Taipeh, 23. Jun 2005_
Über dem Regal mit hunderten von Stiften flattert ein
Schreibprobenzettel mit bunten gekrakelten Strichen im Windzug der
Klimaanlage, trotzdem ist es stickig warm. Draußen ist einer der
ersten sonnigen Frühlingstage mit 22 Grad und drinnen suchen etwa
sechzig Jugendliche, vorwiegend Mädchen, mit schwitzigen Händen und
angespannten Gesichtsausdrücken nach Schreibblöcken mit dem zum
eigenen Typ passenden Design. Später werden sie darauf tausende kleine
chinesische Schriftzeichen in einer ihrer zehn Unterrichtsstunden am
Tag kritzeln.
Taipehs 16- bis 18-jährige Highschool-Schüler suchen nach
Individualität und persönlicher Entfaltung in den maximal fünfzig
Minuten Pause zwischen Schule und Nachhilfeunterricht. Für Musik oder
Sport reicht dabei die Zeit nicht, aber für die Wahl ihrer
Schreibutensilien, die es in Taiwan in unzähligen verschiedenen
Designs gibt. Papierblöcke, Notizbücher, Kugelschreiber, Bleistifte,
Radiergummis, Lineale, Heftklammern, Vokabelkärtchen bis hin zu
Klebestreifenhaltern sind mit Comicfiguren verziert, mit knallbunten
Mustern geschmückt, in Blumenumrissen geformt, mit englischen Sprüchen
bedruckt, mit japanischen Mangas geschmückt oder mit eleganten
Ornamenten verschnörkelt.
Jasmin Hsin, 16, ist mit ihren drei Freundinnen hier und auch zwei
Jungs aus ihrer Klasse sind dabei. "Klar, Shoppen ist schon
unser Hobby -- wir sind so drei bis viermal die Woche hier. In andere
Läden gehen wir selten -- zwar wollten wir schon immer mal nach
Inlineskates schauen, aber wann soll ich damit fahren. Da kaufe ich
lieber etwas, wovon ich am Tag auch was habe." Und von den
Blöcken und Stiften habe sie etwa 12 bis 14 Stunden am Tag etwas.
Nahezu jeder Schüler in Taiwan -- egal ob er gut oder schlecht in
der Schule ist -- wird von seinen Eltern nach zehn Stunden Unterricht
am Tag zu mindestens drei Stunden Nachhilfeunterricht geschickt. Die
Eltern haben Angst, daß ihr Kind sonst hinter den anderen Schülern
zurückfallen könnte, schließlich erwartet sie alle am Ende der Schule
der schwierige Einstufungstest, das Joint College Entrance
Exam, für die Aufnahme an einer möglichst guten Universität.
Die jugendlichen Kunden im Rixin-Einkaufszentrum kaufen nicht viel,
aber mit Bedacht. "Für dieses Notizheft habe ich jetzt etwa eine
dreiviertel Stunde gebraucht." gesteht die 16-jährige Jasmin
Hsin an der Kasse, dazu kauft sie den passenden
Druckbleistift. "Ich konnte mich nicht entscheiden zwischen
diesem und zwei anderen Heften, aber dann fand ich doch das hier mit
den Kirschblüten und Schmetterlingsprinzessinnen am
schönsten."
'In' ist, was niedlich ist, zu dem bereits vorhanden
Sammelsurium paßt und möglichst aus Japan kommt, weiß Jasmin. Je
bunter, ausgefallener und sogar kindlicher, desto besser: Neben der
bekannten Hello-Kitty gibt es Roboterkatze Doraemon und Booboo Cat,
das My-Melody-Häschen, Tarapanda-Bärchen, Monkiki-Äffchen und die
undefinierbare aber beliebte Figur Giligowla.
Ihre Schreibblöcke und Stifte mit dem
Schmetterlingsprinzessinnen-Motiv heben Jasmin von ihren Freundinnen
ab. Denn die Mädchen tragen die einheitliche braun-rote
Schuluniform. Scheinbar stets zu groß, radiert sie nicht nur jede
Individualität sondern auch jede Körperform aus. Trotz ihrer 16 bis 18
Jahre sind die Mädchen wie ihr Geschmack -- kindlich, klein und
süß. Mit schüchternem Make-up, wippenden Pferdeschwänzen tummeln sie
sich in Scharen zu viert oder zu fünft im Schreibwarenladen.
Beste Freunde nennen sich hier untereinander "Matchis"
-- nach der Figur "Matchi" einer japanischen
Schreibwarenmarke. Hier entstehen gemeinsame "lifelong
memories", denn "a friend like you is like a
smile on a rainy day". So steht es auf den Heftumschlägen,
sogar auf einigen Radiergummis, die sie kaufen. Es erinnert eher an
Briefpapier und Poesiealben. "Wenn wir dem Lehrer nicht mehr
zuhören wollen, dann schreiben wir uns damit auch kleine
Briefchen. Deswegen suche ich nach einem Lineal mit Schablonen für
Sprechblasen. Das habe ich letztens bei einer Freundin gesehen, die
mir einen Brief geschrieben hat. Das muß es ganz neu geben."
erzählt Jasmins Freundin Michelle, 17.
Chaos herrscht in den Fächern, viele der begehrten Artikel liegen
auf dem Boden, von weitem piept die Kasse. Jasmin hat bereits gezahlt,
wartet auf Michelle, die schon leicht hektisch ist. Die Zeit läuft
gegen sie, noch zehn Minuten Pause, dann ist ihre Freizeit für heute
vorbei.
Ganz in der Nähe ertönen fast im Chor die Big-Ben-Gongs der
Nachhilfeschulen -- der so genannten Cramschools in der Nanyang
Straße, wo sich eine dieser privaten und teuren Einrichtungen an die
andere reiht. Sie rufen zur Nachhilfe -- bis 21.10 Uhr.
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Deike Lautenschläger studierte Mediengestaltung und Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar und Multimedia am Art Institute of Pittsburgh. Nach Volontariaten und Praktika in Deutschland, Hongkong und Singapur arbeitet sie jetzt als freie TV-Journalistin und Mediendesignerin für TV-Produktionsfirmen. Lebt zur Zeit in Taiwan.Homepage: http://www.deike-la.deE-Mail: deike_lautenschlaeger@yahoo.com