Taipeh, 23. Aug 2008_ "Mama,
sag der Uroma doch mal, daß ich diese Woche im Kindergarten
überhaupt nicht geweint habe." Stolz und Aufregung des
fünfjährigen Tzu-Ming sind nicht zu überhören. "Und Mama sag ihr
auch, daß ich zum Geburtstag dann einen Hund möchte." Er
flegelt auf dem Schoß seiner Urgroßmutter, plappert unbeirrt mit
heller Kinderstimme und sieht sie dabei mit großen Augen
erwartungsvoll an. Seine Hand spielt mit der Perlenkette, die sie am
Hals trägt. Urgroßmutter Ching Fen, 82, streicht mit ihrer faltigen
Hand liebevoll über seinen schwarzen kleinen Schopf. Sie lächelt sanft
und unbewegt, kein Lob kommt über ihre Lippen. Sie sagt nichts, sie
hat ihren Urenkel nicht verstanden.
Zum Drachenbootfest, einem der zahllosen traditionellen
Familienfeste Taiwans, ist die Familie des kleinen Tzu-Ming aus der
Metropole Taipei für einen Tag zu ihren Wurzeln in die ländliche
Gegend Chunan 200 Kilometer entfernt zurückgekehrt. Hier wohnt
Urgroßmutter Ching Fen, an deren Tisch heute vier Generationen
zusammenfinden. Sie hat "Batzang" zubereitet, wie sie es
in ihrer taiwanesischen Muttersprache nennen würde. Ihre
großstädtischen Enkel kennen das traditionelle Gericht nur unter dem
chinesischen Namen "Zongzi". Ihr Urenkel Tzu-Ming hat im
Kindergarten gelernt, daß der klebrige Reis mit Fleisch, eingewickelt
in Bambusblätter im Englischen "Rice Dumplings" genannt
wird.
Alle Generationen an Urgroßmutter Ching Fens Tisch sind in Taiwan
aufgewachsen und sprechen trotzdem verschiedene Sprachen -- abhängig
von der politischen Lage und der nationalen Identitätsfindung, in der
sie aufgewachsen sind.
Beim Essen wird hauptsächlich in Hochchinesisch - in Mandarin -
angeregt geplaudert, diesmal sogar heiß diskutiert, darunter gemischt
sind taiwanesische Sätze, manchmal auch Ausdrücke, einzelne Wörter in
Englisch. Tzu-Ming läßt von Urgroßmutters Kette ab. Sein Kindername
zwischen den vielen erwachsenen Wörtern läßt ihn aufhorchen. Es geht
um ihn, um seinen Schulanfang im nächsten Jahr.
"Er kann kaum seine Muttersprache Chinesisch und nun soll er
in dieser Schule zwölf Stunden am Tag Englisch sprechen? Am Ende wird
er nur Englisch können, dann kann er gar nicht mehr mit mir
reden." Plötzlich verstummt kurz der taiwanesische Redefluß von
Tzu-Mings Großvater Shiao-Chungs mit dessen Mutter Meilin. Sie
wiederholt mit gekräuselter Stirn seinen Satz, dann den letzten
Ausdruck wieder und wieder, wie eine hängen gebliebene
Schallplatte. Ein Schlüsselwort im Redefluß ihres Vaters versteht sie
nicht.
Der 58jährige Shiao-Chung spricht wie 60 Prozent der Bevölkerung
Taiwans Taiwanesisch -- das ist der meistverbreitete Dialekt der
Insel, den seine Vorfahren vor 300 Jahren aus der chinesischen Provinz
Fujian und Guangdong mitgebracht haben. Doch nach dem chinesischen
Bürgerkrieg im Widerstand gegen Mao Zedong propagiert die nach Taiwan
geflüchtete Kuomintang nach 1949 Hochchinesisch, um sich als
Gegenregierung für ganz China darzustellen.
Als Shiao-Chung in den 50er Jahren nach Taipei zieht, um Arbeit zu
finden, wächst seine Tochter Meilin bereits in einem Umfeld auf, das
nur noch Mandarin spricht. Wenn sie Taiwanesisch spricht in der
Schule, muß sie sogar Strafe zahlen. Vater und Tochter haben sich
arrangiert, wie die meisten Familien in Taiwan, zweisprachige
Gespräche zu führen.
