Hallo Korbinian,
eine schöne Frage
Ich versuche mich mal an einer Antwort, oder genauer gesagt an mehreren, denn es gibt meiner Meinung nach unterschiedliche Möglichkeiten, wie man allen Menschen und darunter auch Frauen Respekt erweisen kann.
1. "Jede/r kann alles machen."
Das erfordert nicht nur eine entsprechende Vorstellung von Gleichheit im Hirn. Das erfordert auch entsprechende Strukturen, das ist sehr herausfordernd, aber auch interessant. Diesen Ansatz kann man bei der Zeichentrickserie "Der Drachenprinz" (ich empfehle das englische Original, The Dragon Prince) sehen. Die Gesellschaft der Menschen ist hier multiethnisch (aber nicht multikulturell), gleichgestellt und inklusiv. Das ist erst einmal gewöhnungsbedürftig in einer Fantasywelt, und ich brauche das auch nicht zwingend, um eine Geschichte gut zu finden. Aber beim Drachenprinzen habe ich es sehr genossen. Rückblickend bin ich sogar erstaunt, wie viel mir das gegeben hat. Entscheidend ist aber die gute Umsetzung. Zwei Beispiele:
> Es gibt eine unfassbar emotionale Szene, in der eine taubstumme Generälin am Grab ihrer Schwester steht und mit ihr spricht - mit den Händen. Ich verstehe keine Gebärdensprache und konnte nicht "verstehen", was sie sagt. Aber der Gesichtsausdruck und die Innigkeit, mit der sie die Hände führt, haben alles gesagt.
> Die königliche Familie ist eine Patchwork-Familie. Und es ist sehr schön umgesetzt, wie sie sich eigentlich lieben, aber eben auch immer eine gewisse Barriere da ist und sie damit umgehen müssen. Das Verhältnis zwischen dem Stiefvater und dem Stiefsohn ist sehr sehr schön dargestellt und hat mir als modernem Menschen sehr viel gesagt.
Wie dieses Modell überhaupt möglich ist, darüber schweigt der Drachenprinz und macht es sich damit ziemlich einfach. Dennoch schön. Wenn man bedenkt, dass Geschichten zu einem modernen Leser mit seinen modernen Erfahrungen sprechen sollen, dann ist es eigentlich regelrecht erstaunlich, dass nicht viel mehr moderne Gesellschaftsstrukturen auch in Fantasy umgesetzt werden, z.B. eben Patchwork-Familien und so weiter.
Du sagst ja, du strebst dieses Modell für deine Geschichte nicht an.
Da sich deine Geschichte aber die Gilden zum Dreh- und Angelpunkt gemacht hat, möchte ich dennoch eine Möglichkeit erwähnen:
In deiner Geschichte könnten Geschlechter keine Rolle in der Macht und der Hierarchie spielen, stattdessen aber die Gildenzugehörigkeit. Es gibt keine rigide Hierarchie nach Geschlechtern, sondern eine rigide Hierarchie nach Gildenzugehörigkeit (bessere und schlechtere Gilden) und wehe, du fliegst aus der Gilde raus und gehörst nirgends mehr rein, dann gnade dir Gott.
Oder die Gilden sind untereinander zwar gleichberechtigt und egalitär, aber innerhalb der Gilde herrschen Hierarchien und Abhängigkeit - vielleicht in manchen mehr als in anderen.
Was ich damit sagen will, vielleicht tritt das Geschlecht als Merkmal der Gesellschaftsstrukturierung einfach in den Hintergrund und das handwerkliche Geschick/die Gilde/der Stand in der Gilde bestimmt die Struktur der Gesellschaft viel stärker. Nur eine Möglichkeit von vielen
2. Frauen und Männer sind in rigide Geschlechterrollen gepresst, aber jede Figur ist ein vollständiger Mensch.
Komplettes Gegenbeispiel zum Drachenprinz: Game of Thrones.
Diese Welt ist durch Hierarchien, Ungleichheit und starke Geschlechternormen geprägt.
Aber ich habe diese Bücher (!) verschlungen und fand es erstaunlich, wie respektvoll und einfühlsam mit den Menschen umgegangen wird. Martin kann sich in ALLE hineinversetzen. Männer und Frauen (und Menschen dazwischen, die sich mehr oder weniger deutlich positionieren), Alte und Kinder, Zwangsverheiratete und heimliche Homosexuelle, von Geburt an zwergwüchsig oder durch einen Unfall verkrüppelt oder auch einfach ein Mädchen, das sich für Schönes und Nähen interessiert genauso wie ein Mädchen, das kämpfen will. Alle haben ihre schlüssige Perspektive auf die Welt und alle sind vollwertig ausgearbeitet.
