Er hatte sie selbst ins Krematorium gebracht und ihre Asche dem Meer übergeben. War nachts im Hafen auf einen Kran geklettert und hatte die Urne geöffnet. Hatte Liz vom Wind davontragen lassen. Einen kurzen, irrealen Moment hatte er sich dabei frei gefühlt, ehe die Wirklichkeit ihm erneut ihre kalte, dreckige Faust in den Magen rammte. Du bist Schuld. Du hast ihren Schmerz und ihre Sehnsucht nicht ernst genommen. Zu lange hatte er nur Kreise um sein jämmerliches Selbst gezogen. Hatte aufgegeben und nicht gesehen, dass sie weitersuchte.
Er verkaufte weiterhin Synth, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Sogar den Junkies fiel auf, dass sein Herz zertrümmert war, aber es war ihnen egal. Tagsüber erfüllte ihn eine gnädige Taubheit, während er durch die Straßen zog. Abends kam der Schmerz und fraß ihn auf. Der Wahnsinn kratzte an der Innenseite seines Schädels und Red ertappte sich dabei, wie er immer öfter Synthkristalle dippte und auf seiner Zunge schmelzen ließ. Und du hast geglaubt, du hättest das hinter dir.
Die Nächte verwischten im Rausch zu Neonflackern. Meistens erinnerte er sich nicht, wann er wo gewesen war. Manchmal schlug er mit den Fäusten gegen die Betonmauer, die den leuchtenden Kern vom grauen Sprawl trennte. Solange, bis das Blut seine Finger taub machte. Oder er prügelte sich mit irgendwelchen Gossenpunks. Die suchten immer Stress. Meistens lag er aber einfach nur in seiner Bude, starrte an die Decke und betrachtete die bunten Lichter von der Straße, die auf Synth lebendig wurden und ihm finstere Geschichten erzählten. Er lauschte der Stimme in seinem Kopf, die immer zu brüllte: Du. Bist. Schuld.
Alterreal hat sie umgebracht. Der Gedanke verbiss sich in seinem zugedröhnten Schädel. Red lehnte an dem feuchten Beton zwischen zwei grell erleuchteten Schaufenstern. Links von ihm eine irrwitzige Vielfalt an Silikondildos, die träge auf kleinen Glaspodesten rotierten. Rechts ein Survival-Shop mit einem krassen Messerbouquet in der Auslage. Umrahmt von netten Knarren. Vielleicht sollte er sich doch eine kaufen. Vielleicht sollte er in diesen Tempel gehen und diesen Wichsern ihre verdrehten Hirne rauspusten. Vielleicht war er aber auch zu feige.
Jetzt wollte er einfach nur vergessen. Das Synth knallte gut, trotzdem war die Realität noch viel zu nah. Sein trüber Blick blieb an einem eisblauen Schriftzug hängen, schräg gegenüber. Aphelion. Noch so ne dreckige Bar. Aber warum nicht? Er wollte nicht nach Hause. Hatte Angst vor der Stille. Seine Beine zitterten. Schuld und Selbstzweifel trieben ihm Tränen der Wut in die Augen. Er brauchte was zu trinken.
Der Türsteher, eine bullige Gestalt im Tanktop, scannte seine zerschlissene Erscheinung. „Bist auf Synth?“ Ein hässliches Tribal-Tattoo entstellte sein kantiges Gesicht.
„Geht dich nen Scheiß an.“ Red reckte das Kinn vor. Zu gern hätte er eins aufs Maul gekriegt. Aber so viel Glück hatte er nicht.
„Hast Kohle?“
Er kramte in seiner Hosentasche und förderte ein paar Chips zu Tage.
Der Tätowierte nickte nur und winkte ihn durch. Drinnen empfing ihn verdrehter Slowtech-Sound. Tiefe Bässe, übermalt von obszönen Synthiemelodien. Süßer Rauch schwängerte die Luft. Geschäftsmänner hatten sich in schwer einsehbare Nischen verzogen, um ungestört ihre Deals abzuwickeln. An mehreren Stangen tanzten halbnackte Mädchen und Typen. Begafft von Anzugträgern und Punks. Red schleppte sich an die Bar und sank auf einem der blau fluoreszierenden Hocker zusammen.
„Scheiß Tag?“, fragte der Barkeeper. Ein bärtiger Kerl, dessen massige Statur viel zu einschüchternd wirkte, um Leute abzufüllen. Seine Augen blickten jedoch freundlich.
Red zuckte die Achseln. „Scheiß Leben.“
„Hier.“ Der Typ schenkte ihm ein dunkelblaues Gesöff ins Glas. „Tut dir gut.“
Woher weißt du, was mir gut tut? Eigentlich hatte er genug von Flüssigkeiten, bei denen er nicht wusste, was drin war. Aber was soll’s. Mit Todesverachtung kippte er sich das Zeug in die Kehle. Flüssiges feuer fraß sich durch seine Adern. Betäubte seine Gedanken. Okay. Du weißt doch, was mir gut tut. Red hob auffordernd sein leeres Glas.
Fünf Drinks später war er erstaunlich klar im Kopf. So klar, dass er die Vibrationen des Lebens auf jeder Oberfläche sehen konnte. Die schäbige Bar erschien ihm wie ein glitzerndes Paradies voll interessanter Menschen. Träge ließ er seinen Blick durch den düsteren Raum schweifen. Die Tänzer sahen gar nicht so übel aus. Doch seine Aufmerksamkeit glitt davon. Hin zu einem Typen, der allein an einem Tisch saß. Mit einem fast vollen Glas vor sich. Die Finger glitten zärtlich über ein Deck, das viel zu schick für diese Gegend aussah. Transparente Glasfaserkabel hingen wie bizarrer Schmuck über seine schmalen Schultern.
