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Nach dem Guten suchen im Happy Bootcamp

von Deike Lautenschläger

Taipeh, 10. Apr 2009_ Taipei ist feucht, heiß und laut, es heulen die ganze Zeit Sirenen, es hupt und dröhnt, überlaufene Fußwege, überfüllte U-Bahnen, dicht gedrängte Menschen und eigentlich hat man überall dieses Grundlevel an Lärm. Taipei ist eben eine sehr energische, aktive Stadt, wo es einem schwer fällt, seine Ruhe zu finden.

Zudem ähneln die Taiwanesen in punkto Überstunden ihren Nachbarn den Japanern und arbeiten im Durchschnitt 2282 Stunden pro Jahr, mehr als in allen anderen Länder der Welt. Termindruck, Hetze, Überarbeitung, Angst um den Job haben das Japanische Wort Karoshi -- Tod durch Überarbeitung -- in die chinesische Sprache überführt.

Das Leben in einer Millionenstadt wie Taipei macht die sonderbarsten Balanceakte erforderlich. Es bedarf eines großen Maßes an Ausgeglichenheit, um im oft so genannten "Dschungel der Großstadt" zu bestehen, um an einem solchen Fleck der Anonymität und Undurchdringlichkeit zu überleben.

Die Taipeier haben ganz unterschiedliche Strategien sich diesem zu stellen, nicht wahnsinnig zu werden, ein Mensch zu bleiben: Sie fahren regelmäßig ins Grüne -- in die Berge rund um die Stadt, spannen in heißen Quellen ab, singen abends mit Freunden Karaoke, sie lernen Sprachen oder machen Kurse zum Barkeeper, gehen zu traditionellen Fußmassagen oder ... machen Yoga. Yogastudios sind in den westlichen Ländern mittlerweile Teil der Alltagskultur geworden, aber erst kürzlich sind hier in Taipei hunderte dieser kleinen Oasen der Ruhe und des Ausgleichs aus dem Boden hervorgesprossen.

Die Taipeier sind ganz wild auf Yoga -- für die meisten ist es ein Modetrend und ein möglicher Weg zur Traumfigur, für manche eine Quelle der Entspannung und des Wohlbefindens, für einige der spirituelle Weg und für ganz wenige -- heute 30 in diesem einmonatigen Yoga-Lehrerkurs -- eine Lebensaufgabe, das, "was auch immer es für sie bedeutet", an ihre Schüler weiterzugeben.

Ein bunter Mix aus Persönlichkeiten -- alle haben Opfer gebracht, um hier zu sein. Majorie (29) hat ihren Job als Sekretärin in einer großen Handelsfirma für diesen Kurs aufgeben, danach hofft sie im Yogastudio einer Freundin in Kuala Lumpur zu unterrichten und aus dem Arbeitsleben und den Verpflichtungen in Taipei, dem Druck ihrer Familie, doch endlich zu heiraten, zu entkommen.

Yifen (36), nach außen eine kleine drahtige Karrierefrau im ungewöhnlichen Beruf eines Radio-DJ, ist Yoga-Fan -- vielleicht sogar Fanatikerin, bereits seit 5 Jahren dabei und Mitglied in zwei Yogastudios. Für sie war es kein Problem, vier Wochen Urlaub zu bekommen, um ihrer "wahren Berufung" zu folgen.

Lucky (27) ist seit dem Bankrott des Alexander Gym Fitnessstudios im letzten Jahr arbeitslos, will in den Niederlanden seinen Master machen und die Studiengebühren dort als Yogalehrer verdienen. Mickey (23) hat die Aufnahmeprüfung an Taiwans Universitäten für ein Masterstudium nicht bestanden und von ihrer Mutter nach langen Überzeugungsversuchen die knapp über 2000 Euro Kursgebühren als Vorschuß bekommen.

Yilin (24) will ihrem amerikanischen Expatriate nach Schanghai folgen und hat bereits eine festzugesagte Stelle in einem Yogastudio dort. Claire wird eine Woche nach dem Kurs heiraten und "danach keine Zeit mehr haben für so etwas". Susan ist im Ruhestand und bringt seitdem von 6.30 Uhr früh bis abends 21 Uhr im Yogastudio zu, auch am Wochenende, sie kennt alle Yogaübungen mit Sanskritnamen und deren Geschichte.

Und Cynthia, erst seit kurzem im Yogafieber, hat einen Freund, der -- ebenso wie ihre Schönheits-OPs und die Yogaoutfits -- auch den Kurs bezahlt. Und unter all den Einheimischen ist auch Nina aus Deutschland -- die Welt ist klein, Deutsche trifft man überall -- ehemalige Flugbegleiterin und jetzt Kundaliniyogalehrerin, die diesen Kurs als Weiterbildung und spirituelle Erfahrung ansieht.

Und ich, ehemalige Sporthasserin, die seit einem Jahr dabei ist, aber öfter im Alltagsstress ihre Yogakurse absagt und fasziniert ist von der Gelegenheit, sich vier Wochen mit nichts anderem als mit Yoga zu beschäftigen.

