Das schlechte Gewissen plagte sie. Schon sehr bald sollte sie Schuld an seiner Trauer tragen, doch Luna hatte keine Wahl. Sie war nun einmal der Tod und für die Großmutter war es an der Zeit zu gehen. Allerdings musste die alte Frau ja nicht sofort sterben. Zehn Tage wollten sie bei den Eltern bleiben, bevor es wieder zurück zur Universität ging. Danach konnte sie die Großmutter immer noch mitnehmen und dann musste sie Alexej endlich die Wahrheit sagen. Er liebte sie, das wusste sie. Genauso wie sie ihn liebte. Doch bezweifelte sie, dass seine Liebe stark genug war, ihr zu vergeben. Der Anfang der Wahrheit würde wohl das Ende ihrer Beziehung sein.
Hand in Hand gingen sie zurück zum Haus. Der Mischlingshund sprang aufgeregt vor ihnen her. Die Dämmerung zog langsam herauf Und der Duft von Holzkohlengfeuer lag in der Luft. Die Sommertage mussten zum Grillen genutzt werden.
Luna half in der Küche beim Geschirrspülen, während die Männer draußen auf der Veranda saßen. Die Großmutter hatte sich schon vor über einer Stunde schlafen gelegt.
„Luna“, die Stimme von Alexejs Mutter hatte einen solch gewichtigen Unterton, dass sie aufhorchte. „Leider ist der Wohnraum etwas begrenzt bei uns“, begann sie und klapperte mit den Tellern.
„Ich finde es sehr gemütlich“, widersprach Luna, die nicht die leiseste Ahnung hatte, worauf die Mutter hinauswollte.
„Das meine ich auch nicht“, kam die Antwort. Frau Bondarenko sprach langsam, als überlegte sie sich ihre Worte genau. „Das Problem ist, dass wir kein Zimmer für dich freihaben und du bei Alexej schlafen müsstest.“
Nur mühsam konnte Luna ein Grinsen unterdrücken, während sie Besteck abwusch. Mascha stöhnte genervt. „Mama!“
„Immerhin sind die beiden nicht verheiratet“, belehrte ihre Mutter sie.
„Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert:“ Mascha war ein rebellischer Teenager. Vor einigen Tagen hatte sie sich heimlich ein Tattoo stechen lassen.
„Trotzdem“, blieb ihre Mutter unbeirrt.
„Ich glaube, damit kann ich leben“, schmunzelte Luna.
„Ihr werdet ja bestimmt noch heiraten“, bestimmte Frau Bondarenko und Mascha murmelte etwas davon, dass die beiden im Studentenwohnheim auch in einem Bett schliefen.
„Was sagen eigentlich deine Eltern dazu?“, wollte Frau Bondarenko wissen.
Lunas Herz begann, heftig zu klopfen. „Sie sind schon lange tot.“ Immer diese Lügen und Halbwahrheiten. Langsam wurde sie es leid.
„Das tut mir leid, mein Liebes. War es ein Unfall?“
„Ja, genau“, bestätigte Luna. „Ich war auch noch ganz klein und kann mich kaum erinnern.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und hoffte inständig, Frau Bondarenko würde nicht weiter fragen. Über ihre Schulter fing sie Maschas Blick auf. Das junge Mädchen schien etwas zu ahnen.
Die Nacht war lau. Luna schmiegte sich unter der Decke an Alexej. Nur der dünne Stoff ihres Nachthemdes war zwischen ihnen. Alexej trug nur Boxershorts. Er küsste sie voller Leidenschaft. Seine Hände strichen über ihren Körper, fanden den Weg unter den nachtblauen Satin. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten.
„Ich will, dass es heute Nacht geschieht“, flüsterte er mit unterdrücktem Stöhnen. Einen Moment zögerte sie. Körperliche Hingabe war etwas, dass die Menschen taten. Trotzdem ließ sie zu, dass er ihr das Nachthemd auszog. Mit den Lippen erkundete er ihren Leib: Die Erregung gewann die Oberhand und sie ließ es geschehen. Sie schloss die Augen, als er in sie eindrang und sich im Rhythmus seines Herzens bewegte.
Als Alexej am nächsten Morgen erwachte, war das Bett neben ihm leer. Die vergangene Nacht mit Luna hallte noch in ihm nach. Sie war die erste Frau, mit der er geschlafen hatte. Noch genoss er die Wärme unter der Decke. In den Kissen hing noch Lunas Duft. Sicherlich half sie Mama unten in der Küche. Er hörte Geschirr klappern.
„Alexej! Luna! Ihr Langschläfer“, rief die Mutter vom Treppenabsatz. „Das Frühstück ist fertig.“
Alexej schwang die Beine über die Bettkante und stieg in seine Sporthose. Er wähnte Luna im Haus.
Die Familie hatte sich schon um den Frühstückstisch versammelt.
„Wo ist Luna?“, fragte die Mutter, kaum dass er die große Küche betreten hatte.
„Alexej schaute sie erstaunt an. „Ich dachte, sie ist bei euch?“ Er ließ seine Antwort wie eine Frage klingen. „Ist sie vielleicht im Stall?“ Er fragte nur, um sich selbst zu beruhigen. Er wusste, dass sie nicht im Stall war. Trotzdem fügte er hinzu: „Sie mag Pferde.“ Er kam sich dumm vor. Sein Herz begann, heftig zu klopfen. „Wir müssen sie suchen“, presste er hervor.
Es war völlig sinnlos, aber Luna blieb verschwunden. Sie war völlig fremd hier und ohne Auto würde sie auch nicht weit kommen. Trotzdem war sie vom Erdboden verschluckt.
„Ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen.“ Der Vater sprach aus, was alle anderen dachten.
„Sie wird wieder kommen“, antwortete die Großmutter mit ihrer brüchigen Stimme. „Und mich mitnehmen.“
Sie sagte das mit einer völlig selbstverständlichen Überzeugung und so viel kraftvoller Ruhe, dass ihre Familienmitglieder sie irritiert anschauten.
Luna lief durch die Straßen von Quostanay. Sie musste einen Auftrag erfüllen. Eigentlich war dieser Auftrag Alexej Bondarenko nicht der Auftrag. Liebe macht blind und so weigerte sie sich,. Ihren Verstand die Oberhand gewinnen zu lassen. Sie hatte sich in einen ihrer Klienten verliebt. Etwas war gewaltig schief gelaufen und sie war doch bei dem „richtigen“ Alexej Bondarenko gelandet. Lediglich das Alter stimmte nicht. Trotzdem sollte der Mann, den sie liebte, sterben.