Red bezahlte und stand auf. Schlenderte zu dem Wirehead rüber und betrachtete das androgyne Gesicht, die blassen Lippen. Er hatte blaue Strähnen im kurzen, schwarzen Haar. So unnatürlich blau wie seine Augen, die durch die Wirklichkeit hindurch zu schauen schienen. Red blieb vor ihm stehen, beugte sich runter, um ihn näher zu betrachten. Und erschrak, als der Typ ihn ansprach. „Hi.“
„Sorry. Dachte, du bist online.“
„Bin ich.“
Aha, so ein Synchronding. Wahrscheinlich störte er. Trotzdem setzte er sich einfach neben ihn. Näher, als Fremde es taten. Aber nicht zu nah. „Ich bin Red.“
Sein Gegenüber blinzelte. „Maze.“
Maze strich behutsam über sein Deck, dessen Touchscreen augenblicklich schwarz wurde. Dann zog er sich lässig die Glasfaserschlangen aus dem Kopf und wickelte sie sorgsam auf, ehe er sie ins Innere seiner schwarzen Jacke gleiten ließ. „Siehst ziemlich fertig aus.“ Er lächelte. Irgendwie traurig. „Was willst du vergessen?“
Alles, schoss es Red durch den Kopf. Einfach alles. Er brachte es nicht über sich, das zu sagen. „Beschissener Tag“, meinte er nur. „Könnte etwas Zuwendung vertragen.“ Ein schiefes Grinsen. Zog meistens.
Er beobachtete sein Gegenüber genau. Ließ er ihn abblitzen? Oder spielte er mit? Die Mundwinkel des Wireheads zuckten kurz, ansonsten schien er unbeeindruckt. Hat er kapiert, dass ich ihn angemacht hab? Red spürte Frust in sich aufsteigen. Der Typ war genau die Ablenkung, die er dringend brauchte.
Er wollte schon härtere Geschütze auffahren, als Maze überraschend vorschlug: „Lass uns spazieren gehen.“
Red fand sich in einer einsamen Gasse wieder. Aus einem Müllcontainer ergoss sich Abfall wie Erbrochenes. Die schwüle Nachtluft verfing sich in seinen Haaren und ließ sie schlaff in sein Gesicht hängen. Seine verdammte Lederjacke klebte an ihm wie eine zu dicke Haut. Vielleicht lag es aber auch an Maze, dass er komplett durchgeschwitzt war. Der Typ war sich seiner Ausstrahlung nicht bewusst, was ihn umso anziehender machte. Seine knielange, schwarze Stoffjacke endete in Fetzen, als wäre sie kaputt. Aber war wohl der Style.
Der Nachthimmel über ihnen war nur zu erahnen. Ein sternenloser, tiefgrauer Abgrund. Die Tristesse der Umgebung trieb ihn näher zu Maze, der plötzlich stehen blieb. Sich umdrehte und ihn mit seinen seltsamen Augen betrachtete. Verflucht, war der Kerl heiß. Stand er auf Männer? Stand ein Wirehead überhaupt auf etwas anderes als das kühle Blau des Cyberspace?
Red kam ihm so nah, dass er seinen warmen Atem auf den Lippen schmeckte. Verdammt. Er war jetzt schon hart. „Ich will dich ficken“, flüsterte er. Seine Hände schoben die ausgefranste Jacke auseinander. Er spürte das Knistern bis in die Haarspitzen.
Maze grinste schief. „Ich weiß.“
Zwei Worte, die seinem Hirn einen Schlag versetzten. Ihr Kuss ging sofort in Flammen auf und verbrannte den Synth-Rausch zu kristallklarer Begierde. Red presste ihn gegen eine Hauswand, legte ihn sich zurecht. Massierte seinen harten Schwanz, während er von hinten in ihn drang und ihm seinen Rhythmus aufzwang. Seine Gedanken splitterten. Zerbrachen in seinem Stöhnen, das aus seinem wunden Herzen brach. Unter seinen Fingern fühlte er die berauschende Wärme eines menschlichen Körpers – und etwas Kühles. Silikon. Und Metall. War der Typ überhaupt ein Mensch? Egal.
Red implodierte unter seinem Orgasmus. Hielt sich an Maze fest, der sich an ihn presste und den Kopf nach hinten warf. Sie keuchten, im Gleichklang. Ineinander verschmolzen. Auch dann noch, als sich ihre Körper trennten. Am liebsten hätte er ihn nie mehr losgelassen. Er wollte weiter vergessen. Doch der bittere Schmerz kehrte mit aller Gewalt zurück.
Maze zog seine Hose hoch und kramte nach seinem Kabelsalat. Steckte die Glasfasern wieder in die Buchse an seinem Hinterkopf und gab Red einen Abschiedskuss. Was hast du erwartet?
„Wiederholen wir das?“, fragte er.
Der Wirehead lächelte. Wehmütig. „Wäre besser für dich, wenn nicht.“
Am nächsten Morgen war Red erstaunlich klar im Kopf. Kein Schwindel, der seine Wahrnehmung durcheinanderwürfelte. Keine Übelkeit. Oder unkontrolliertes Zittern. Er wusste nicht mehr, wie er auf seiner Couch gelandet war. Allein. Durch seine Gedanken flackerten Bilder von Maze und seinen künstlichen, seltsam blauen Augen. Auch wenn die halbe Nacht zwischen Neonfunken und Dunkelheit verschwamm, spürte er noch immer das irre Kribbeln unter seiner Haut. Die Begegnung mit dem Wirehead hatte ihm schmerzhaft ins Bewusstsein gerufen, wie einsam er war. Die letzten Wochen war er permanent drauf gewesen. Das Synth hatte seinen Schmerz nicht gelindert. Es hatte ihn nur geblendet, sodass er das Loch in seinem Herzen nicht gesehen hatte. Aber gefühlt. Jede verfluchte Sekunde hatten sich die Scherben durch seine Seele geschnitten.
