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korrespondenz -> new york, 16. aug 2003
 
 
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New York im Dunkeln

von Alexander Schlutz

New York, 16. Aug 2003_  Wer nicht im Aufzug, in der U-Bahn, oder in einem Kaufhaus feststeckte -- elektronisch gesteuerte Türen bleiben bei Stromausfall geschlossen --, wer sich keine Sorgen um den Verbleib von Kindern und Familie, oder um die Stromversorgung eines Krankenhauses machen mußte, wer nicht bis tief in die Nacht hinein an der Grand Central Station, oder an einer Bushaltestelle warten mußte, um den Weg nach Hause zu finden, wer nicht stundenlang im Stau stand, beim Anstehen an den Zapfsäulen kein Benzin mehr bekam, oder auf den Fährverkehr nach New Jersey angewiesen war, für den konnte der 14. August 2003 in New York City zum Festtag werden. Das galt besonders für jemanden wie mich, der, gerade erst nach New York gezogen, noch ohne jegliche Verpflichtungen war, und somit vollkommen sorglos den Fußmarsch von Midtown Manhattan nach Williamsburg, Brooklyn antreten konnte.

Großstädte muß man zu Fuß erkunden, und eine urbane Wanderung vom Central Park bis zur Lower East Side hatte ich mir eh für die nächsten Tage vorgenommen, so daß die Krisensituation des größten Stromausfalls der US-Geschichte und der gemeinsame Exodus mit Tausenden von anderen südwärts strömenden New Yorkern nun eine einmalige Gelegenheit wurde, dieses Vorhaben -- wenn auch gezwungenermaßen -- in die Tat umzusetzen. Wann schließlich kann man schon einmal eine Metropole im Ausnahmezustand erleben, und das vollkommen friedlich, ja teilweise fast ausgelassen, ohne die beängstigenden Schrecken einer echten Katastrophe im Nacken? Denn wenn auch die Kommentare aus den batteriebetriebenen Radios, um die sich an den Straßenecken Menschentrauben bildeten, immer wieder glaubten, versichern zu müssen, daß der Grund für den Zusammenbruch des Stromnetzes nicht in einem Terroranschlag zu suchen sei, war auf den Straßen Manhattans von Panik nichts zu spüren. Im Gegenteil: Ohne groß zu zögern regelten die New Yorker Bürger an den kritischen Straßenkreuzungen kurzerhand selbst den Verkehr, während die in den Alarmzustand versetzte Polizei sich noch durch die verstopften Straßenschluchten quälte, geschäftstüchtige Straßenverkäufer und Ladenbesitzer versorgten die Fußgängerflut mit dem in der Augusthitze mehr als nötigen Trinkwasservorrat, Cafés, Bars, und Restaurants riefen in konzertierter Aktion eine "Black Out Happy Hour" ins Leben, um den Gestrandeten, von denen sich Viele dann auch schon bald mit noch kaltem Bier am Strassenrand zuprosteten, den heißen Nachmittag so angenehm wie möglich zu machen, und wem die Hitze und die Anstrengung zu sehr zusetzte, der bekam umgehend von den Umstehenden Luft zugefächelt und Wasser gereicht. -- Die Gefaßtheit, Selbstorganisation und der Altruismus der ansonsten so einzelkämpferischen New Yorker in Krisensituationen ist mittlerweile schon beinahe legendär. Auch die nach und nach aus den dunklen U-Bahntunneln Entlassenen trugen ihr Schicksal mit stoischer Ruhe, und niemand in der Stadt versuchte, sich die Lage in großem Stil kriminell zunutze zu machen -- ein Ansteigen der Einbrüche und Überfälle war auch nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu verzeichnen. Da tanzte und grillte man lieber mit den Nachbarn im Kerzen- und Scheinwerferlicht auf der Strasse, während am New Yorker Nachthimmel ausnahmsweise einmal die Sterne zu sehen waren.

Unglauben, Kopfschütteln und Unmut über das Ausmaß des Systemversagens -- "This is fucked up!" -- waren aber natürlich dennoch immer wieder zu hören, und Hilary Clinton, Senatorin des Staates New York, versprach schon in den Abendstunden, die Ereignisse des Tages zum Anlaß zu nehmen, der auf Deregulation basierenden Energiepolitik der Bush-Regierung auf den Leib zu rücken. Mehr als alles Andere bringt der gigantische Totalausfall, der innerhalb von wenigen Sekunden Millionen von Menschen von Kanada bis New Jersey und von Ohio bis New York City den Energie- und streckenweise auch den Wasserhahn zudrehte wieder einmal das Paradox eines Landes ans Licht, das zum einen mit eiserner Faust als Weltmacht das 21. Jahrhundert zu beherrschen sucht und zum anderen mit dem heimischen Hinkefuß oftmals noch im Mittelalter steckt. "Wir müssen uns nun der Tatsache stellen, daß das technologisch fortgeschrittenste Wirtschaftssystem der Welt auf einem Energiesystem basiert, das teilweise noch aus den fünfziger Jahren stammt," kommentierte einer der verantwortlichen Politiker die Folgen der Krise, deren tatsächliche Ursachen weiterhin unklar sind. Tom Ridge und George W. Bush mögen das Verhalten der New Yorker Bürger im Ausnahmezustand noch so sehr preisen, für die offiziell so hochgelobte 'homeland security', die Sicherheit der 'Heimatfront' im 'Krieg' gegen den Terror, ist solche Verletzlichkeit kein gutes Zeichen, auch wenn in diesem Falle kein böses Spiel der Auslöser war. Ein Hinterfragen des eigenen Hochmutes aber ist von Seiten der US-Regierung wohl kaum zu erwarten. Was hierzu geschehen müßte, wagt man kaum auszudenken.

Mit solchen Fragen trug ich mich aber zugegebenermaßen nicht, als ich zusammen mit meinen Mitbürgern aus Brooklyn und Queens bei Sonnenuntergang nach vierstündigem Fußweg die für den Autoverkehr nach Manhattan gesperrte Williamsburg Bridge überquerte, die übrigens gerade ihren hundertsten Geburtstag feiert. Da genoß ich ganz einfach den elektrisierenden Puls der Menge und den unverstellten Blick auf die New Yorker Skyline, wo das Empire State Building gerade im Abendrot golden zu leuchten begann. _//
 

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