Er ist doch noch so jung, ging es Luna durch den Kopf. Jetzt stellte sie schon ihre eigene Arbeit in Frage. Zornig wischte sie sich übers Gesicht. Ihre Wangen waren feucht. Letztendlich war sie der Tod und solche menschliche Grillen durfte sie sich nicht erlauben. Gegen ihren Willen stiegen die Erinnerungen an die gemeinsame Nacht mit Alexej hoch. Sie wollte nicht daran denken, doch ein eigenartiges Gefühl des Glücks wuchs in ihr. Aber auch Wut. Wut auf sich und Wut auf ihn. Dafür sollte heute sein mehr als doppelt so alter Namensvetter sterben. Auch wenn er nicht auf der Liste stand, war er doch schon lange überfällig.
Jemand hämmerte heftig an die Tür. Viktor Alexejwitsch Bondarenko schaute erstaunt auf. Seitdem seine Frau ihn vor so vielen Jahren verlassen hatte, bekam er nur noch selten Besuch. Auch seine beiden Kinder hatten den Kontakt stark eingeschränkt. Er konnte es ihnen noch nicht einmal verübeln. Ihre ganze Kindheit und den Großteil ihrer Jugend hatte er im Rausch verbracht. Der Alkohol war sein Ehepartner gewesen und zu den Saufkumpanen pflegte er ein engeres Verhältnis als zu dem eigenen Nachwuchs. Er wusste nur, dass sein Sohn verheiratet war und selbst zwei Kinder hatte. Die Tochter war Managerin in einem großen Unternehmen. Als erste Frau in dieser Firma. Obwohl sie ihn nie besuchten, war er stolz auf sie und auch auf seine geschiedene Frau, die es geschafft hatte, sich ein neues Leben aufzubauen. Ohne ihn. Den Säufer.
Seit fünf Jahren war er jetzt trocken. Sein Leben hatte er radikal geändert. Achtete auf gesunde Ernährung und ging viel an der frischen Luft spazieren. Er war einsam. Seitdem er seine ehemaligen Trinkbrüder mied, hatte er auch keine Freunde mehr und es fiel ihm schwer, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen. Das winzige Zwei-Zimmer-Appartement teilte er sich mit seinem Kater. Seinem einzigen und besten Freund. Die treue Kreatur wusste nichts von seiner Vergangenheit, was für ein schlechter Mensch er einmal gewesen war. Das rotgetigerte Tier mit den grünen Augen half ihm dabei, trocken zu bleiben.
Wieder klopfte es an der Tür. Diesmal energischer. Viktor strich seinem Kater, den er liebevoll Minku nannte, noch einmal über den Rücken und ging zur Tür. Er war gespannt, wer da so heftig nach ihm verlangte. Als er öffnete, stand zu seinem großen Erstaunen ein junges Mädchen mit blondem Wuschelkopf und bernsteinbraunen Augen vor ihm. Für einen Moment glaubte er sich in der Zeit zurück versetzt und seine Tochter Martha stünde als zwölfjähriges Mädchen vor ihm. Unwillkürlich wischte sich Viktor über die Augen.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie sehr selbstbewusst und schob sich, ohne eine Antwort abzuwarten an dem völlig perplexen Mann vorbei. Im Stillen dankte er, dass er den Tag zuvor gründlich geputzt hatte. Die Wohnung war ordentlich. Er folgte ihr in die Küche. „Na, Kleine, was kann ich denn für dich tun?“ Viktor hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Frage fehl am Platz war. Er räusperte sich. „Möchtest du etwas zu trinken? Ein Glas kalte Limonade vielleicht?“ Wieder Floskeln, weil ihm einfach nichts Besseres einfiel. Das kleine Mädchen ließ sich auf einen der beiden Stühle fallen, die an dem kleinen, quadratischen Holztisch standen. Die Wohnungseinrichtung war spartanisch und nicht sehr modern. Doch Viktor war es genug. Er besaß mehr, als er sich in den letzten Jahren zu erträumen gewagt hatte. Nur ein Wunsch war nicht offen: Einmal seine Enkel sehen.
„Ein Glas Limonade wäre nicht verkehrt.“ Der Kater stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz auf weichen Pfoten in die Küche. Als er das Mädchen am Tisch sitzen sah, sträubte er das Fell und fauchte einmal kurz auf, bevor er floh.
„Aber Minku.“ Viktor war ganz verwundert. Er schaute seinem Haustier hinterher, aber Minku hatte sich wohl unter der Couch verkrochen. Viktor schenkte seinem Gast und sich selbst Limonade ein, bevor er dem Mädchen gegenüber Platz nahm.
„Du weißt, warum ich gekommen bin?“, fragte sie. Viktors Nackenhaare stellten sich auf. Dabei war es nicht so sehr der Klang ihrer Stimme, die ihn eher an eine alte Frau denken ließ, sondern vielmehr ihre Worte. Schon als er die Tür geöffnet hatte und sah, wer da auf seiner Schwelle stand, hatte er instinktiv die Wahrheit erkannt. Auch wenn sein Verstand noch leugnete. Er hatte den Tod zu Gast.
Luna nahm einen tiefen Zug Limonade. Sie schmeckte erfrischend nach Zitrone. Eine Wohltat an diesem heißen Augusttag, bei dem das Thermometer fast vierzig Grad im Schatten anzeigte.
„Es ist noch zu früh“, flüsterte Viktor leise.
Lunas Lachen war so kalt wie die Limonade in ihrem Glas. „Deine Zeit ist abgelaufen.“
Der Mann ihr gegenüber wurde so weiß wie Wand. Sie genoss seine Angst mit boshaftem Vergnügen, betäubte sie doch ihren eigenen Schmerz.
„Viktor“, kam sie ohne Umschweife zur Sache. „ Ich werde dich mitnehmen.“
Er ließ sich schwer in seinem Stuhl zurückfallen. „Aber ich will noch nicht sterben.“ Er sagte das im Tonfall eines Kindes, das noch nicht schlafen gehen und Mama erweichen möchte, doch länger aufbleiben zu dürfen. Er wehrte sich nicht gegen das vermeintlich Unvermeidliche. Er konnte es nur nicht glauben. Luna leerte ihr Glas in einem Zug.
„Du hast dein Leben lang nur gesoffen und anderen Menschen Unglück gebracht.“ Sie verstummte und ließ ihre Worte wirken.
„Ich bin trocken“, wandte er schwach ein, als ob das die verlorenen Jahre wieder gutmachen würde. „Es tut mir leid, dass…“
„Es wäre eine letzte gute Tat, wenn du freiwillig abtrittst“, unterbrach Luna sein Gestammel. Ein hämisches Grinsen umspielte ihre Lippen. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass dich jemand vermissen wird.“
Betreten schaute er zu Boden und biss sich auf die Unterlippe.
„Also…?“ Luna wackelte mit den Fingern. Das grausame Spiel gab ihr das schalte Gefühl von Macht. „Kommst du freiwillig mit?“
Schwerfällig erhob sich Viktor. Er schien wie betäubt. Plötzlich flog so etwas wie ein Lichtstrahl über sein Gesicht und seine Schultern strafften sich. Selbstsicher streckte er die Brust raus. „Was passiert, wenn ich nicht will?“ Er brüllte nicht, aber sein Tonfall machte deutlich, dass er Widerstand leisten würde.