Red kämpfte sich auf die Beine und ging ins Bad. Lies kaltes Wasser über seine Finger rinnen und presste sich die kalten Hände aufs Gesicht. Ein Blick in den Spiegel zeigte dunkelgraue Augenringe und entsetzlich bleiche Haut. Er war ein verdammtes Wrack. Wenn er sich weiter zudröhnte, hatte er keine Chance auf Rache. Diese Sektenspinner würden ihn erledigen, noch ehe er sich einen Plan zurechtlegen konnte. Es wurde Zeit, dass er den Schmerz hinter sich ließ und diese Wichser bestrafte. Es wurde Zeit, dass er Decans Rat befolgte und sich eine Knarre besorgte.
Red hatte sich schon öfter auf dem Schwarzmarkt herumgetrieben, trotzdem waren ihm die verhüllten Gestalten und zwielichtigen Budenbesitzer unheimlich. Plastikplanen hielten den Regen davon ab, Löcher in die Waren zu fressen. Die meisten verbargen ihre dunklen Geschäfte hinter nachgemachten Designerklamotten oder Technikkram. Vieles davon war brauchbar, aber keiner kam hier her, um sich eine Datenbrille oder ein gefakedtes Asics-Shirt zu kaufen.
Decan hatte ihm die Koordinaten seiner Connection geschickt, sodass Red sich in dem Gassenlabyrinth leicht zurechtfand. Er wurde mehrmals von komischen Typen angequatscht, die ihm Drogen und Raubkopien von brandneuen Games und Pornos andrehen wollten. Auf Sticks oder live in einem ihrer Hinterzimmer. Sein desinteressierter, kühler Blick hielt sie jedoch davon ab, ihn weiter zu nerven.
Das Geschäft des Chinesen lag in einer Sackgasse und war als Asiashop getarnt. Nicht, dass die Securities darauf hereingefallen wären. Aber man versuchte, den Schein zu wahren. Keinen Grund für eine Razzia zu liefern. Dann ließen die Konzerne einen in Ruhe, denn sie profitierten ebenso von den Verbindungen der Schwarzhändler.
Als Red den Laden betrat, schlug ihm der Muff von Soyaprodukten entgegen. Kitschige Katzenfiguren standen zwischen Soßen und Reispackungen. Ein Anime mit glupschäugigen Mädchen in Bikinis flimmerte über einen Bildschirm über der Kasse, wo eine dürre Frau stand und ihre Hände in einen Nageldesigner hielt. Ein kleiner, schwarzer Kasten, der alles konnte. Feilen, Lackieren, Versiegeln, Dekorieren. Liz hatte sich so ein Teil gewünscht. Und er hatte gedacht, dass die Welt wegen so einem Scheiß zugrunde ging.
„Ich will zu Ming“, verkündete Red.
Die Frau schaute nicht einmal auf. Dafür erschien ein Chinese in bunter Hologrammhose neben ihm und sagte schroff: „Nie gehört.“
Ja klar. „Decan hat dich empfohlen.“
Die Augen des Chinesen wurden freundlicher. „Ah, Decan bringt gute Kundschaft. Immer. Komm mit.“ Der Name seines Kumpels hatte scheinbar Gewicht. Was für krumme Dinger drehten die beiden zusammen?
Ming führte ihn in einen biometrisch gesicherten Kellerraum. Die Wände gesäumt von Panzerschränken, die sich mit einem leisen Klacken öffneten und ein irrsinniges Arsenal an paramilitärischem Spielzeug bereithielten.
„Was brauchst du?“, fragte Ming geschäftig.
Red sah sich um und bemühte sich, nicht allzu beeindruckt zu wirken. Sonst würde der Typ ihn knallhart abzocken. Kurz überlegte er, sich eine fette Laserknarre zu kaufen, besann sich dann aber. „Was Handliches, leicht zu bedienen, leicht zu verstecken, möglichst hohe Durchschlagskraft.“
Ming griff sich zielsicher eine eher unscheinbare Handfeuerwaffe und hielt sie ihm hin. „Hier. Desert Eagle LV, Standardmodell israelisches Militär. Single Action. Mit Zusatzfunktionen, kannste Drohnen vom Himmel ballern und Verfolgern den Schädel vom Hals. Spezialummantelung, wird von den meisten Scannern nicht erkannt. Kannste mit in den Kern nehmen, falls du da hin willst.“ Red nahm die Waffe probeweise an sich. Ming grinste. „Liegt gut in der Hand, ja?“ Verdammt gut. „Biometrisches System“, ergänzte der Chinese, „entsichert nur, wenn du sie hältst. Programmierung mach ich kostenlos. Für Decans Freund.“ Er grinste und entblößte dabei seine stumpfen, gelben Zähne.
„Danke man. Die ist perfekt.“ Der Hacker hatte nicht übertrieben. Der Chinese wusste genau, was seine Kunden glücklich machte.
Die Desert Eagle gab Red das Gefühl, voranzukommen. Ihm war bewusst, dass er mit der Waffe nicht viel ausrichten konnte, dennoch fühlte er sich stärker. Der nächste Schritt: Verbündete suchen. Allein würde er nicht weit kommen. Er wollte nicht nur einen dieser beschissenen Tempel stürmen und Amok laufen. Nein, er wollte mehr. Einen der Köpfe dieser kranken Sekte erwischen. Die Wahrheit über Liz‘ Schicksal erfahren. Und dann ihre verfickte neue Wirklichkeit zertrümmern.
Er beschloss, Decan einen Besuch abzustatten. Er schuldete ihm ohnehin eine Erklärung für sein Abtauchen. Sie kannten sich noch aus der Schule und eigentlich kümmerte es den Hacker wenig, wenn Red sich tage- und wochenlang nicht meldete. Doch diesmal hatte er ihm täglich Nachrichten geschickt. Red hatte sie alle ignoriert. Seinem alten Kumpel zu erzählen, was passiert war, hätte alles nur real gemacht. Aber es wurde Zeit, dass er sich der Realität stellte.
