclique von PNU aktivierte ihren Plan B, mit dessen Hilfe
sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Macht in Kenia behielt und
weiterregierte, als sei das ihr angeborenes Recht. Hingegen beharrten
die ODM Vertreter hilflos auf den legalen Instrumentarien des
politischen Apparates, der sich inzwischen als illegal entpuppt
hatte. Wie beim Referendum über eine neue Verfassung im Dezember
2005, das die Oppositionsbewegung ODM klar gewann, ging es auch
diesmal um mehr als nur einen Regierungswechsel. Der 'Wind des
Wechsels', der den langen, äußerst lebhaften
Wahlkampf über im ganzen Land zu spüren gewesen ist, betraf
nicht nur den ersehnten Wechsel des Regierungspersonals, sondern auch
den Wechsel des Regierungssystems und eine neue Verfassung. Stärkung
des parlamentarischen Systems und föderale Machtteilung galten
als Aufgaben der Stunde -- das ODM-'Pentagon-Team'
repräsentiert dementsprechend sechs der sieben Hauptprovinzen
Kenias, außer der Provinz Nairobi. Nicht wenige meiner
Bekannten waren optimistisch, bald einen neuen Bewohner in State
House begrüßen zu können. Doch alles kam ganz anders,
und zum erneuten Male nach 2002 befindet sich die kenianische
Regierung heute in einem mühsamen Koalitionsprozeß, der
von allen Seiten starke Kompromisse erfordert, die den erhofften
'Wind des Wechsels' auf den kleinsten gemeinsamen Nenner
komprimieren werden müssen. Die kolossale Enttäuschung in
der Bevölkerung lag in den Tagen und Wochen nach der Wahl
schneidend in der Luft. Die Hoffnung so vieler Kenianer, eine
nachhaltig andere Politik zu erleben, war zerstört am
29.12.2007, dem Tag der voreiligen Verkündung der Wahlergebnisse
durch die regierungsnahe Wahlkommission und ihren Vorsitzenden Samuel
Kivuitu und die darauffolgende, flugs inszenierte Einschwörung
der alten-neuen Regierung.
Am
Tag danach driftete Kenia in eine melancholische Auszeit, die den
Januar und Februar über anhielt. Der magische Frohsinn, der
normalerweise ins Wesen vieler Kenianer eingeprägt zu sein
scheint, blieb unauffindbar. Alptraumhafte Beklemmung zeichnete die
Stimmung im Land und auf den Straßen sogar noch am Nachmittag
des 28. Februar aus, dem Tag als Mwai Kibaki und Raila Odinga
überraschend und endlich zur Unterschrift unter einen neuen
Friedenspakt ('National Accord 2008') schritten, unter
den wohlwollenden Augen ihrer afrikanischen Vermittler. Das waren in
erster Linie der ehemalige UN Generalsekretär Kofi Annan, der
sich mit seltenem Langmut schon kurz nach Beginn der Krise in Nairobi
eingerichtet hatte und über 40 Tage lang bis zum erfolgreichen
Abschluß durchhielt; der ehemalige tansanische Präsident
Benjamin Mkapa; die Menschenrechtlerin Graca Machel, Ehefrau von
Nelson Mandela; und der amtierende tansanische Präsident Jakaya
Kikwete; sie alle maßgeblich unterstützt von der
US-Regierung, insbesondere Außenministerin Condoleeza Rice, und
einer klaren Linie der Europäischen Union. Kikwete, der derzeit
auch als Vorsitzender der Afrikanischen Union agiert, flog nur
Stunden vor Ende des Verhandlungsmarathons ein und machte sich für
ein Regierungsmodell stark, in dem die Macht zwischen einem
Staatspräsidenten (Kibaki) und einem exekutiven
Regierungspremier (Odinga) geteilt wird. Dieses setzte sich
schließlich in dem Abkommen durch und entspricht dabei übrigens
in wesentlichen Teilen dem Modell, das ODM schon 2005 und beim
Verfassungsreferendum in Kenia hatte durchsetzen wollen. Seit dem
Friedensabkommen in letzter Minute ist das kenianische Parlament nun
seit einigen Wochen damit beschäftigt, die notwendigen
Verfassungsänderungen zur Einrichtung des Amtes eines Premiers
und seiner beiden Stellvertreter zu ratifizieren, eine neue Regierung
zu bilden, sowie die verabredeten Kommittees einzurichten, mit deren
Hilfe die eskalierte 'Wahl-Krise', Verteilung von Land
und Besitz sowie ethnisch motivierte Verbrechen in der Vergangenheit
Kenias juristisch aufgearbeitet werden sollen.