Luna schaute überrascht auf. Mit Widerstand hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Dieser Viktor machte eher einen gebrochenen Eindruck. Bondarenko führte ein trostloses Dasein, dass kaum der Bezeichnung Leben gerecht wurde. Einzig die Katze leistete ihm Gesellschaft und auch die hatte ihn im Stich gelassen, nachdem der Tod an seiner Tür klopfte.
„Ein paar Jahre habe ich noch“, fuhr er fort und freute sich über Lunas ungläubiges Gesicht. „ich war vielleicht kein guter Mensch“, gab er zu. „Aber die Vergangenheit habe ich vor langer Zeit hinter mir gelassen.“
„Oder sie dich“, schnaubte Luna und weidete sich daran, wie er zusammen zuckte.
„Ein paar Jahre mit meinen Enkeln möchte dennoch haben“, fuhr Viktor fort, ohne auf ihren ätzenden Einwand einzugehen.
„Du kennst sie nicht einmal persönlich.“ Lunas Entschlossenheit bekam erste zarte Risse.
„Sie kommen mich am Sonntag besuchen“, entgegnete Bondarenko und in den blassblauen Augen glomm ein Funken Fröhlichkeit auf. „Vor ein paar Tagen haben wir miteinander telefoniert.“ Es lag kein Triumph in seiner Stimme, dass er sie offensichtlich ausgetrickst hatte. Sein Ton war nur von einer ruhigen Bestimmtheit und der Vorfreude auf seine Familie geprägt. Eine völlig neue Erfahrung für Luna. Klienten, die sich ihrem Schicksal nicht fügen wollten, diskutierten entweder, versuchten zu handeln oder wurden sogar aggressiv. Natürlich gewann der Tod schlussendlich die Oberhand. Lunas Blick fiel auf den Napf am Boden, in dem sich noch etwas Katzenfutter befand. „Was wohl mit Minku geschehen würde?“, überlegte sie laut. Sein Herrchen war alles, was der Kater hatte. Eigentlich sollte sie sich nicht darum kümmern. Irgendjemand würde sich des Tieres schon annehmen. Falls nicht wäre er schnell wieder mit seinem Herrn vereint.
„Ich gehe nicht mit, bis ich wenigstens einmal meine Enkel gesehen habe“, widerholte Viktor mit fester Stimme.
„Du willst also an ihnen gutmachen, was du deinen eigenen Kindern angetan hast?“ Es sollte ironisch klingen, doch die Ironie zerbrach in Scherben.
„Ich kann nichts mehr ungeschehen machen. Aber für die Zukunft kann ich ein besserer Vater und Großvater sein.“ Er sprach in einem schlichten Tonfall und beinahe ärgerte sich Luna, dass er immer noch nicht bettelte. Fast schon fühlte sie sich unterlegen.
Sie schaute ihn scharf an. War er so selbstsicher, weil er wusste, dass er eigentlich noch viele Jahre vor sich hatte. Zeit genug, die Enkel als Erwachsene zu sehen. Eventuell noch das Enkelkind im Arm zu halten.
„Also gut“, lenkte Luna ein und gab sich Mühe, großherzig zu klingen. „Mach es diesmal besser.“
Über Viktors Gesicht flog ein Lächeln und Luna fiel auf, dass er kaum Falten hatte. Einige wenige um die Augen. Ansonsten erinnerte nur das dicht gelockte schneeweiße Haar daran, dass er bald runden Geburtstag feierte.
So plötzlich wie sie verschwunden war, tauchte Luna scheinbar aus dem Nichts wieder auf. Sie saß auf der obersten Stufe der Veranda und streichelte den Hund. Gedankenverloren schauten ihre bernsteinbraunen Augen irgendwo ins Leere.
„Luna!“, entfuhr es Alexej. Einen Augenblick war er zu verblüfft, um ein Gefühl wie Freude oder Zorn zu verspüren. Sie schaute zu ihm auf. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.
„Hallo“, antwortete sie leise und wandte den Blick wieder ab. Der Hund bot ihr seinen Ball an. Sie nahm das stark angesabberte Spielzeug und warf es, soweit sie konnte. Freudig bellend flitzte der Hund hinterher.
Nur mühsam beherrschte Alexej seine aufkommende Wut. Tagelang hatte er sich die schlimmsten Sorgen über ihr Verschwinden gemacht. Fast jeden Zentimeter in der näheren und weiteren Umgebung hatte er abgesucht. Bis er sich keinen anderen Rat mehr wusste und sie bei der Polizei als vermisst meldete. Der Polizeimeister war sein Patenonkel, die beiden anderen hatten die gleiche Schule besucht. Waren lediglich zwei Jahrgänge über ihm. Selbst mit Hunden hatten sie Luna gesucht, ohne dass die Tiere auch nur die geringste Witterung von ihr aufnahmen. Jetzt saß sie einfach so auf der Treppe, als wäre sie niemals fort gewesen, spielte mit dem Köter und alles was sie sagte, war ein einfaches „Hallo, das sie Alexej an den Kopf warf, wie sie ein paar Sekunden zuvor den Ball für die Töle geschmissen hatte.
„Wo bist du gewesen?“ Er presste die Worte formlich durch zusammengebissene Zähne.
Luna stand auf und klopfte sich die Kleidung auf. Sie war auffällig ganz in schwarz gekleidet. Fast sah sie wie einer von diesen Gruftis aus, mit blassem Teint und offenen langen Haaren.
„Wir müssen reden“, erwiderte sie leise, ohne seine Frage direkt zu beantworten.
„Das allerdings“, stimmte er knurrend zu.
„Komm!“ Alexej war so wütend und verletzt über ihr Verhalten, dass er die ausgestreckte Hand ignorierte.
Der Morgen war sonnig. Schon seit Stunden zwitscherten die Vögel in den Zweigen des alten Magnolienbaumes und in der hohen Wildrosenhecke. Am Himmel zeigte sich eine dünne Schleierwolke und in die Luft war geschwängert vom Geruch frisch gemähten Grases, das sich mit Rosenduft mischte.
Luna folgte Alexej hinter das Haus zum Stall. Er konnte ihre leichten Schritte auf dem trockenen Boden hören. Unwillkürlich lief ihm ein Schauer über den Rücken. Auf seinen Unterarmen zeigte sich trotz der Wärme Gänsehaut. Sein Herz begann, heftig zu pochen. Er drehte einen Eimer aus Metall um und hockte sich darauf. Luna nahm ihm gegenüber auf einem bequemen Holzklotz, den Sergej zum Kleinmachen von Brennholz verwendete, Platz. Sie ignorierte die noch darin steckende Axt und schlug die Beine übereinander. „Alexej“, ich muss dir etwas sagen“, begann sie. Er saß einen Ticken zu weit weg, als dass sie ihn bei der Hand hätte nehmen können. In Alexejs Ohren begann es zu rauschen. Beinahe wurde ihm schwarz vor Augen. Es war noch früh am Morgen und er hatte noch nicht gefrühstückt. „Gibt es einen anderen?“, fragte er monoton. Seine einzige Erklärung für ihr seltsames Verhalten. Alexejs Gedanken begannen sich zu drehen, immer schneller wie in einem Karussell, aus dem er nicht mehr aussteigen konnte.