Decan hatte mit seinen virtuellen Jobs kräftig Kohle gescheffelt. Besaß ein eigenes Loft. In einem Wohnturm, der den Betonwall überragte. Von seiner Dachterrasse aus konnte man das Leuchten des Kerns sehen, doch der Hacker hatte nichts dafür übrig. Er saß den ganzen Tag in seiner Bude, das Bewusstsein im Cyberspace verloren. Für Decan war das tiefe, kühle Blau realer als das Grau des Himmels oder das Neonfunkeln einer besseren Welt.
Als Red den in kaltes Licht getauchten Flur betrat, kam ihm der Aufzug bereits entgegen. Der Hacker hatte ihn wahrscheinlich schon gesehen, als er die Straße entlang gegangen war. Angeblich hatte er Zugriff auf das Kamerasystem des ganzen Viertels. Als die Fahrstuhltüren auseinanderglitten, erwartete Decan ihn in zerrissener Jeans und engem T-Shirt. War gut in Form, dafür, dass er fast permanent online war. Sein Haar war immer noch platinblond mit schwarzen Stoppeln an den Seiten. Wie damals, als Red oft bei ihm gepennt hatte.
„Du siehst scheiße aus“, stellte Decan fest.
„Liz ist tot.“
„Oh fuck.“
Red hatte es zum ersten Mal laut ausgesprochen. Seine Schwester war tot. Sein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Tränen schossen ihm in die Augen. Er versuchte sie wegzuzwinkern, doch als sein Freund langsam näher trat und ihn wortlos in seine Arme zog, begann er haltlos zu schluchzen. Scheiße. Er wollte mit dem Hacker in den Krieg ziehen. Und nicht vor ihm zusammenbrechen.
„Tut mir leid“, flüsterte Decan. Er hielt Red fest, strich ihm sanft über den Rücken. Gab ihm Zeit, sich zu beruhigen. Die Trauer wütete in ihm, ließ seinen Körper beben. Red hatte das Gefühl, zu implodieren und ließ los. Heulte hemmungslos in den Armen seines einzigen Freundes. Tat gut, sich gehen zu lassen. Nur für einen Moment. Einen kleinen, vergänglichen Moment der Schwäche.
Irgendwann ließ das Schluchzen nach und Red holte tief Luft. Er wischte sich mit dem Ärmel seiner Lederjacke grob die Tränen aus dem Gesicht und verkündete: „Ich brauch deine Hilfe.“
Decan hatte keine Stühle, auch kein Sofa oder irgendeine andere Sitzgelegenheit außer seinem Futon. Also nahmen sie darauf Platz. Während der Hacker ihnen was zu Trinken holte, schaute Red sich um. Hatte sich nicht viel verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Eine Wand war mit Bildschirmen zugeklebt, die Livebilder diverser Kameras zeigten oder Programmfenster voller Codefragmente, die für Red keinen Sinn ergaben. Kabel wanden sich wie Schlangen über die alten Holzdielen. Decan mochte das Gefühl unter seinen nackten Füßen. Auch jetzt war er barfuß.
„Willst du Tranquilizer?“, fragte der Hacker von der offenen Küche aus.
„Nein. Hab mich lang genug weggeschossen.“
„Also Wasser.“
Als sein Kumpel ihm das vor Kälte beschlagene Glas gab, drückte Red es sich kurz an die Stirn, ehe er viel zu schnell trank. Seine Kehle schmerzte. Er musste husten und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen wieder wirklich wach. Gedankenverloren starrte er auf die Tropfen Kondenswasser, die über die strukturierte Oberfläche des Glases perlten. Fühlte die Nässe auf seiner Hand. Decan saß stumm neben ihm und wartete geduldig, bis Red bereit war, ihm alles zu erzählen. Eben noch hatte der Gedanke an Liz‘ Tod ihm den Brustkorb zerdrückt, doch als er nun begann, zu sprechen, war es, als hätte die ganze Geschichte nichts mit ihm zu tun. Eine gnädige Distanz erfasste seine Worte und als er endete, schwiegen sie gemeinsam.
„Was für eine üble Scheiße“, sagte Decan irgendwann. „Was willst du jetzt tun?“
„Keine Ahnung. Aber sie müssen dafür bezahlen.“
„Und da komme ich ins Spiel?“
Red sah seinen alten Kumpel an. Die Zweifel in seinen Augen ließen ihn fremd erscheinen. Er war doch sonst für jeden Mist zu haben. „Ich brauch jemanden mit deinen Skills.“
„Fuck.“ Decan massierte sich den Nacken. „Du hast keine Ahnung, wie mächtig Alterreal ist. Ich versteh dich absolut, du weißt, dass ich das tue. Aber ich kann dir nur raten: Lass es. Die machen dich fertig.“
Verdammt. Das war nicht das, was Red hören wollte. „Hast du Schiss?“
„Ja. Ich will nicht, dass du draufgehst.“ Decan legte ihm den Arm um die Schulter. „Du kannst Liz nicht zurückholen, indem du dein Leben wegschmeißt.“
Red fühlte sich zerschlagen. „Ich weiß, dass ich sie nicht zurückholen kann.“
Sein Kumpel fuhr ihm sanft durchs Haar. „Dann lass los.“ Er drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Nichts für ungut, aber du siehst echt beschissen aus. Du musst erstmal auf die Beine kommen. Dich um dich selbst kümmern. Liz hätte das gewollt.“
Decan hatte Recht. Aber Red konnte nicht akzeptieren, dass diese Arschlöcher ohne Strafe davonkamen. Trotzdem versprach er seinem Freund, erstmal nichts zu unternehmen. Er hatte kapiert, dass der Hacker ihm nicht helfen wollte. Weil es blanker Wahnsinn war, Alterreal den Krieg zu erklären. Red hatte gesehen, wozu die Sekte fähig war. Dass sie keine Skrupel kannte, sondern nur die Gier nach Macht und Geld. Ein Punk aus dem Sprawl war chancenlos. Trotzdem musste er es versuchen.