Also,
wieder Friede, Freude, Eierkuchen? "One people. One nation.
Choose peace." -- wenn ich mein Handy des
Mobilfunkbetreibers Celtel auflade, erscheint seit den
ersten Januartagen bis jetzt dieses Motto. Die urbane Geschäftswelt
und die aktive Zivilgesellschaft Kenias machten sich von Beginn der
'Wahl-Krise' an für ein einiges Kenia stark. Fast
scheint es nun so, als sei alles nur ein Spuk gewesen und die
nationalen, überregionalen Interessen stünden fraglos
wieder im Zentrum kenianischer Politik. Doch die Opfer der
eskalierten 'Wahl-Krise' in Rift Valley, in Eldoret,
Nakuru, Naivaisha, Kisumu, Mombasa und Nairobi erzählen von
einer anderen Bilanz. Einer Bilanz, nach der sich Kenia fast im Nu am
Rand eines kapitalen Abgrunds wiederfand. Einer Bilanz, nach der
heute mehr als 1.200 Ermordete, Hunderte von Vergewaltigungsopfern
und mehr als 300.000 Vertriebene, die bis jetzt größtenteils
noch in DP-Lagern (displaced persons) leben, zu beklagen sind. "Wenn
es zu einer neuen Gewaltwelle kommt, dann haben wir vielleicht kein
Kenia mehr", sagte mir ein besonnener Kollege an der University
of Nairobi bestürzt noch wenige Tage vor dem sensationellen
Friedenspakt vom 28. Februar. Wie ein Damoklesschwert lag ein
Scheitern der Gespräche über den Köpfen der Kenianer,
denen das Lachen für etliche lange Wochen buchstäblich
vergangen war. Aber Kenia wäre nicht Kenia, und vor allem noch,
Nairobi wäre nicht Nairobi, wenn der grausame Spuk sich nicht
schlagartig in eine bizarre rosarote Spaßblase rückverwandelt
hätte. War da was? Machtteilung, Partnerschaft, Versöhnung
sind nun die Vokabeln, die Politik und Rhetorik in Kenias
Regierungsmetropole dominieren. Politiker aller Lager treffen sich
wie alte Freunde zu Frühstück, Mittagessen, Abendessen in
den großen Luxushotels der Stadt und im Fitneßstudio als
sei nichts geschehen. Man versichert sich gegenseitig größter
Wertschätzung, knobelt über Posten und lächelt in jede
Kamera. Seither tauchen beide Staatsführer, Kibaki und Odinga,
zu bald allen Großereignissen der nationalen Bühne wie
Zwillingskinder an einer Schnur gemeinsam auf; sei es zum Golfturnier
in Karen, das zu Odingas Wahlkreis gehört, oder zur
Parlamentsdebatte zur Ratifizierung der vereinbarten Gesetzesvorlagen
aus dem Friedenspakt, an der der amtierende Präsident
bemerkenswerterweise als bloßer Parlamentarier teilnahm. Ein
Novum in der Geschichte des kenianischen Parlaments, dessen
Mitglieder die bestbezahlten der Welt sind, jedoch bislang nur einmal
pro Woche im Parlament zusammentreten -- aber das soll bald
Schnee von gestern sein, wie so viele Dinge, die zukünftig vom
neu aufblasenden 'Wind des Wechsels' mitgenommen werden
sollen.
Im
Land herrscht seit dem Überraschungscoup von Kofi Annan unter
Mithilfe der beiden kenianischen Staatsmänner große
Erleichterung - und neu aufflammendes Sendungsbewußtsein.
