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An einem Tag stand Dagmar neben mir, die eloquente runde Grazerin. Ihr war wieder langweilig, also suchte sie ein Gespräch. Ich hörte von ihren Urlaubsplänen, von Prag, sie sprach sehr schnell und fast ununterbrochen. Mir gegenüber war Dagmar stets freundlich und nett, schon an einem meiner ersten Tage im Museum ließ sie mich wissen, mir würde man den Ausländer kaum ansehen, was von großem Vorteil für einen Menschen in meiner Situation sei. Sie war damals verärgert worden, denn am Vormittag hatte die neue Putzfrau aus Bosnien sie gefragt, ob sie vielleicht schwanger sei. Dabei hatte die Putzfrau sogar ihren Bauch berührt. „Es gibt Ausländer“, hatte damals Dagmar zu mir gesagt, „die sich in Österreich niemals integrieren werden“. Draußen war es noch angenehm warm, als ich heimwärts ging, ich war müde vom Dienst und freute mich schon auf mein Bett. Im Flur überraschte mich Popmusik, die aus Bernadettes offenem Zimmer plärrte. Auch die Badezimmertür stand weit offen, auf dem Flurboden lag Schatten, vor der Waschmaschine bunte Wäsche. Noch bevor ich in die Küche kam, hörte ich, dass Bernadette telefonierte. Sie stand vor dem Tisch und sprach über den Augarten, den sie durch das geschlossene Fenster beobachtete. Etwas von Arbeitslosen und Kriminellen vernahm ich. Sie bemerkte mich erst, als ich meine Zimmertür öffnete. Nervös erwiderte sie meinen Gruß und beendete das Gespräch. Im gleichen Atemzug sagte sie, sie würde mir gern das Geld für die Miete und für das Telefon geben. Und fort war sie, nur ihr Parfüm schwebte in der Luft. Ebenso schnell kehrte sie zurück, überreichte mir ein Kuvert und ließ mich wissen, von ihren Spaghetti werde mindestens die Hälfte übrig bleiben. „Ich kann mir vorstellen, wie schwer diese Zeit für dich sein muss“, sagte ich, und sie sah mich verwundert an. Bevor ich die Tür schloss, bemerkte ich noch, sie möge sich hier wie zuhause fühlen. Als ich im Bett lag und über einen eventuellen Urlaub grübelte, kam mir die Erinnerung an meine erste Auslandsreise, mit der mein großes Geheimnis verbunden war. Die Reise nach Kroatien erstand ich mir auf einem Prager Platz, in einer sehr langen Schlange. Und als ich einige Wochen später in den Bus stieg, wusste ich: Dies war einer der wichtigsten Augenblicke meines Lebens. Niemals zuvor hatte ich Prag so genau angesehen, aus diesen letzten Minuten blieben einige Stadtteile in ganz scharfen Bildern in meinem Gedächtnis archiviert. Nachdem der Bus endlich die Staatsgrenze passiert hatte, schlief ich ein. Er fuhr über Ungarn, die Reise dauerte sehr lange, sodass ich kurz vor dem Ziel beinahe wieder in Schlaf sank. Der erste Anblick der Adria rief in mir einen Strom gemischter Empfindungen hervor; endlich war ich in der Fremde angelangt, und dennoch überkam mich plötzlich Angst. Von großer Nervosität ergriffen, konnte ich in den nächsten drei Tagen das Meer kaum genießen, und schließlich verließ ich die Reisegruppe früher, als ich ursprünglich geplant hatte. Am Abend nahm ich in einem kleinen Ort unweit der Grenze Unterkunft, und am frühen Morgen setzte ich meine Flucht weiter fort. Wunderschön war der üppig wuchernde Wald, ich ging fast lautlos, schnell und ohne Anhalt. Der Weg aber war schwieriger, als ich angenommen hatte, die Hitze enorm, ich hatte weder etwas zu essen noch zu trinken bei mir. Als ich die österreichische Grenze erreichte, stürmte ich los. Wild, wie von Sinnen, rannte ich, soweit ich konnte. Der gut gekleidete Mann, der mich mit seinem prächtigen Wagen zum Zug brachte, besaß den Humor und die Freundlichkeit eines sorglosen Menschen. Die Nacht überstand ich nahe dem Wiener Südbahnhof, getaucht in eine klare Dunkelheit voller neuer glanzvoller Lichter, und als ich in Traiskirchen das Flüchtlingslager betrat, hörte ich wieder die alte Sprache - meine Muttersprache.
S. 31-33
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