Er verkaufte weiterhin Synth, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Sogar den Junkies fiel auf, dass sein Herz zertrümmert war, aber es war ihnen egal. Tagsüber erfüllte ihn eine gnädige Taubheit, während er durch die Straßen zog. Abends kam der Schmerz und fraß ihn auf. Der Wahnsinn kratzte an der Innenseite seines Schädels und Red ertappte sich dabei, wie er immer öfter Synthkristalle dippte und auf seiner Zunge schmelzen ließ. Und du hast geglaubt, du hättest das hinter dir.
Die Nächte verwischten im Rausch zu Neonflackern. Meistens erinnerte er sich nicht, wann er wo gewesen war. Manchmal schlug er mit den Fäusten gegen die Betonmauer, die den leuchtenden Kern vom grauen Sprawl trennte. Solange, bis das Blut seine Finger taub machte. Oder er prügelte sich mit irgendwelchen Gossenpunks. Die suchten immer Stress. Meistens lag er aber einfach nur in seiner Bude, starrte an die Decke und betrachtete die bunten Lichter von der Straße, die auf Synth lebendig wurden und ihm finstere Geschichten erzählten. Er lauschte der Stimme in seinem Kopf, die immer zu brüllte: Du. Bist. Schuld.
Alterreal hat sie umgebracht. Der Gedanke verbiss sich in seinem zugedröhnten Schädel. Red lehnte an dem feuchten Beton zwischen zwei grell erleuchteten Schaufenstern. Links von ihm eine irrwitzige Vielfalt an Silikondildos, die träge auf kleinen Glaspodesten rotierten. Rechts ein Survival-Shop mit einem krassen Messerbouquet in der Auslage. Umrahmt von netten Knarren. Vielleicht sollte er sich doch eine kaufen. Vielleicht sollte er in diesen Tempel gehen und diesen Wichsern ihre verdrehten Hirne rauspusten. Vielleicht war er aber auch zu feige.
Jetzt wollte er einfach nur vergessen. Das Synth knallte gut, trotzdem war die Realität noch viel zu nah. Sein trüber Blick blieb an einem eisblauen Schriftzug hängen, schräg gegenüber. Aphelion. Noch so ne dreckige Bar. Aber warum nicht? Er wollte nicht nach Hause. Hatte Angst vor der Stille. Seine Beine zitterten. Schuld und Selbstzweifel trieben ihm Tränen der Wut in die Augen. Er brauchte was zu trinken.
Der Türsteher, eine bullige Gestalt im Tanktop, scannte seine zerschlissene Erscheinung. „Bist auf Synth?“ Ein hässliches Tribal-Tattoo entstellte sein kantiges Gesicht.
„Geht dich nen Scheiß an.“ Red reckte das Kinn vor. Zu gern hätte er eins aufs Maul gekriegt. Aber so viel Glück hatte er nicht.
„Hast Kohle?“
Er kramte in seiner Hosentasche und förderte ein paar Chips zu Tage.
Der Tätowierte nickte nur und winkte ihn durch. Drinnen empfing ihn verdrehter Slowtech-Sound. Tiefe Bässe, übermalt von obszönen Synthiemelodien. Süßer Rauch schwängerte die Luft. Geschäftsmänner hatten sich in schwer einsehbare Nischen verzogen, um ungestört ihre Deals abzuwickeln. An mehreren Stangen tanzten halbnackte Mädchen und Typen. Begafft von Anzugträgern und Punks. Red schleppte sich an die Bar und sank auf einem der blau fluoreszierenden Hocker zusammen.
„Scheiß Tag?“, fragte der Barkeeper. Ein bärtiger Kerl, dessen massige Statur viel zu einschüchternd wirkte, um Leute abzufüllen. Seine Augen blickten jedoch freundlich.
Red zuckte die Achseln. „Scheiß Leben.“
„Hier.“ Der Typ schenkte ihm ein dunkelblaues Gesöff ins Glas. „Tut dir gut.“
Woher weißt du, was mir gut tut? Eigentlich hatte er genug von Flüssigkeiten, bei denen er nicht wusste, was drin war. Aber was soll’s. Mit Todesverachtung kippte er sich das Zeug in die Kehle. Flüssiges feuer fraß sich durch seine Adern. Betäubte seine Gedanken. Okay. Du weißt doch, was mir gut tut. Red hob auffordernd sein leeres Glas.
Fünf Drinks später war er erstaunlich klar im Kopf. So klar, dass er die Vibrationen des Lebens auf jeder Oberfläche sehen konnte. Die schäbige Bar erschien ihm wie ein glitzerndes Paradies voll interessanter Menschen. Träge ließ er seinen Blick durch den düsteren Raum schweifen. Die Tänzer sahen gar nicht so übel aus. Doch seine Aufmerksamkeit glitt davon. Hin zu einem Typen, der allein an einem Tisch saß. Mit einem fast vollen Glas vor sich. Die Finger glitten zärtlich über ein Deck, das viel zu schick für diese Gegend aussah. Transparente Glasfaserkabel hingen wie bizarrer Schmuck über seine schmalen Schultern.