Ihre Lippen bewegten sich, doch die Worte nahm er so undeutlich wahr, als würde sich sein Kopf unter Wasser befinden.
„Es ist an der Zeit, dass du erfährst, wer ich wirklich bin.“ Sie machte eine kurze Pause. „Alexej, ich bin der Tod.“ Jetzt war es raus und Luna hatte das Gefühl, als würde eine tonnenschwere Last von ihr fallen, gleichzeitig aber fühlte sie sich wie in Watte gepackt.
Alexej verstand nur das letzte Wort. Tod. Ihm war, als würde eine eiskalte Faust ihn bei der Kehle packen. Tod. Tod. Tot. Luna würde sterben. Sie war schwer erkrankt. Sein Verstand schrie geradezu.
„Wie lange noch?“ Die Worte wollten kaum seinen Mund verlassen. Sie sprach weiter, doch das Gesagte kam kaum bei ihm an. Alexej sank auf die Knie und umfasste ihre Hände. „Wie lange noch?“, widerholte er.
Luna schüttelte nur den Kopf. „Du hast mich nicht verstanden, Alexej. Ich bin der Tod und ich bin für deine Großmutter gekommen.“
Wütend riss Alexej sich von ihren Händen los und sprang auf. „Was soll die Scheiße?“ Seine Stimme war rau vor Zorn. Warum erzählst du solche lächerlichen Lügen? Wenn du einen anderen hast, wenn du dich trennen willst. In Ordnung. Trennen wir uns eben. Aber solche hirnrissige Märchen…“ Er machte eine kurze Pause und schüttelte den Kopf. „Solche Geschichten sind einfach krank und deines Alters nicht würdig. „Von einer Frau von vierundzwanzig Jahren erwarte ich definitiv mehr. Vor allem erwarte ich, dass sie ehrlich ist.
Luna erhob sich ebenfalls. „Ich bin so alt wie die Zeit selbst, Alexej.“
Ihre Stimme schien verändert. Alexej fand keinen passenden Ausdruck dafür. Die Art, wie sie sprach, hatte sich verändert. So als wäre sie ganz weit entfernt, wie das Echo der Frau, die er einmal geliebt hatte. Trotzdem war jedes Wort so klar zu verstehen, wie ein Tropfen Wasser. „Ich bin der Tod“, wiederholte sie leise und eindringlich. Alexej gab ein enerviertes Schnauben von sich. „Schon bessere Ausreden gehört. Der Tod ist abstrakt. Körperlos. Er hat keine Gestalt“, widersprach, der Literaturstudent.
„Deswegen gibt ihm auch jeder ein anderes Aussehen.“ Luna wirkte mit einem Mal erschöpft.
„Wie bist du eigentlich hier weggekommen? Ohne Auto ist das beinahe unmöglich.“
„Der Tod braucht keine Verkehrsmittel.“
„Ich habe mir den Tod aber immer ganz anders vorgestellt.“ In Alexeys Stimme schwang ein provozierender Unterton mit. Innerlich schüttelte er den Kopf über diese sinnlose Diskussion. „Als Sensenmann…“
„Hast du nicht“, widersprach Luna heftig. „Unterbewusst siehst du den Tod als junge Frau mit langen dunklen Haaren.“
Er wandte sich mit einem zynischen Auflachen ab. „Allein schon, dass ich mich zu diesem Gespräch herablasse.“
Als er sich wieder zu ihr umdrehte hatten seine blauen Augen einen eiskalten Schimmer. „Pack deine Sachen und verschwinde dahin zurück, wo du hergekommen bist. Ich will dich niemals wieder sehen. Es ist aus zwischen uns.“ Die letzten Worte presste er zwischen den Zähnen hervor. Sie durfte nicht merken, wie sehr er mit den Tränen kämpfte. Luna nickte nur stumm. Zwei Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte schon zu Beginn ihrer Beziehung gewusst, dass diese Liebe keine Zukunft haben würde. Trotzdem hatte sie sich darauf eingelassen und jede Minute mit Alexej genossen.
Mit Schritten, so schwer wie Blei, ging sie zum Haus zurück.
„Alexej, Früstü…“ Die Worte erstarben auf Frau Bondarenkos Lippen, als sie die junge Frau sah. „Ja, Luna“, rief sie erstaunt. „Wo kommst du auf einmal her?“
„Ich bleibe nicht lange“, beantwortete Luna die rhetorische Frage. „Ich bin nur hergekommen, um etwas abzuholen.“ Sie schob sich an Alexejs Mutter vorbei und ging ins Wohnzimmer. Auf der Couch lag die Großmutter. Die bunte Flickendecke schien die alte Frau förmlich zu erdrücken. In den letzten Tagen war sie immer hinfälliger geworden. Luna kniete sich neben das Sofa und nahm eine der abgearbeiteten Hände zwischen ihre.
Die alte Frau öffnete die Augen. Als sie Luna erkannte, flog ein erleichtertes Lächeln über das faltige Gesicht. „Bist du gekommen, um mich abzuholen?“ Ihre Stimme klang brüchig und sie sprach so leise, dass selbst Luna Mühe hatte, sie zu verstehen. Der Atem der alten Frau ging rasselnd. Der Tod nickte nur.
„Das ist gut“, lächelte die Großmutter zufrieden. Sie hob die von Gicht knotige Hand und strich Luna über die Wange. „Du bist ein gutes Mädchen.“ Kraftlos fiel die Hand auf ihre Brust. Sie schloss die Augen. Luna küsste sie auf die Stirn. Das Gesicht der alten Frau entspannte sich. Die Falten verschwanden fast gänzlich und die Wangenbekamen einen rosigen Schimmer.
„Gute Reise“, flüsterte Luna.
Die Familie saß beim Frühstück. „Wenn Großmutter aufwacht, bring ihr ihren Haferschleim“, sagte Mascha gerade. „Sie isst von Tag zu Tag weniger.“ Kummer schwang in der Stimme des jungen Mädchens.
„Großmutter ist auf ihre letzte große Reise gegangen“, sagte Luna vom Türrahmen aus. Sie scheute sich, die Schwelle zu überschreiten und die Küche zu betreten. In der Küche fand das Familienleben der Bondarenkos statt. Ihr fiel auf, dass Alexej nicht mit am Tisch saß.
„Was soll das bedeuten?“, fragte Mascha unwirsch und funkelte Luna zornig an. Die Freundin ihres Bruders war ihr suspekt.