Montagmorgen 6.50 Uhr liegen 30 Matten genau ausgerichtet und in der Mitte vorn steht ein Altar. Davor sitzt bereits im Yogisitz mit geschlossenen Augen Patrick Creelman (35), Schüler des Begründers von Anusara Yoga, John Friend. Anusarayoga wird auch "Happy Yoga" genannt.

Gleich zu Beginn wird das Ziel gesetzt: "Ja" zum Leben zu sagen, ganz gleich "wie es gerade läuft". Wir machen Übungen, die das Herz öffnen sollen -- angefeuert durch Patricks Rufe, die göttliche Kraft in sich zu entdecken, nach dem Guten zu suchen, mit dem Universum zu verschmelzen, sich mit den anderen Schülern im Geist zu verbinden und sich so der Gnade Gottes -- oder an was immer man glaubt -- zu öffnen.

Ja, Yoga scheint für jeden Glauben offen, schließlich sagt auch Guru Iyengar in seinem Buch Light on Life, -- unserer Yogalehrerkurspflichtlektüre: "Krishna, Buddha, and Jesus lie in the hearts of everyone". Und in die Religion der Taiwanesen -- meist eine von Person zu Person verschiedene Mischung aus Buddhismus, Taoismus und Volksglauben mit Ahnenverehrung und Zauberformeln -- scheint es nicht schwer, auch ein bißchenYogaspiritualität zu mischen.

In den ersten zwei Stunden Morgenintensivtraining und in den letzten zwei Stunden Abendintensivtraining braucht man viel Yogaspiritualität, um durchzuhalten -- egal ob Relaxyogis wie ich oder Poweryogis wie Yifen und Susan. Aber als wenn das nicht genug wäre, muß man danach auch noch seinen Kampf und seine Gefühle während jedes Trainings im Tagebuch niederschreiben und mit anderen in unseren Sangas -- unseren spirituellen Gruppen -- teilen.

Die ersten Tage wissen wir alle oft nicht, wie wir die täglichen Morgen- und Abendintensivtrainings überstehen sollen -- kämpfen mit Muskelkater, manche die ganzen vier Wochen mit Verletzungen. Nachdem sich der Körper daran gewöhnt hat, beginnt der Kampf mit dem Geist.

Denn in der Weise, in der der Körper weich wird, nachgibt, Muskeln aufbaut und seine An- und Verspannungen losläßt, soll auch der Geist und dessen Sichtweise weich werden und nachgeben. Wir werden andauernd dazu angehalten, glücklich zu sein. Oft habe ich das unwiderstehliche Verlangen zu schreien: Ich bin doch glücklich -- naja, ich war -- vor dem Training, vor dem Abgerackere jeden Tag.

Auch den Hardcore-Yogis geht das Training an die Substanz und Tränen bei Mickey und Susan oder Schreikrämpfe bei Nina sind nicht selten. Mein Herz, daß ich ständig öffnen soll, scheint leer, und wir alle zählen die Tage. Wir sollen an unsere Grenzen gelangen, sie überschreiten, um dem Leben in seiner Ganzheit mit größerer Gelassenheit und offenem Herzen zu begegnen, Unsicherheiten und Ängste abzulegen und diesen Mut und diese Kraft dann auf unseren Alltag und unsere zukünftigen Schüler übertragen.

Am letzten Abend vor dem Abschlußtraining führt uns Patrick auf das Dach des Yogastudios. Aus der Stille des Übungsraums, wo wir die letzten vier Wochen geschwitzt und über uns wahrscheinlich mehr gelernt haben als in ganzen Lebensabschnitten, sehen wir herab auf die Menschen in den Straßen im Einkaufsviertel von Taipei, auf den Verkehr im hitzeflimmernden Dunst, auf die Berge am Horizont um die Stadt herum.

Und auch ohne eine Rede à la "Geht hin all' Welt zu lehren" von Patrick spüren wohl wir alle ein Hochgefühl und eine Verpflichtung, ja und -- Spiritualität hin oder her -- auch eine Verbundenheit zueinander und eine Verbindung zum Universum. Kameradschaft und Gemeinschaftsgefühl können in Taipei die merkwürdigsten Formen haben.

Sind Taipei und seine Menschen so gestreßt und anonym, daß erst Yoga einem das Gefühl geben kann, zu Hause zu sein? Leben wir unter solchem Druck, daß Yogalehrer uns helfen müssen zu entspannen, sich zu öffnen und zueinander zu finden? In einer überlaufenen und niemals ruhenden Stadt kann eine unauffällige und gewöhnliche Handlung -- wie eine Yogastunde -- der Beginn eines aufregenden Abenteuers sein: loslassen, sich Verbunden fühlen, Glück und ein Seelenlächeln._//
 

autoreninfo 
Deike Lautenschläger  studierte Mediengestaltung und Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar und Multimedia am Art Institute of Pittsburgh. Nach Volontariaten und Praktika in Deutschland, Hongkong und Singapur arbeitet sie jetzt als freie TV-Journalistin und Mediendesignerin für TV-Produktionsfirmen. Lebt zur Zeit in Taiwan.
Homepage: http://www.deike-la.de
E-Mail: deike_lautenschlaeger@yahoo.com
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