Red bezahlte und stand auf. Schlenderte zu dem Wirehead rüber und betrachtete das androgyne Gesicht, die blassen Lippen. Er hatte blaue Strähnen im kurzen, schwarzen Haar. So unnatürlich blau wie seine Augen, die durch die Wirklichkeit hindurch zu schauen schienen. Red blieb vor ihm stehen, beugte sich runter, um ihn näher zu betrachten. Und erschrak, als der Typ ihn ansprach. „Hi.“
„Sorry. Dachte, du bist online.“
„Bin ich.“
Aha, so ein Synchronding. Wahrscheinlich störte er. Trotzdem setzte er sich einfach neben ihn. Näher, als Fremde es taten. Aber nicht zu nah. „Ich bin Red.“
Sein Gegenüber blinzelte. „Maze.“
Maze strich behutsam über sein Deck, dessen Touchscreen augenblicklich schwarz wurde. Dann zog er sich lässig die Glasfaserschlangen aus dem Kopf und wickelte sie sorgsam auf, ehe er sie ins Innere seiner schwarzen Jacke gleiten ließ. „Siehst ziemlich fertig aus.“ Er lächelte. Irgendwie traurig. „Was willst du vergessen?“
Alles, schoss es Red durch den Kopf. Einfach alles. Er brachte es nicht über sich, das zu sagen. „Beschissener Tag“, meinte er nur. „Könnte etwas Zuwendung vertragen.“ Ein schiefes Grinsen. Zog meistens.
Er beobachtete sein Gegenüber genau. Ließ er ihn abblitzen? Oder spielte er mit? Die Mundwinkel des Wireheads zuckten kurz, ansonsten schien er unbeeindruckt. Hat er kapiert, dass ich ihn angemacht hab? Red spürte Frust in sich aufsteigen. Der Typ war genau die Ablenkung, die er dringend brauchte.
Er wollte schon härtere Geschütze auffahren, als Maze überraschend vorschlug: „Lass uns spazieren gehen.“
Red fand sich in einer einsamen Gasse wieder. Aus einem Müllcontainer ergoss sich Abfall wie Erbrochenes. Die schwüle Nachtluft verfing sich in seinen Haaren und ließ sie schlaff in sein Gesicht hängen. Seine verdammte Lederjacke klebte an ihm wie eine zu dicke Haut. Vielleicht lag es aber auch an Maze, dass er komplett durchgeschwitzt war. Der Typ war sich seiner Ausstrahlung nicht bewusst, was ihn umso anziehender machte. Seine knielange, schwarze Stoffjacke endete in Fetzen, als wäre sie kaputt. Aber war wohl der Style.
Der Nachthimmel über ihnen war nur zu erahnen. Ein sternenloser, tiefgrauer Abgrund. Die Tristesse der Umgebung trieb ihn näher zu Maze, der plötzlich stehen blieb. Sich umdrehte und ihn mit seinen seltsamen Augen betrachtete. Verflucht, war der Kerl heiß. Stand er auf Männer? Stand ein Wirehead überhaupt auf etwas anderes als das kühle Blau des Cyberspace?
Red kam ihm so nah, dass er seinen warmen Atem auf den Lippen schmeckte. Verdammt. Er war jetzt schon hart. „Ich will dich ficken“, flüsterte er. Seine Hände schoben die ausgefranste Jacke auseinander. Er spürte das Knistern bis in die Haarspitzen.
Maze grinste schief. „Ich weiß.“
Zwei Worte, die seinem Hirn einen Schlag versetzten. Ihr Kuss ging sofort in Flammen auf und verbrannte den Synth-Rausch zu kristallklarer Begierde. Red presste ihn gegen eine Hauswand, legte ihn sich zurecht. Massierte seinen harten Schwanz, während er von hinten in ihn drang und ihm seinen Rhythmus aufzwang. Seine Gedanken splitterten. Zerbrachen in seinem Stöhnen, das aus seinem wunden Herzen brach. Unter seinen Fingern fühlte er die berauschende Wärme eines menschlichen Körpers – und etwas Kühles. Silikon. Und Metall. War der Typ überhaupt ein Mensch? Egal.
Red implodierte unter seinem Orgasmus. Hielt sich an Maze fest, der sich an ihn presste und den Kopf nach hinten warf. Sie keuchten, im Gleichklang. Ineinander verschmolzen. Auch dann noch, als sich ihre Körper trennten. Am liebsten hätte er ihn nie mehr losgelassen. Er wollte weiter vergessen. Doch der bittere Schmerz kehrte mit aller Gewalt zurück.
Maze zog seine Hose hoch und kramte nach seinem Kabelsalat. Steckte die Glasfasern wieder in die Buchse an seinem Hinterkopf und gab Red einen Abschiedskuss. Was hast du erwartet?
„Wiederholen wir das?“, fragte er.
Der Wirehead lächelte. Wehmütig. „Wäre besser für dich, wenn nicht.“
Am nächsten Morgen war Red erstaunlich klar im Kopf. Kein Schwindel, der seine Wahrnehmung durcheinanderwürfelte. Keine Übelkeit. Oder unkontrolliertes Zittern. Er wusste nicht mehr, wie er auf seiner Couch gelandet war. Allein. Durch seine Gedanken flackerten Bilder von Maze und seinen künstlichen, seltsam blauen Augen. Auch wenn die halbe Nacht zwischen Neonfunken und Dunkelheit verschwamm, spürte er noch immer das irre Kribbeln unter seiner Haut. Die Begegnung mit dem Wirehead hatte ihm schmerzhaft ins Bewusstsein gerufen, wie einsam er war. Die letzten Wochen war er permanent drauf gewesen. Das Synth hatte seinen Schmerz nicht gelindert. Es hatte ihn nur geblendet, sodass er das Loch in seinem Herzen nicht gesehen hatte. Aber gefühlt. Jede verfluchte Sekunde hatten sich die Scherben durch seine Seele geschnitten.
Red kämpfte sich auf die Beine und ging ins Bad. Lies kaltes Wasser über seine Finger rinnen und presste sich die kalten Hände aufs Gesicht. Ein Blick in den Spiegel zeigte dunkelgraue Augenringe und entsetzlich bleiche Haut. Er war ein verdammtes Wrack. Wenn er sich weiter zudröhnte, hatte er keine Chance auf Rache. Diese Sektenspinner würden ihn erledigen, noch ehe er sich einen Plan zurechtlegen konnte. Es wurde Zeit, dass er den Schmerz hinter sich ließ und diese Wichser bestrafte. Es wurde Zeit, dass er Decans Rat befolgte und sich eine Knarre besorgte.