(In der Serie ist das wohlgemerkt nicht ansatzweise so umgesetzt wie ich es in den Büchern empfunden habe.)
Das heißt, auch in einer vollkommen ungleichen Welt mit starren Normen kann ein Autor Menschen Respekt erweisen, indem er a) Menschen überhaupt vorsieht, welche nicht der Norm entsprechen und ihnen b) eine vollwertige eigene Stimme gibt.
Deine Gesellschaft muss nicht perfekt sein. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was deine Figuren sagen, und dem, was du als Autor meinst. Du kannst eine Geschichte über den übelsten Macho schreiben, und musst dabei nicht seiner Meinung sein - durch den Plot und den Subtext kannst du sogar seine Position sehr kritisch beschreiben. Wenn in deiner Geschichte Frauen als besonders einfühlsam gelten, dann ist das eine gesellschaftliche Norm in deiner Stadt. Du als Autor kannst und solltest dann dafür Sorge tragen, dass vielleicht mal ein besonders sensibler Mann in der Geschichte auftaucht oder eine besonders ruppige Frau ... oder vielleicht eine Intersex-Person oder jemand der sich nicht in die Norm zuordnen lässt (Brienne of Tarth).
3. Es gibt Männerdomänen und Frauendomänen und alle sind wichtig.
Das ist vermutlich der Absatz, den du brauchst, Korbinian. Sagen wir, es gibt Männerdomänen (das klassische Handwerk zB) und Frauendomänen, Männerrollen und Frauenrollen. Ich schreibe jetzt mal ein paar Aspekte dazu, in keiner bestimmten Reihenfolge:
Wenn du Frauen stärken willst, gib ihnen zunächst eine gleiche Rechtsstellung. Sie sind geschäftsfähig (keine Zustimmung des Mannes nötig) und können erben, falls es das Konzept erben überhaupt gibt. Sie können wählen und gewählt werden. Vielleicht hat der Stadtrat auch eine Doppelspitze, die zwingend aus einem Mann und einer Frau bestehen muss.
Das ist aber nur der erste Schritt. Du musst darüberhinaus überlegen, wie du ihnen Zeit und Gesundheit verschaffst. Du brauchst eine möglichst gute Medizin (Geburt und Verhütung), ein Mindestheiratsalter und die Reproduktionskosten kann nicht komplett an Frauen hängen oder braucht kollektive Unterstützungsmechanismen. Vielleicht gibt es zum Beispiel Garküchen und vielleicht gibt es gute Schulen, wo die Kinder einen Teil des Tages verbringen. Vielleicht wird in der Gesellschaft auch erwartet, dass Männer die Erziehung der Jungen übernehmen, das macht nämlich Kapazitäten bei den Frauen frei
Trotzdem können Frauen weiterhin in bestimmten, als weiblich gesehenen Feldern besonders stark vertreten sein. Es sollten mit diesen Feldern keine Nachteile einhergehen und sie sollten auch nicht schlecht angesehen werden.
Wichtig finde ich zum Beispiel, weil du das oben schreibst: Hausarbeit und Kochen ist keine unwichtige Tätigkeit!!!! Das ist ein Gerücht! Gutes Essen, Sauberkeit, Wärme, ordentlich angelegte Vorräte, überleg mal wie wichtig das alles ist. Genauso wichtig, wie das Dach ordentlich zu decken, und sicher wesentlich wichtiger als Krieg zu führen.
Auch in der modernen Gesellschaft funktioniert die Abwertung von Frauen aus meiner Sicht zu einem Teil auch über die Abwertung von als weiblich gesehenen Tätigkeiten. Wenn du Frauen gesellschaftlich stärken willst, ihnen aber trotzdem bestimmte Tätigkeiten "zuweist", dann hebe einfach das Ansehen der Tätigkeiten. Das geht sogar ganz einfach, wenn man sich mal der eigentlichen Tragweite des Kloputzens vergegenwärtigt.
Institutionalisierung und kollektive Organisationsformen können Frauen rechtlich und organisatorisch stärken. Wenn "Frauendomänen" eigene Gilden bilden, die genauso im Rat abstimmungsberechtigt sind wie die Männer, dann hast du Frauen gestärkt, obwohl sie immer noch bestimmte Rollen haben. Sie können aber die Geschicke der Stadt mitbestimmen und sich selbstbewusst einbringen.
