New York, 7. Nov 2004_
Wer am Mittwochmorgen in New York City auf die Straße trat, konnte
sich des Eindrucks kaum erwehren, die gesamte Stadt sei gerade von
einer Beerdigung zurückgekehrt. Nachdem klar war, daß auch der letzte
Strohhalm des Vorabends, die Auszählung der Briefwahlstimmen in Ohio,
für einen eventuellen Wahlsieg John Kerrys aufgegeben werden mußte,
ging man auf den Straßen gesenkten Hauptes, und in der U-Bahn war das
in New York so ungewohnte Schweigen beinahe unheimlich. Depression
hing in der Luft, und so ziemlich jeder schien am Morgen mit einem
Sack Zement auf den Schultern wach geworden zu sein. Im Fenster meines
Stammmexikaners hatte das Personal sogar einen kleinen Altar im Stile
des Dia de los muertos errichtet, so als seien im Laufe der
Nacht die USA selbst verstorben, und auf die Frage wie es einem ginge,
antwortete ausnahmsweise kaum jemand mit dem ansonsten instinktiven
"I'm fine." "Gut," so schien allen klar,
konnte es an diesem Morgen keinem vernünftigen Menschen gehen, und das
Gegenteil zu behaupten erschien wie das Eingeständnis, noch vor Kurzem
seine Seele verkauft zu haben. In den Restaurants und Cafés war die
Stimmung gedämpft, und man sprach mit gesenkter Stimme und beinahe
hinter vorgehaltener Hand, so als könne man dadurch, so wenig
Aufmerksamkeit als möglich zu erregen, die Illusion aufrechterhalten,
es handele sich beim Ausgang der Präsidentschaftswahl einfach nur um
einen schlechten Traum, aus dem man in Kürze wieder aufwachen
werde. Nur mein Käsehändler im Laden um die Ecke hielt mit seinem
Mißmut nicht hinterm Berg: "Can you believe this fucking
country?" Verdammt schlechter Laune sei er, erklärte er mir
lautstark und unaufgefordert, und sauer, einfach nur sauer. Auswandern
werde er und einen Käseladen in Holland aufmachen, er habe es jetzt
endgültig satt. Solche Tiraden erlauben sich hier normalerweise nur
Verrückte, Obdachlose, Alkoholiker, und Börsenmakler unter
Zeitdruck.
Man fühle sich so deprimiert, schrieb am nächsten Morgen der
Kolumnist Thomas Friedman in der New York Times, weil es bei dieser
Wahl eben nicht nur um zwei verschiedene politische Programme gegangen
sei, sondern um zwei komplett verschiedene Auffassungen darüber, was
die USA seien und für welche Prinzipien das Land stünde. Beim
Ausfüllen des Wahlzettels habe man sich gefühlt, als stimme man über
die amerikanische Verfassung selbst ab, um nun festzustellen, daß die
Hälfte der Wähler (also ungefähr ein Viertel der Gesamtbevölkerung) an
diese augenscheinlich nicht mehr glaubten. Diese Einsicht an und für
sich hätte niemand zu überraschen brauchen, wird doch jedem, der in
diesem Land eine zeitlang lebt, schnell klar, daß für viele
Amerikaner, wenn auch eben nicht für alle, das Wort
'Aufklärung' weiterhin ein Fremdwort bleibt, während
die Grundprinzipien der Verfassung für das tägliche Leben kaum
wirkliche Bedeutung haben. In einer privaten Umfrage im Rahmen der
Familie erhielt einer meiner Bekannten die folgenden zwei Begründungen
von einem Onkel, der seine Stimme für Bush abgegeben hatte: 1) A
vote for Kerry would have been a vote for the terrorists. 2)
We're number one ... Deprimierend ist der Ausgang der
Wahl letztlich für so viele US-Amerikaner deshalb, weil die radikale
Politik der Bushregierung eine beständig wachsende demokratische
Grasswurzelbewegung hervorgerufen hatte, die seit zwei Jahren
verschärft mit großer Energie und viel Herzblut daran arbeitete, das
Land vor vier weiteren katastrophalen Jahren zu bewahren. Ohne Erfolg,
und dies, so scheint es nun, wohl unter anderem deshalb, weil der
Unterschied zwischen Realität und ideologischen Konstrukten für viele
US Bürger kaum noch wahrnehmbar ist. Die Wirklichkeit hätte sich in
den Wochen und Monaten vor der Wahl kaum noch deutlicher bemerkbar
machen können: Die Folterphotos aus Abu Ghraib, wachsendes Chaos in
Irak, ein offizieller Bericht nach dem anderen der die Inkompetenz der
Bush Regierung in Sachen Kriegsplanung und --führung an den Pranger
stellte, Waffenlager die unter der Nase des US Militärs ausgeräumt
wurden, beständig wachsende Arbeitslosenzahlen und eine Wirtschaft in
der Krise, ein peinlicher Auftritt 'Dubyas' im Rahmen
der Präsidentschaftsdebatten. Und dennoch: Die überwältigende Mehrzahl
der Amerikaner sprachen, laut Umfragen nach der Wahl, George W. Bush
die besseren 'Führungsqualitäten' zu. Karl Rove,
mastermind der Wahlstrategie des Bushcamps, und heimlicher US
Propagandaminister, lacht sich wieder einmal ins
Fäustchen. 'W' verspricht währenddessen, sich das in
der Wahl gewonnene politische Kapital zunutze zu machen und mit den
Pfründen zu wuchern, die ihm nun, bei gleichzeitigen Verlusten der
Demokraten in Haus und Senat, frei zur Verfügung stehen.
In New York, wo nicht vergessen ist, das kurz nach dem
Terroranschlag vom 11. September 2001 der TV Prediger Jerry Fallwell
die Schuld für die Attacken den Schwulen und Liberalen anlasten
konnte, die jetzt für ihre Sünden bestraft würden, und wo man in dem
Bewußtsein lebt, daß die eventuellen Effekte der unverantwortlichen
Außenpolitik von Bush & Co., für die nun weiteres
'Kapital' zur Verfügung steht, in dieser Stadt wohl
wieder zuerst zu spüren sein dürften, ist die Depression indessen dem
offenen Unmut gewichen. Lautstark wird über die Zukunft des Landes
diskutiert, und erste Flugblätter auf den Straßen verteilt. Oft hört
man nun auch den Wunsch, der Süden und der mittlere Westen der USA
mögen sich doch unabhängig machen, wenn ihnen das intellektuelle Klima
der beiden Küsten des Landes ein solcher Dorn im Auge sei. "Let
them see how they'll do without us" klingt es verbittert aus
vierlei Munde. New York, so muß man immer wieder festhalten, ist eben
nicht wirklich Teil dessen, was nun offiziell mehrheitlich als
'die USA' verstanden wird.
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