Red hatte sich schon öfter auf dem Schwarzmarkt herumgetrieben, trotzdem waren ihm die verhüllten Gestalten und zwielichtigen Budenbesitzer unheimlich. Plastikplanen hielten den Regen davon ab, Löcher in die Waren zu fressen. Die meisten verbargen ihre dunklen Geschäfte hinter nachgemachten Designerklamotten oder Technikkram. Vieles davon war brauchbar, aber keiner kam hier her, um sich eine Datenbrille oder ein gefakedtes Asics-Shirt zu kaufen.
Decan hatte ihm die Koordinaten seiner Connection geschickt, sodass Red sich in dem Gassenlabyrinth leicht zurechtfand. Er wurde mehrmals von komischen Typen angequatscht, die ihm Drogen und Raubkopien von brandneuen Games und Pornos andrehen wollten. Auf Sticks oder live in einem ihrer Hinterzimmer. Sein desinteressierter, kühler Blick hielt sie jedoch davon ab, ihn weiter zu nerven.
Das Geschäft des Chinesen lag in einer Sackgasse und war als Asiashop getarnt. Nicht, dass die Securities darauf hereingefallen wären. Aber man versuchte, den Schein zu wahren. Keinen Grund für eine Razzia zu liefern. Dann ließen die Konzerne einen in Ruhe, denn sie profitierten ebenso von den Verbindungen der Schwarzhändler.
Als Red den Laden betrat, schlug ihm der Muff von Soyaprodukten entgegen. Kitschige Katzenfiguren standen zwischen Soßen und Reispackungen. Ein Anime mit glupschäugigen Mädchen in Bikinis flimmerte über einen Bildschirm über der Kasse, wo eine dürre Frau stand und ihre Hände in einen Nageldesigner hielt. Ein kleiner, schwarzer Kasten, der alles konnte. Feilen, Lackieren, Versiegeln, Dekorieren. Liz hatte sich so ein Teil gewünscht. Und er hatte gedacht, dass die Welt wegen so einem Scheiß zugrunde ging.
„Ich will zu Ming“, verkündete Red.
Die Frau schaute nicht einmal auf. Dafür erschien ein Chinese in bunter Hologrammhose neben ihm und sagte schroff: „Nie gehört.“
Ja klar. „Decan hat dich empfohlen.“
Die Augen des Chinesen wurden freundlicher. „Ah, Decan bringt gute Kundschaft. Immer. Komm mit.“ Der Name seines Kumpels hatte scheinbar Gewicht. Was für krumme Dinger drehten die beiden zusammen?
Ming führte ihn in einen biometrisch gesicherten Kellerraum. Die Wände gesäumt von Panzerschränken, die sich mit einem leisen Klacken öffneten und ein irrsinniges Arsenal an paramilitärischem Spielzeug bereithielten.
„Was brauchst du?“, fragte Ming geschäftig.
Red sah sich um und bemühte sich, nicht allzu beeindruckt zu wirken. Sonst würde der Typ ihn knallhart abzocken. Kurz überlegte er, sich eine fette Laserknarre zu kaufen, besann sich dann aber. „Was Handliches, leicht zu bedienen, leicht zu verstecken, möglichst hohe Durchschlagskraft.“
Ming griff sich zielsicher eine eher unscheinbare Handfeuerwaffe und hielt sie ihm hin. „Hier. Desert Eagle LV, Standardmodell israelisches Militär. Single Action. Mit Zusatzfunktionen, kannste Drohnen vom Himmel ballern und Verfolgern den Schädel vom Hals. Spezialummantelung, wird von den meisten Scannern nicht erkannt. Kannste mit in den Kern nehmen, falls du da hin willst.“ Red nahm die Waffe probeweise an sich. Ming grinste. „Liegt gut in der Hand, ja?“ Verdammt gut. „Biometrisches System“, ergänzte der Chinese, „entsichert nur, wenn du sie hältst. Programmierung mach ich kostenlos. Für Decans Freund.“ Er grinste und entblößte dabei seine stumpfen, gelben Zähne.
„Danke man. Die ist perfekt.“ Der Hacker hatte nicht übertrieben. Der Chinese wusste genau, was seine Kunden glücklich machte.
Die Desert Eagle gab Red das Gefühl, voranzukommen. Ihm war bewusst, dass er mit der Waffe nicht viel ausrichten konnte, dennoch fühlte er sich stärker. Der nächste Schritt: Verbündete suchen. Allein würde er nicht weit kommen. Er wollte nicht nur einen dieser beschissenen Tempel stürmen und Amok laufen. Nein, er wollte mehr. Einen der Köpfe dieser kranken Sekte erwischen. Die Wahrheit über Liz‘ Schicksal erfahren. Und dann ihre verfickte neue Wirklichkeit zertrümmern.
Er beschloss, Decan einen Besuch abzustatten. Er schuldete ihm ohnehin eine Erklärung für sein Abtauchen. Sie kannten sich noch aus der Schule und eigentlich kümmerte es den Hacker wenig, wenn Red sich tage- und wochenlang nicht meldete. Doch diesmal hatte er ihm täglich Nachrichten geschickt. Red hatte sie alle ignoriert. Seinem alten Kumpel zu erzählen, was passiert war, hätte alles nur real gemacht. Aber es wurde Zeit, dass er sich der Realität stellte.
Decan hatte mit seinen virtuellen Jobs kräftig Kohle gescheffelt. Besaß ein eigenes Loft. In einem Wohnturm, der den Betonwall überragte. Von seiner Dachterrasse aus konnte man das Leuchten des Kerns sehen, doch der Hacker hatte nichts dafür übrig. Er saß den ganzen Tag in seiner Bude, das Bewusstsein im Cyberspace verloren. Für Decan war das tiefe, kühle Blau realer als das Grau des Himmels oder das Neonfunkeln einer besseren Welt.