Schließlich galt Kenia bis vor kurzem als afrikanisches
Musterländle und da will man auch wieder hin, am besten sofort.
So kam es, daß man in Kenia zunächst einmal das so
schmerzlich begonnene Jahr 2008 von neuem begann. Schon den ganzen
März über beglückwünscht man sich mit Verve zum
frohen Jahresbeginn. Leichtfüßige Witze bestimmen
neuerdings wieder den Auftakt der meisten Gespräche. Nach dem
Motto "Zuerst plündern, dann teilen wir" --
"First we loot, then we share", überwinden die
Nairobi-Bewohner jegliche Scheu davor, ihr Gegenüber und die
jüngste Geschichte gleich mit auf den Arm zu nehmen. Es kommt
mir so vor, als würde das blutige Intermezzo inzwischen
betrachtet als Vorspeise zu einem wirklich guten Menü. Die
letzten zwei Monate sind wie verschwunden im Schwarzen Loch. Die
Tageszeitung Daily Nation war morgens schon
ausverkauft, als sie am 19. März 2008 mit der Titelzeile
"Historic Moment" aufmachte, nachdem tags zuvor das
Parlament den Weg für den neuen Premier freigemacht hatte. Kenia
schwelgt im süßen Traum neugewonnener Normalität und
besingt die historische Größe seiner jüngsten
politischen Helden, lange bevor jegliche Änderung de facto auf
der politischen Tagesordnung implementiert wurde. Noch bevor der
designierte Premier, aller Voraussicht nach Odinga, offiziell im Amt
bestätigt ist, fährt er bereits mit aufgestocktem
Polizeischutz in einem Tross unzähliger Staatskarossen durch die
Gegend, und bringt damit, wie alle anderen Staatskarawanen auch, den
Verkehr in Nairobi zum völligen Erliegen. Neuerdings kann man
raten, ists der Präsident oder ists der Premier, für den
die Heerscharen von Polizisten die vor einem liegenden Straßen
absperren. In der neuen Koalitionsregierung soll es zumal nicht
weniger als 34 Ministerien geben, na prima, damit sind ja unzählige
anschwellende Verkehrsstaus gesichert. Die Normalität hat uns
wieder.
Erst
vor kurzem schlich ich hinter einem Überlandbus her. Auf dessen
gesamter Heckscheibe prangte ein überlebensgroßes Porträt
des jungen westkenianischen Politikers Tom Mboya, der am 05. Juli
1969 ermordet worden ist, angeblich ein Auftragsmord Kenyattas. Unter
dem Porträt steht die Zeile: "Our Heroes". Wie wir
bei Brecht gelernt haben, sind Helden -- entgegen landläufiger
Meinung -- selten allein, und hatte der unschlagbare Cäsar
ja doch wohl noch einen Koch bei sich. In Kenia sind die Köche
häufig die Ehefrauen. Aber ein wohlgehütetes
Staatsgeheimnis ist hierzulande, daß Kibaki davon zwei haben
soll. Eine offizielle erste, und eine inoffizielle zweite Frau, die
er auf rein traditionelle Weise geheiratet und mit der er vor seinem
Antritt als Präsident 2002 ohne Unterlaß zusammen gelebt
haben soll. Mit seinem Eintritt ins höchste Amt wurde alles
anders. Die erste Frau wurde offizielle "First Lady" --
und langjähriger Gegenstand von Witzen hinter vorgehaltener
Hand. Wie in Kenia und sonstwo üblich, werden scheiternde Helden
gerne mit den Worten verteidigt, sie selbst seien es ja gar nicht
schuld, sondern ihr dämonisches Umfeld. So auch im Falle
Kibakis. Und wie es im Märchen meistens die böse
Stiefmutter gibt, so gibt es in seinem Fall die erste Frau, namens
Lucy, die die böse Macht sein soll. Lucy erregte in der Tat in
den vergangenen Jahren häufig Aufsehen. Einmal, als der
Präsident mit schweren Verletzungen an Schulter und Kopf ins
Krankenhaus kam. Angeblich hatte ihn seine Frau zusammengeschlagen.