„Ist sie etwa…?“ Frau Bondarenko blieben die Worte im Hals stecken. Ein dicker Kloß schnürte ihr die Kehle zu. Stumm gab Luna die Tür frei, während die Eltern und Mascha ins Wohnzimmer stürmten. Das Aufschluchzen der Frauen war bis in die Küche zu hören.
Hand in Hand gingen sie zurück zum Haus. Der Mischlingshund sprang aufgeregt vor ihnen her. Die Dämmerung zog langsam herauf Und der Duft von Holzkohlengfeuer lag in der Luft. Die Sommertage mussten zum Grillen genutzt werden.
Luna half in der Küche beim Geschirrspülen, während die Männer draußen auf der Veranda saßen. Die Großmutter hatte sich schon vor über einer Stunde schlafen gelegt.
„Luna“, die Stimme von Alexejs Mutter hatte einen solch gewichtigen Unterton, dass sie aufhorchte. „Leider ist der Wohnraum etwas begrenzt bei uns“, begann sie und klapperte mit den Tellern.
„Ich finde es sehr gemütlich“, widersprach Luna, die nicht die leiseste Ahnung hatte, worauf die Mutter hinauswollte.
„Das meine ich auch nicht“, kam die Antwort. Frau Bondarenko sprach langsam, als überlegte sie sich ihre Worte genau. „Das Problem ist, dass wir kein Zimmer für dich freihaben und du bei Alexej schlafen müsstest.“
Nur mühsam konnte Luna ein Grinsen unterdrücken, während sie Besteck abwusch. Mascha stöhnte genervt. „Mama!“
„Immerhin sind die beiden nicht verheiratet“, belehrte ihre Mutter sie.
„Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert:“ Mascha war ein rebellischer Teenager. Vor einigen Tagen hatte sie sich heimlich ein Tattoo stechen lassen.
„Trotzdem“, blieb ihre Mutter unbeirrt.
„Ich glaube, damit kann ich leben“, schmunzelte Luna.
„Ihr werdet ja bestimmt noch heiraten“, bestimmte Frau Bondarenko und Mascha murmelte etwas davon, dass die beiden im Studentenwohnheim auch in einem Bett schliefen.
„Was sagen eigentlich deine Eltern dazu?“, wollte Frau Bondarenko wissen.
Lunas Herz begann, heftig zu klopfen. „Sie sind schon lange tot.“ Immer diese Lügen und Halbwahrheiten. Langsam wurde sie es leid.
„Das tut mir leid, mein Liebes. War es ein Unfall?“
„Ja, genau“, bestätigte Luna. „Ich war auch noch ganz klein und kann mich kaum erinnern.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und hoffte inständig, Frau Bondarenko würde nicht weiter fragen. Über ihre Schulter fing sie Maschas Blick auf. Das junge Mädchen schien etwas zu ahnen.
Die Nacht war lau. Luna schmiegte sich unter der Decke an Alexej. Nur der dünne Stoff ihres Nachthemdes war zwischen ihnen. Alexej trug nur Boxershorts. Er küsste sie voller Leidenschaft. Seine Hände strichen über ihren Körper, fanden den Weg unter den nachtblauen Satin. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten.
„Ich will, dass es heute Nacht geschieht“, flüsterte er mit unterdrücktem Stöhnen. Einen Moment zögerte sie. Körperliche Hingabe war etwas, dass die Menschen taten. Trotzdem ließ sie zu, dass er ihr das Nachthemd auszog. Mit den Lippen erkundete er ihren Leib: Die Erregung gewann die Oberhand und sie ließ es geschehen. Sie schloss die Augen, als er in sie eindrang und sich im Rhythmus seines Herzens bewegte.
Als Alexej am nächsten Morgen erwachte, war das Bett neben ihm leer. Die vergangene Nacht mit Luna hallte noch in ihm nach. Sie war die erste Frau, mit der er geschlafen hatte. Noch genoss er die Wärme unter der Decke. In den Kissen hing noch Lunas Duft. Sicherlich half sie Mama unten in der Küche. Er hörte Geschirr klappern.
„Alexej! Luna! Ihr Langschläfer“, rief die Mutter vom Treppenabsatz. „Das Frühstück ist fertig.“
Alexej schwang die Beine über die Bettkante und stieg in seine Sporthose. Er wähnte Luna im Haus.
Die Familie hatte sich schon um den Frühstückstisch versammelt.
„Wo ist Luna?“, fragte die Mutter, kaum dass er die große Küche betreten hatte.
„Alexej schaute sie erstaunt an. „Ich dachte, sie ist bei euch?“ Er ließ seine Antwort wie eine Frage klingen. „Ist sie vielleicht im Stall?“ Er fragte nur, um sich selbst zu beruhigen. Er wusste, dass sie nicht im Stall war. Trotzdem fügte er hinzu: „Sie mag Pferde.“ Er kam sich dumm vor. Sein Herz begann, heftig zu klopfen. „Wir müssen sie suchen“, presste er hervor.
Es war völlig sinnlos, aber Luna blieb verschwunden. Sie war völlig fremd hier und ohne Auto würde sie auch nicht weit kommen. Trotzdem war sie vom Erdboden verschluckt.
„Ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen.“ Der Vater sprach aus, was alle anderen dachten.
„Sie wird wieder kommen“, antwortete die Großmutter mit ihrer brüchigen Stimme. „Und mich mitnehmen.“
Sie sagte das mit einer völlig selbstverständlichen Überzeugung und so viel kraftvoller Ruhe, dass ihre Familienmitglieder sie irritiert anschauten.
Luna lief durch die Straßen von Quostanay. Sie musste einen Auftrag erfüllen. Eigentlich war dieser Auftrag Alexej Bondarenko nicht der Auftrag. Liebe macht blind und so weigerte sie sich,. Ihren Verstand die Oberhand gewinnen zu lassen. Sie hatte sich in einen ihrer Klienten verliebt. Etwas war gewaltig schief gelaufen und sie war doch bei dem „richtigen“ Alexej Bondarenko gelandet. Lediglich das Alter stimmte nicht. Trotzdem sollte der Mann, den sie liebte, sterben.
Er ist doch noch so jung, ging es Luna durch den Kopf. Jetzt stellte sie schon ihre eigene Arbeit in Frage. Zornig wischte sie sich übers Gesicht. Ihre Wangen waren feucht. Letztendlich war sie der Tod und solche menschliche Grillen durfte sie sich nicht erlauben. Gegen ihren Willen stiegen die Erinnerungen an die gemeinsame Nacht mit Alexej hoch. Sie wollte nicht daran denken, doch ein eigenartiges Gefühl des Glücks wuchs in ihr. Aber auch Wut. Wut auf sich und Wut auf ihn. Dafür sollte heute sein mehr als doppelt so alter Namensvetter sterben. Auch wenn er nicht auf der Liste stand, war er doch schon lange überfällig.