Wie bei einem Ballspiel werden Umschreibungen des unverständlichen
Wortes einander zugeworfen, eine Spannung baut sich auf. Tzu-Ming
lauscht begierig den unbekannten Wörtern der zwei Sprachen Chinesisch
und Taiwanesisch, die er ungenügend bzw. überhaupt nicht
spricht. Ungeduldig gestikulieren die Erwachsenen, werden lauter - bis
Meilin, Tzu-Mings Mutter, das taiwanesische Wort verstanden hat, daß
ihr ihr Vater auf ihre in Chinesisch gestellte Frage geantwortet
hat. Er hat es mit seinem linken Zeigefinger flüchtig und unsichtbar
auf seine rechte Handfläche gezeichnet- manchmal der letzte Ausweg zur
Verständigung für ihn in der so gleich klingenden Sprache
Chinesisch. Es was "Bikoklang", das bedeutet in Mandarin
Meiguoren -- Amerikaner.
Nein, Amerikaner soll er nicht werden, ihr Sohn. Natürlich wäre es
schön, wenn er auch Taiwanesisch verstehen würde und so mit seinen
Großeltern und Urgroßeltern kommunizieren könnte, sagt die 31jährige
Meilin, aber für seine Zukunft ist Englisch wichtig. Wie viele Kinder
der ehrgeizigen taiwanesischen Eltern besucht Tzu-Ming einen
Kindergarten in Taipei, in dem fast ausschließlich Englisch gesprochen
wird. Dort heißt er für sechs Stunden am Tag Mike. In seine
Muttersprache Chinesisch hängt der Fünfjährige für sein Alter
hinterher, kann weniger Wörter, verwendet den englischen Satzbau, wenn
er Chinesisch spricht.
Taiwans Gesellschaft ist hin und her gerissen. Der Wirtschaftsboom
der letzten 30 Jahre ist abgeflaut, umso wichtiger scheint es, sich
global zu orientieren und damit Englisch zu lernen. In Taipei gibt es
unzählige englischsprachige Privatschulen und Kindergärten. Nach dem
Konfrontationskurs des vorherigen Präsidenten Chen Shui-bian mit dem
chinesischen Festland, möchte sich Taiwan mit zwei der drei
"Neins" des neuen Präsidenten Ma Ying-jeou - nein zu
Unabhängigkeit und nein zu Wiedervereinigung -- zwar wirtschaftlich
nun zu China öffnen, sucht aber gleichzeitig seine eigene kulturelle
und politische Identität, will die lange unterdrückte Kultur
erhalten. An staatlichen Schulen wird jetzt verstärkt Taiwanesisch als
Fremdsprache angeboten.
Tzu-Mings Mutter Meilin muß sich wie dieses Jahr tausende Eltern in
Taipei entscheiden, ob ihr Kind mit Englisch wahrscheinlich bessere
Aussichten auf einen Job in der Zukunft haben wird oder ob sich ihr
Kind je fließend mit ihr und seinen Vorfahren verständigen und mit
seiner taiwanesischen Kultur identifizieren kann. Sie wird ihren Sohn
auf eine englischsprachige Privatschule schicken, denn bereits sie hat
wenig Bezug zu ihren Vorfahren und deren Kultur.
Urgroßmutter Ching Fen sitzt in ihrem Sessel zurückgelehnt mit
ihrem Enkel auf dem Schoß, der ihr aus seinem englischen Kinderbuch
auswendig gelernte Sätze aufsagt, die sie nicht versteht. Ihre Augen
sehen abwesend in die meist chinesisch sprechende Runde. Als ihr
Urenkel mit seinem Zeigefinger auf seinen Mund zeigt, kehrt Leben in
ihr Gesicht zurück. "Batzang, Batzang, Baaat-zaaanngg"
sagt sie und gibt ihm einen weiteren "Rice Dumpling".
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autoreninfo

Deike Lautenschläger studierte Mediengestaltung und Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar und Multimedia am Art Institute of Pittsburgh. Nach Volontariaten und Praktika in Deutschland, Hongkong und Singapur arbeitet sie jetzt als freie TV-Journalistin und Mediendesignerin für TV-Produktionsfirmen. Lebt zur Zeit in Taiwan.Homepage: http://www.deike-la.deE-Mail: deike_lautenschlaeger@yahoo.com