Ein anderes Mal, indem sie in ihrem Pyjama aus Protest gegen
Ruhestörung die Party ihres Nachbarn im Diplomatenviertel Old
Muthaiga stürmte. Dabei handelte es sich beim Nachbarn um den
ausreisenden Chef der Weltbank, der sich von seinem Nachbarn Kibaki
zuvor die Party hatte genehmigen lassen. Ein anderes Mal stürmte
Lucy nächtens in ein Medienhaus, ohrfeigte einen Kameramann,
beschlagnahmte Material sowie Handys und besetzte stundenlang eine
der Redaktionen. Natürlich hatte sie einen Grund, denn sie
wollte gegen die ihrer Meinung nach voreingenommene Berichterstattung
über sie und ihren Mann, den Präsidenten protestieren.
"Schwamm drüber!", sagten sich die Kenianer, nachdem
sie sich zuvor jeweils ein paar Tage lang prächtig amüsiert
hatten. Während des letzten Wahlkampfs nun reiste Lucy
unermüdlich durchs Land und rief zur Wiederwahl ihres Mannes
auf. Ihr zufolge ist der 75jährige, gebrechlich wirkende Kibaki
der einzig mögliche Präsident Kenias. Allerdings, seit
Ausbruch der 'Wahl-Krise' wurde Lucy merkwürdigerweise
nicht mehr gesehen. Stattdessen hält sich ein hartnäckiges
Gerücht. Es besagt, daß Kibaki und sein Sohn im
Familienkreis laut darüber nachdachten, die offenkundige
Wahlniederlage einzugestehen. Daraufhin habe Lucy ihren Mann, den
Präsidenten, mit einer Schußwaffe bedroht, um ihn mit
Gewalt zu zwingen, im Amt zu bleiben. Bei dem Vorfall sei jedoch ihr
Sohn dazwischengegangen, und die Mutter habe statt ihren Mann ihren
eigenen Sohn ins Bein geschossen, einen anderen jungen Verwandten
tödlich getroffen. War da was? Es sind diese unglaublichen
Gerüchte und obskuren Geschichten, die in Kenia in den
vergangenen Jahren niemals verstummten und regelmäßig für
gute Unterhaltung sorgten. Gut möglich, daß sie mit dazu
geführt haben, die reale Krisensituation im Wohlfühlland am
Indischen Ozean zu unterschätzen. Denn vielleicht sind es ja
auch diese Geschichten, die zeigen, warum es bei der 'Wahl-Krise'
2007/2008 keinen effektiven Plan B gab, um den ganz realen
Ausnahmezustand abzuwenden. Und, vielleicht zeigen sie auch, daß
Geschichten im Schwarzen Loch nicht verschwinden, sondern mit neuer
Energie aufgeladen wieder auftauchen._//
autoreninfo

Dr. Marie Elisabeth Müller ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Seit Mai 2008 tätig im Internationalen Bildungsmanagement für deutsche Hochschulen und internationale Institutionen. Von Oktober 2004 bis April 2008 als literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia. Seit 1993 Arbeit als Journalistin, Redakteurin und Autorin für Radio und Printmedien und als Regisseurin für Radiofeatures. Autorin von über 40 Features und einigen Hörspielen; unter anderem Bearbeitung von Martin Amis, Night Train für den MDR (erschien im Audio-Verlag 2002). 2005 veröffentlichte Hoffmann Und Campe ihr Buch Mietek Pemper, Der rettende Weg. Schindlers Liste, Die wahre Geschichte, das sie in enger Zusammenarbeit mit Mietek Pemper und Viktoria Hertling schrieb und das mehrfach übersetzt worden ist, u.a. 2008 in englischer Übersetzung bei The Other Press, New York. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachjournalen und in Internetzeitschriften. Themen: Kultur- und Bildungsmanagement -- Kulturjournalismus -- Interkulturelles Training -- Medientheorie -- Zeitgenössische Literatur.Homepage: http://memplexx.de/E-Mail: mem@gmx.com