Jemand hämmerte heftig an die Tür. Viktor Alexejwitsch Bondarenko schaute erstaunt auf. Seitdem seine Frau ihn vor so vielen Jahren verlassen hatte, bekam er nur noch selten Besuch. Auch seine beiden Kinder hatten den Kontakt stark eingeschränkt. Er konnte es ihnen noch nicht einmal verübeln. Ihre ganze Kindheit und den Großteil ihrer Jugend hatte er im Rausch verbracht. Der Alkohol war sein Ehepartner gewesen und zu den Saufkumpanen pflegte er ein engeres Verhältnis als zu dem eigenen Nachwuchs. Er wusste nur, dass sein Sohn verheiratet war und selbst zwei Kinder hatte. Die Tochter war Managerin in einem großen Unternehmen. Als erste Frau in dieser Firma. Obwohl sie ihn nie besuchten, war er stolz auf sie und auch auf seine geschiedene Frau, die es geschafft hatte, sich ein neues Leben aufzubauen. Ohne ihn. Den Säufer.
Seit fünf Jahren war er jetzt trocken. Sein Leben hatte er radikal geändert. Achtete auf gesunde Ernährung und ging viel an der frischen Luft spazieren. Er war einsam. Seitdem er seine ehemaligen Trinkbrüder mied, hatte er auch keine Freunde mehr und es fiel ihm schwer, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen. Das winzige Zwei-Zimmer-Appartement teilte er sich mit seinem Kater. Seinem einzigen und besten Freund. Die treue Kreatur wusste nichts von seiner Vergangenheit, was für ein schlechter Mensch er einmal gewesen war. Das rotgetigerte Tier mit den grünen Augen half ihm dabei, trocken zu bleiben.
Wieder klopfte es an der Tür. Diesmal energischer. Viktor strich seinem Kater, den er liebevoll Minku nannte, noch einmal über den Rücken und ging zur Tür. Er war gespannt, wer da so heftig nach ihm verlangte. Als er öffnete, stand zu seinem großen Erstaunen ein junges Mädchen mit blondem Wuschelkopf und bernsteinbraunen Augen vor ihm. Für einen Moment glaubte er sich in der Zeit zurück versetzt und seine Tochter Martha stünde als zwölfjähriges Mädchen vor ihm. Unwillkürlich wischte sich Viktor über die Augen.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie sehr selbstbewusst und schob sich, ohne eine Antwort abzuwarten an dem völlig perplexen Mann vorbei. Im Stillen dankte er, dass er den Tag zuvor gründlich geputzt hatte. Die Wohnung war ordentlich. Er folgte ihr in die Küche. „Na, Kleine, was kann ich denn für dich tun?“ Viktor hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Frage fehl am Platz war. Er räusperte sich. „Möchtest du etwas zu trinken? Ein Glas kalte Limonade vielleicht?“ Wieder Floskeln, weil ihm einfach nichts Besseres einfiel. Das kleine Mädchen ließ sich auf einen der beiden Stühle fallen, die an dem kleinen, quadratischen Holztisch standen. Die Wohnungseinrichtung war spartanisch und nicht sehr modern. Doch Viktor war es genug. Er besaß mehr, als er sich in den letzten Jahren zu erträumen gewagt hatte. Nur ein Wunsch war nicht offen: Einmal seine Enkel sehen.
„Ein Glas Limonade wäre nicht verkehrt.“ Der Kater stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz auf weichen Pfoten in die Küche. Als er das Mädchen am Tisch sitzen sah, sträubte er das Fell und fauchte einmal kurz auf, bevor er floh.
„Aber Minku.“ Viktor war ganz verwundert. Er schaute seinem Haustier hinterher, aber Minku hatte sich wohl unter der Couch verkrochen. Viktor schenkte seinem Gast und sich selbst Limonade ein, bevor er dem Mädchen gegenüber Platz nahm.
„Du weißt, warum ich gekommen bin?“, fragte sie. Viktors Nackenhaare stellten sich auf. Dabei war es nicht so sehr der Klang ihrer Stimme, die ihn eher an eine alte Frau denken ließ, sondern vielmehr ihre Worte. Schon als er die Tür geöffnet hatte und sah, wer da auf seiner Schwelle stand, hatte er instinktiv die Wahrheit erkannt. Auch wenn sein Verstand noch leugnete. Er hatte den Tod zu Gast.
Luna nahm einen tiefen Zug Limonade. Sie schmeckte erfrischend nach Zitrone. Eine Wohltat an diesem heißen Augusttag, bei dem das Thermometer fast vierzig Grad im Schatten anzeigte.
„Es ist noch zu früh“, flüsterte Viktor leise.
Lunas Lachen war so kalt wie die Limonade in ihrem Glas. „Deine Zeit ist abgelaufen.“
Der Mann ihr gegenüber wurde so weiß wie Wand. Sie genoss seine Angst mit boshaftem Vergnügen, betäubte sie doch ihren eigenen Schmerz.
„Viktor“, kam sie ohne Umschweife zur Sache. „ Ich werde dich mitnehmen.“
Er ließ sich schwer in seinem Stuhl zurückfallen. „Aber ich will noch nicht sterben.“ Er sagte das im Tonfall eines Kindes, das noch nicht schlafen gehen und Mama erweichen möchte, doch länger aufbleiben zu dürfen. Er wehrte sich nicht gegen das vermeintlich Unvermeidliche. Er konnte es nur nicht glauben. Luna leerte ihr Glas in einem Zug.
„Du hast dein Leben lang nur gesoffen und anderen Menschen Unglück gebracht.“ Sie verstummte und ließ ihre Worte wirken.
„Ich bin trocken“, wandte er schwach ein, als ob das die verlorenen Jahre wieder gutmachen würde. „Es tut mir leid, dass…“
„Es wäre eine letzte gute Tat, wenn du freiwillig abtrittst“, unterbrach Luna sein Gestammel. Ein hämisches Grinsen umspielte ihre Lippen. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass dich jemand vermissen wird.“
Betreten schaute er zu Boden und biss sich auf die Unterlippe.
„Also…?“ Luna wackelte mit den Fingern. Das grausame Spiel gab ihr das schalte Gefühl von Macht. „Kommst du freiwillig mit?“
Schwerfällig erhob sich Viktor. Er schien wie betäubt. Plötzlich flog so etwas wie ein Lichtstrahl über sein Gesicht und seine Schultern strafften sich. Selbstsicher streckte er die Brust raus. „Was passiert, wenn ich nicht will?“ Er brüllte nicht, aber sein Tonfall machte deutlich, dass er Widerstand leisten würde.
Luna schaute überrascht auf. Mit Widerstand hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Dieser Viktor machte eher einen gebrochenen Eindruck. Bondarenko führte ein trostloses Dasein, dass kaum der Bezeichnung Leben gerecht wurde. Einzig die Katze leistete ihm Gesellschaft und auch die hatte ihn im Stich gelassen, nachdem der Tod an seiner Tür klopfte.