Als Red den in kaltes Licht getauchten Flur betrat, kam ihm der Aufzug bereits entgegen. Der Hacker hatte ihn wahrscheinlich schon gesehen, als er die Straße entlang gegangen war. Angeblich hatte er Zugriff auf das Kamerasystem des ganzen Viertels. Als die Fahrstuhltüren auseinanderglitten, erwartete Decan ihn in zerrissener Jeans und engem T-Shirt. War gut in Form, dafür, dass er fast permanent online war. Sein Haar war immer noch platinblond mit schwarzen Stoppeln an den Seiten. Wie damals, als Red oft bei ihm gepennt hatte.
„Du siehst scheiße aus“, stellte Decan fest.
„Liz ist tot.“
„Oh fuck.“
Red hatte es zum ersten Mal laut ausgesprochen. Seine Schwester war tot. Sein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Tränen schossen ihm in die Augen. Er versuchte sie wegzuzwinkern, doch als sein Freund langsam näher trat und ihn wortlos in seine Arme zog, begann er haltlos zu schluchzen. Scheiße. Er wollte mit dem Hacker in den Krieg ziehen. Und nicht vor ihm zusammenbrechen.
„Tut mir leid“, flüsterte Decan. Er hielt Red fest, strich ihm sanft über den Rücken. Gab ihm Zeit, sich zu beruhigen. Die Trauer wütete in ihm, ließ seinen Körper beben. Red hatte das Gefühl, zu implodieren und ließ los. Heulte hemmungslos in den Armen seines einzigen Freundes. Tat gut, sich gehen zu lassen. Nur für einen Moment. Einen kleinen, vergänglichen Moment der Schwäche.
Irgendwann ließ das Schluchzen nach und Red holte tief Luft. Er wischte sich mit dem Ärmel seiner Lederjacke grob die Tränen aus dem Gesicht und verkündete: „Ich brauch deine Hilfe.“
Decan hatte keine Stühle, auch kein Sofa oder irgendeine andere Sitzgelegenheit außer seinem Futon. Also nahmen sie darauf Platz. Während der Hacker ihnen was zu Trinken holte, schaute Red sich um. Hatte sich nicht viel verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Eine Wand war mit Bildschirmen zugeklebt, die Livebilder diverser Kameras zeigten oder Programmfenster voller Codefragmente, die für Red keinen Sinn ergaben. Kabel wanden sich wie Schlangen über die alten Holzdielen. Decan mochte das Gefühl unter seinen nackten Füßen. Auch jetzt war er barfuß.
„Willst du Tranquilizer?“, fragte der Hacker von der offenen Küche aus.
„Nein. Hab mich lang genug weggeschossen.“
„Also Wasser.“
Als sein Kumpel ihm das vor Kälte beschlagene Glas gab, drückte Red es sich kurz an die Stirn, ehe er viel zu schnell trank. Seine Kehle schmerzte. Er musste husten und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen wieder wirklich wach. Gedankenverloren starrte er auf die Tropfen Kondenswasser, die über die strukturierte Oberfläche des Glases perlten. Fühlte die Nässe auf seiner Hand. Decan saß stumm neben ihm und wartete geduldig, bis Red bereit war, ihm alles zu erzählen. Eben noch hatte der Gedanke an Liz‘ Tod ihm den Brustkorb zerdrückt, doch als er nun begann, zu sprechen, war es, als hätte die ganze Geschichte nichts mit ihm zu tun. Eine gnädige Distanz erfasste seine Worte und als er endete, schwiegen sie gemeinsam.
„Was für eine üble Scheiße“, sagte Decan irgendwann. „Was willst du jetzt tun?“
„Keine Ahnung. Aber sie müssen dafür bezahlen.“
„Und da komme ich ins Spiel?“
Red sah seinen alten Kumpel an. Die Zweifel in seinen Augen ließen ihn fremd erscheinen. Er war doch sonst für jeden Mist zu haben. „Ich brauch jemanden mit deinen Skills.“
„Fuck.“ Decan massierte sich den Nacken. „Du hast keine Ahnung, wie mächtig Alterreal ist. Ich versteh dich absolut, du weißt, dass ich das tue. Aber ich kann dir nur raten: Lass es. Die machen dich fertig.“
Verdammt. Das war nicht das, was Red hören wollte. „Hast du Schiss?“
„Ja. Ich will nicht, dass du draufgehst.“ Decan legte ihm den Arm um die Schulter. „Du kannst Liz nicht zurückholen, indem du dein Leben wegschmeißt.“
Red fühlte sich zerschlagen. „Ich weiß, dass ich sie nicht zurückholen kann.“
Sein Kumpel fuhr ihm sanft durchs Haar. „Dann lass los.“ Er drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Nichts für ungut, aber du siehst echt beschissen aus. Du musst erstmal auf die Beine kommen. Dich um dich selbst kümmern. Liz hätte das gewollt.“
Decan hatte Recht. Aber Red konnte nicht akzeptieren, dass diese Arschlöcher ohne Strafe davonkamen. Trotzdem versprach er seinem Freund, erstmal nichts zu unternehmen. Er hatte kapiert, dass der Hacker ihm nicht helfen wollte. Weil es blanker Wahnsinn war, Alterreal den Krieg zu erklären. Red hatte gesehen, wozu die Sekte fähig war. Dass sie keine Skrupel kannte, sondern nur die Gier nach Macht und Geld. Ein Punk aus dem Sprawl war chancenlos. Trotzdem musste er es versuchen.
“Die Farben sind der Ort, wo unser Gehirn und das Universum sich begegnen.” (Paul Cézanne)