Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
© by Herbert Debes & Kurt Otterbacher

 

Volk ohne Traum XI

 


Stimmen aus der Urne
Ein Statement von Uve Schmidt

Als die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs das Deutsche Reich besetzt hatten, behandelten sie uns verhältnismäßig milde; wir hatten Schlimmeres erwartet. Dennoch beklagten die meisten Deutschen ihren status quo als ungerechtfertigt, da sie als winzige Rädchen im grossen Getriebe und als bloße Befehlsempfänger in einer totalen Tyrannei weder den Wehrdienst noch die Arbeit in der Kriegswirtschaft hätten verweigern oder gar sabotieren können und im übrigen habe der brave Mann niemals Hitler gewählt. Tatsächlich wurde niemand wegen Übermutes oder Torheit in der Weimarer Wahlkabine bestraft, was nicht nur eine peinliche Volksbefragung vorausgesetzt hätte, sondern auch einen Diskurs über die diversen Wahlweisen in den alliierten Staaten und den ihnen assoziierten Gebieten im Range autonomer Nationen minderen Rechts. Ergo durften wir alsbald frei und geheim koschere Kandidaten wählen, später dann im Westen auch wieder alte Kameraden und im Osten die 99,98 prozentige Einheitsliste. Seither haben wir sogar Europawahlen abgehalten und diesmal ganz kategorisch entschieden zwischen Mann und Frau, Krieg und Frieden, Plastikbrot oder Dinkelbrötchen, und auf dem Tapet der Wahlforscher offenbarte sich wiedermal die deutsche Ursucht nach einem behüteten Herdfeuer, eine Minimalforderung, wie ich meine, für deren Erfüllung sich eine Grosse Koalition getrost verschulden kann. Wenn es nach diesem Urnengang eine überragende Erkenntnis gibt, dann die, daß mit wirklich demokratischen Wahlen keine konstruktive Politik zu machen ist, also weder tiefgreifende Reformen, noch ein radikaler Hausputz, noch eine deutsche Aussenpolitik. Daß die Berliner Republik einen bis an die Grundmauern gehenden Umbau braucht, um zukunftsfähig zu sein, zeigt das Resultat vom 18. September: Ein fadenscheiniger Hosenboden, der abermals geflickt werden soll.

Als ich noch ein junger Ehemann war, motivierte mich der Vergleich unserer Kleinfamilie (2 Kinder) mit unserem Staate, wobei meine Frau die Regierungspartei verkörperte, bis sie mir das Vertrauen (recte ihre Liebe) entzog, unter Einflüssen und Umständen, welche durchaus der professionellen Tagespolitik ähnelten, wie denn das ganze Eheleben (mit oder ohne Nachwuchs) dem Verhältnis von Volk und politischer Klasse gleicht: Ein dauernder Kampf auch im schönsten Burgfrieden, auch bei vollen Töpfen kein Honigschlecken und immer die dumpfe Ahnung im Herzen, daß einer den anderen verachtet. Und natürlich lassen sich nur die Unarten und Kardinalfehler vergleichen – es ist das reine sprichwörtliche Glück, wenn die Schmidts oder die Schweizer glücklich sind; Rezepte gibt es bei ledigen Priestern, misogynen Denkern und Lebensberaterinnen. Gottlob hängt die Politik nur geringfügig vom Glück ab,  Bismarck befand „Fortüne ist eine Eigenschaft“ und selbstredend wollen wir unsere Lebensplanung nicht Landesmüttern und Stadtvätern – hiesigen wie überseeischen –anvertrauen, die ebensogut Unglück bringen. Freilich: Was in der Kleingruppierung (z.B. die  Schweiz) möglich  und erfolgreich ist, muß mit denselben Methoden im Großverbund (z.B.  Deutschland) nicht klappen; dennoch starren unsere Deputierten (die meisten europäischen Staatsmänner haben als Volksvertreter begonnen) beispielsweise auf Finnland  als musterstaatliches Vorbild (5 Millionen Einwohner) und informieren sich auf weltweiten Reisen über Ganztagsschulen in Goa. Wer zwischen realer Weltraumfahrt und ruinösen Space Parks, zwischen Euthanasie und Kindergeld, Menschenzoo und Krötenwanderungen die goldene Schnittmenge sucht, verliert das Gespür für die richtigen Proportionen. Unsere Lebenserfahrung bestätigt, daß vor allem eingefleischte Verlustängste alle wesentlichen Veränderungen verhindern, solange die sich nicht als Fluchten ereignen oder als Tagesbefehle durchgesetzt werden. Etwa dann, wenn Persien brennt und in den Neuen Ländern die Wegelagerei zur Haupteinnahmequelle geworden ist. Es muß knüppeldicke kommen, wenn eines frühen Morgens der Bundespräsident die ersten Notverordnungen bekanntgibt, in deren Folge u.a. der Schankbierpreis eingefroren wird, nachdem man ihn erheblich gesenkt und die Wiedereinführung der öffentlichen Prügelstrafe als Schnelljustizmaßnahme beschlossen hat. Vielmehr nicht, denn mehr kann man schon jetzt nicht tun für unsere Aborigines, Ausländer und seriösen Opfer der neuen ökonomischen Politik, als Geschenke anzuordnen und Grenzen zu ziehen. Während der Volksbierpreis an bestimmte gastronomische Regulationen gebunden wäre (niemand denkt daran, die Oktoberfeste und Rotlichtviertel zu subventionieren!), dürfen sich um die Übertragung der Züchtigungs- Shows auch Privatsender bemühen und selbstverständlich wären diese Vorführungen kein Haftersatz für asoziale Aktivisten (AAs), sondern Prologe zum Haftantritt. Keine anderen Sorgen, keine besseren Ideen als inhumane Scherze? Aber ja!

Das Problem ist nicht, was und wieviel man der Bevölkerung zumuten kann -  jede Politik ist eine Zumutung! – sondern was die Politiker ihren Sponsoren und Votenbeschaffern  keinesfalls zumuten dürfen. Der sogenannte Wählerauftrag entspricht der faulen Ausrede eines Juwelendiebes, er habe nur dem Wunsche seiner alten Mutter gehorcht, ihr „etwas Schönes mitzubringen“. Nur wer wirklich populistische Fässer aufmacht, kann dem verkrusteten und verfilzten Wahlzirkus das Winterquartier kündigen und ein wirklich neues Programm wagen und natürlich kann man damit nicht an Wahlen teilnehmen. In der Tat habe ich diesmal vor Einwurf meines Stimmzettels gezögert und dann erneut das Versteck recte die Sichtblende aufgesucht, um mein Votum zu überprüfen – Unruhe und helle Aufregung unter den Wahlhelfern, denn wer macht das schon?! Plante ich etwa eine Wahlaufsichtsbeschwerde oder einen chemikalischen Anschlag, um die Schicksalswahl zu torpedieren? In diesem Augenblick der Wahrheit habe ich sie deutlich vernommen, die Stimmen aus der Urne: Wehr Dich, Mann, verweigert Euch, Bürger!

Tja, dann gründen wir zunächst mal einen  Wahlverein...


 
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