„Ein paar Jahre habe ich noch“, fuhr er fort und freute sich über Lunas ungläubiges Gesicht. „ich war vielleicht kein guter Mensch“, gab er zu. „Aber die Vergangenheit habe ich vor langer Zeit hinter mir gelassen.“
„Oder sie dich“, schnaubte Luna und weidete sich daran, wie er zusammen zuckte.
„Ein paar Jahre mit meinen Enkeln möchte dennoch haben“, fuhr Viktor fort, ohne auf ihren ätzenden Einwand einzugehen.
„Du kennst sie nicht einmal persönlich.“ Lunas Entschlossenheit bekam erste zarte Risse.
„Sie kommen mich am Sonntag besuchen“, entgegnete Bondarenko und in den blassblauen Augen glomm ein Funken Fröhlichkeit auf. „Vor ein paar Tagen haben wir miteinander telefoniert.“ Es lag kein Triumph in seiner Stimme, dass er sie offensichtlich ausgetrickst hatte. Sein Ton war nur von einer ruhigen Bestimmtheit und der Vorfreude auf seine Familie geprägt. Eine völlig neue Erfahrung für Luna. Klienten, die sich ihrem Schicksal nicht fügen wollten, diskutierten entweder, versuchten zu handeln oder wurden sogar aggressiv. Natürlich gewann der Tod schlussendlich die Oberhand. Lunas Blick fiel auf den Napf am Boden, in dem sich noch etwas Katzenfutter befand. „Was wohl mit Minku geschehen würde?“, überlegte sie laut. Sein Herrchen war alles, was der Kater hatte. Eigentlich sollte sie sich nicht darum kümmern. Irgendjemand würde sich des Tieres schon annehmen. Falls nicht wäre er schnell wieder mit seinem Herrn vereint.
„Ich gehe nicht mit, bis ich wenigstens einmal meine Enkel gesehen habe“, widerholte Viktor mit fester Stimme.
„Du willst also an ihnen gutmachen, was du deinen eigenen Kindern angetan hast?“ Es sollte ironisch klingen, doch die Ironie zerbrach in Scherben.
„Ich kann nichts mehr ungeschehen machen. Aber für die Zukunft kann ich ein besserer Vater und Großvater sein.“ Er sprach in einem schlichten Tonfall und beinahe ärgerte sich Luna, dass er immer noch nicht bettelte. Fast schon fühlte sie sich unterlegen.
Sie schaute ihn scharf an. War er so selbstsicher, weil er wusste, dass er eigentlich noch viele Jahre vor sich hatte. Zeit genug, die Enkel als Erwachsene zu sehen. Eventuell noch das Enkelkind im Arm zu halten.
„Also gut“, lenkte Luna ein und gab sich Mühe, großherzig zu klingen. „Mach es diesmal besser.“
Über Viktors Gesicht flog ein Lächeln und Luna fiel auf, dass er kaum Falten hatte. Einige wenige um die Augen. Ansonsten erinnerte nur das dicht gelockte schneeweiße Haar daran, dass er bald runden Geburtstag feierte.
So plötzlich wie sie verschwunden war, tauchte Luna scheinbar aus dem Nichts wieder auf. Sie saß auf der obersten Stufe der Veranda und streichelte den Hund. Gedankenverloren schauten ihre bernsteinbraunen Augen irgendwo ins Leere.
„Luna!“, entfuhr es Alexej. Einen Augenblick war er zu verblüfft, um ein Gefühl wie Freude oder Zorn zu verspüren. Sie schaute zu ihm auf. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.
„Hallo“, antwortete sie leise und wandte den Blick wieder ab. Der Hund bot ihr seinen Ball an. Sie nahm das stark angesabberte Spielzeug und warf es, soweit sie konnte. Freudig bellend flitzte der Hund hinterher.
Nur mühsam beherrschte Alexej seine aufkommende Wut. Tagelang hatte er sich die schlimmsten Sorgen über ihr Verschwinden gemacht. Fast jeden Zentimeter in der näheren und weiteren Umgebung hatte er abgesucht. Bis er sich keinen anderen Rat mehr wusste und sie bei der Polizei als vermisst meldete. Der Polizeimeister war sein Patenonkel, die beiden anderen hatten die gleiche Schule besucht. Waren lediglich zwei Jahrgänge über ihm. Selbst mit Hunden hatten sie Luna gesucht, ohne dass die Tiere auch nur die geringste Witterung von ihr aufnahmen. Jetzt saß sie einfach so auf der Treppe, als wäre sie niemals fort gewesen, spielte mit dem Köter und alles was sie sagte, war ein einfaches „Hallo, das sie Alexej an den Kopf warf, wie sie ein paar Sekunden zuvor den Ball für die Töle geschmissen hatte.
„Wo bist du gewesen?“ Er presste die Worte formlich durch zusammengebissene Zähne.
Luna stand auf und klopfte sich die Kleidung auf. Sie war auffällig ganz in schwarz gekleidet. Fast sah sie wie einer von diesen Gruftis aus, mit blassem Teint und offenen langen Haaren.
„Wir müssen reden“, erwiderte sie leise, ohne seine Frage direkt zu beantworten.
„Das allerdings“, stimmte er knurrend zu.
„Komm!“ Alexej war so wütend und verletzt über ihr Verhalten, dass er die ausgestreckte Hand ignorierte.
Der Morgen war sonnig. Schon seit Stunden zwitscherten die Vögel in den Zweigen des alten Magnolienbaumes und in der hohen Wildrosenhecke. Am Himmel zeigte sich eine dünne Schleierwolke und in die Luft war geschwängert vom Geruch frisch gemähten Grases, das sich mit Rosenduft mischte.
Luna folgte Alexej hinter das Haus zum Stall. Er konnte ihre leichten Schritte auf dem trockenen Boden hören. Unwillkürlich lief ihm ein Schauer über den Rücken. Auf seinen Unterarmen zeigte sich trotz der Wärme Gänsehaut. Sein Herz begann, heftig zu pochen. Er drehte einen Eimer aus Metall um und hockte sich darauf. Luna nahm ihm gegenüber auf einem bequemen Holzklotz, den Sergej zum Kleinmachen von Brennholz verwendete, Platz. Sie ignorierte die noch darin steckende Axt und schlug die Beine übereinander. „Alexej“, ich muss dir etwas sagen“, begann sie. Er saß einen Ticken zu weit weg, als dass sie ihn bei der Hand hätte nehmen können. In Alexejs Ohren begann es zu rauschen. Beinahe wurde ihm schwarz vor Augen. Es war noch früh am Morgen und er hatte noch nicht gefrühstückt. „Gibt es einen anderen?“, fragte er monoton. Seine einzige Erklärung für ihr seltsames Verhalten. Alexejs Gedanken begannen sich zu drehen, immer schneller wie in einem Karussell, aus dem er nicht mehr aussteigen konnte.