Also vielleicht gibt es neben der Gilde der Schmiede, der Maurer und der Bauern eben auch die Gilde der Medizin, der Erziehung und Bildung, der Ernährung, der Verwaltung, des Handels, die Gilde der Kunst (Unterhaltung), die Gilde der Wäscher! Diese Gilden sind gleichberechtigt und genauso gut angesehen wie die anderen. Die Schulen könnten (im Gegensatz zu den historischen Schulen) auch von Frauen geführt werden. Die Garküchen könnten an zentralen Plätzen aufgestellt sein und zugleich als Anlaufstelle für Fragen und Probleme fungieren.
(Und all das sind wichtige Aufgaben.)
Du musst dich aber auch fragen, was passiert, wenn jemand da partout nicht reinpasst? Wie heftig wird sanktioniert? Gibt es Ausnahmen?
Was passiert mit intersexuellen Personen? Was mit Blinden oder Menschen die zB ein Bein verloren haben?
Gibt es vielleicht Gilden, die als besonders offen für "Sonderlinge" (aus der Norm fallende Menschen) bekannt sind? (Ich denke irgendwie wieder an die Garküchen, vielleicht weil es diese Einrichtung historisch so nicht gab und sie deshalb die Fantasie besonders beflügeln.)
Sehr wichtig: Was ist mit den Männerklischees? Welches Bild hat deine Gesellschaft von Männern und männlichen Tätigkeiten und wie findest du das eigentlich? Warum zur Hölle sollte man von einem Mann einfach so erwarten, dass er in den Krieg zieht, andere umbringt und ein """"Held"""" ist? Warum nicht erwarten, dass ein Mann die Schwachen schützt, für Gerechtigkeit einsteht, Streit schlichtet, Dinge erbaut, besonnen ist, Kompromisse aushandelt und Mächtige in ihre Schranken weist (statt ihren Kriegsbefehlen zu gehorchen)?
Du kannst dich ja auch mal fragen, was IST denn jetzt eigentlich gerechtfertigt zwischen Männern und Frauen, und kannst die Gilden dementsprechend ein bisschen überraschend aufbauen:
Dass Medizin in den Händen von Frauen liegt, ist nicht so überraschend, ist in Teilen aber auch biologisch naheliegend.
Aber warum ist Waschen zum Beispiel eine Frauentätigkeit? Das sieht echt muskelträchtig aus. Also, Gilde der Wäscher ist eine Gruppe von Männern mit ein zwei sehr starken Frauen dabei.
Die Gilde der Schmiede hat einige muskelbepackte Männer ebenso wie Männer und Frauen mit feingliedrigen Händen, die herrliche Verzierungen entwerfen und prägen.
Die Märkte werden von Marktfrauen bedient, aber diese Marktfrauen haben durch ihre Tätigkeit auch die kompletten Finanzen der Bauerngilde in ihrer Aufsicht.
Auf diese Weise kannst du Tätigkeiten in Männlich - Weiblich oder überwiegend männlich - überwiegend weiblich trennen, aber die Macht eben nicht nach Geschlecht teilen und den Leser durch ANDERE Geschlechterrollen herausfordern.
Ich glaub ich könnte hier noch ewig weiterspinnen, aber ich hör jetzt mal auf. Vielleicht sollte ich für meine Geschichten mal so frei vor mich hinspinnen... da kommt Idee um Idee!
Noch ein Wort zum Schluss zu deinem Entscheidungsproblem: Ich kann das gut verstehen, der Moment in dem man sagt "So mach ich's" ist furchteinflößend. Dann entscheide dich doch nicht. Entscheide dich vorläufig. "Heute schreib ich mal eine Ratssitzung, wie sie ablaufen würde, wenn alle Gilden streng nach Geschlecht getrennt sind." "Heute schreib ich mal eine Marktszene, wie sie ablaufen würde, wenn die Gilden total gemischt sind." Ich bin mir sicher, dass du beim schreiben ganz ganz GANZ schnell merkst, welche deiner "vorläufigen Entscheidungen" von Anfang an deine Herzensentscheidung war

Am Ende des Tages solltest du auswählen, das was für DICH interessant und faszinierend ist, denn das sind die Dinge, die du auch deinen Lesern auf eine interessante und faszinierende Art schildern können wirst.