Ihre Lippen bewegten sich, doch die Worte nahm er so undeutlich wahr, als würde sich sein Kopf unter Wasser befinden.
„Es ist an der Zeit, dass du erfährst, wer ich wirklich bin.“ Sie machte eine kurze Pause. „Alexej, ich bin der Tod.“ Jetzt war es raus und Luna hatte das Gefühl, als würde eine tonnenschwere Last von ihr fallen, gleichzeitig aber fühlte sie sich wie in Watte gepackt.
Alexej verstand nur das letzte Wort. Tod. Ihm war, als würde eine eiskalte Faust ihn bei der Kehle packen. Tod. Tod. Tot. Luna würde sterben. Sie war schwer erkrankt. Sein Verstand schrie geradezu.
„Wie lange noch?“ Die Worte wollten kaum seinen Mund verlassen. Sie sprach weiter, doch das Gesagte kam kaum bei ihm an. Alexej sank auf die Knie und umfasste ihre Hände. „Wie lange noch?“, widerholte er.
Luna schüttelte nur den Kopf. „Du hast mich nicht verstanden, Alexej. Ich bin der Tod und ich bin für deine Großmutter gekommen.“
Wütend riss Alexej sich von ihren Händen los und sprang auf. „Was soll die Scheiße?“ Seine Stimme war rau vor Zorn. Warum erzählst du solche lächerlichen Lügen? Wenn du einen anderen hast, wenn du dich trennen willst. In Ordnung. Trennen wir uns eben. Aber solche hirnrissige Märchen…“ Er machte eine kurze Pause und schüttelte den Kopf. „Solche Geschichten sind einfach krank und deines Alters nicht würdig. „Von einer Frau von vierundzwanzig Jahren erwarte ich definitiv mehr. Vor allem erwarte ich, dass sie ehrlich ist.
Luna erhob sich ebenfalls. „Ich bin so alt wie die Zeit selbst, Alexej.“
Ihre Stimme schien verändert. Alexej fand keinen passenden Ausdruck dafür. Die Art, wie sie sprach, hatte sich verändert. So als wäre sie ganz weit entfernt, wie das Echo der Frau, die er einmal geliebt hatte. Trotzdem war jedes Wort so klar zu verstehen, wie ein Tropfen Wasser. „Ich bin der Tod“, wiederholte sie leise und eindringlich. Alexej gab ein enerviertes Schnauben von sich. „Schon bessere Ausreden gehört. Der Tod ist abstrakt. Körperlos. Er hat keine Gestalt“, widersprach, der Literaturstudent.
„Deswegen gibt ihm auch jeder ein anderes Aussehen.“ Luna wirkte mit einem Mal erschöpft.
„Wie bist du eigentlich hier weggekommen? Ohne Auto ist das beinahe unmöglich.“
„Der Tod braucht keine Verkehrsmittel.“
„Ich habe mir den Tod aber immer ganz anders vorgestellt.“ In Alexeys Stimme schwang ein provozierender Unterton mit. Innerlich schüttelte er den Kopf über diese sinnlose Diskussion. „Als Sensenmann…“
„Hast du nicht“, widersprach Luna heftig. „Unterbewusst siehst du den Tod als junge Frau mit langen dunklen Haaren.“
Er wandte sich mit einem zynischen Auflachen ab. „Allein schon, dass ich mich zu diesem Gespräch herablasse.“
Als er sich wieder zu ihr umdrehte hatten seine blauen Augen einen eiskalten Schimmer. „Pack deine Sachen und verschwinde dahin zurück, wo du hergekommen bist. Ich will dich niemals wieder sehen. Es ist aus zwischen uns.“ Die letzten Worte presste er zwischen den Zähnen hervor. Sie durfte nicht merken, wie sehr er mit den Tränen kämpfte. Luna nickte nur stumm. Zwei Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte schon zu Beginn ihrer Beziehung gewusst, dass diese Liebe keine Zukunft haben würde. Trotzdem hatte sie sich darauf eingelassen und jede Minute mit Alexej genossen.
Mit Schritten, so schwer wie Blei, ging sie zum Haus zurück.
„Alexej, Früstü…“ Die Worte erstarben auf Frau Bondarenkos Lippen, als sie die junge Frau sah. „Ja, Luna“, rief sie erstaunt. „Wo kommst du auf einmal her?“
„Ich bleibe nicht lange“, beantwortete Luna die rhetorische Frage. „Ich bin nur hergekommen, um etwas abzuholen.“ Sie schob sich an Alexejs Mutter vorbei und ging ins Wohnzimmer. Auf der Couch lag die Großmutter. Die bunte Flickendecke schien die alte Frau förmlich zu erdrücken. In den letzten Tagen war sie immer hinfälliger geworden. Luna kniete sich neben das Sofa und nahm eine der abgearbeiteten Hände zwischen ihre.
Die alte Frau öffnete die Augen. Als sie Luna erkannte, flog ein erleichtertes Lächeln über das faltige Gesicht. „Bist du gekommen, um mich abzuholen?“ Ihre Stimme klang brüchig und sie sprach so leise, dass selbst Luna Mühe hatte, sie zu verstehen. Der Atem der alten Frau ging rasselnd. Der Tod nickte nur.
„Das ist gut“, lächelte die Großmutter zufrieden. Sie hob die von Gicht knotige Hand und strich Luna über die Wange. „Du bist ein gutes Mädchen.“ Kraftlos fiel die Hand auf ihre Brust. Sie schloss die Augen. Luna küsste sie auf die Stirn. Das Gesicht der alten Frau entspannte sich. Die Falten verschwanden fast gänzlich und die Wangenbekamen einen rosigen Schimmer.
„Gute Reise“, flüsterte Luna.
Die Familie saß beim Frühstück. „Wenn Großmutter aufwacht, bring ihr ihren Haferschleim“, sagte Mascha gerade. „Sie isst von Tag zu Tag weniger.“ Kummer schwang in der Stimme des jungen Mädchens.
„Großmutter ist auf ihre letzte große Reise gegangen“, sagte Luna vom Türrahmen aus. Sie scheute sich, die Schwelle zu überschreiten und die Küche zu betreten. In der Küche fand das Familienleben der Bondarenkos statt. Ihr fiel auf, dass Alexej nicht mit am Tisch saß.
„Was soll das bedeuten?“, fragte Mascha unwirsch und funkelte Luna zornig an. Die Freundin ihres Bruders war ihr suspekt.
„Ist sie etwa…?“ Frau Bondarenko blieben die Worte im Hals stecken. Ein dicker Kloß schnürte ihr die Kehle zu. Stumm gab Luna die Tür frei, während die Eltern und Mascha ins Wohnzimmer stürmten. Das Aufschluchzen der Frauen war bis in die Küche zu hören.