Leseprobe:
David wollte ihr eine Katze schenken, damit sie Gesellschaft hat und jemand, mit dem sie reden kann. Warum sollte sie mit einer Katze reden, aber nicht mit sich selbst? Außerdem will sie keine Verantwortung für ein Tier übernehmen. David. Das ist es. Sie ruft ihn an und er geht nach dem zweiten Läuten dran.
– Sinas Mann ist verschwunden.
– Guten Morgen, Oma.
– Oh. Entschuldigung, guten Morgen, lieber David. Ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt.
– Es ist halb zehn. Ich bin kein Student mehr.
– Du hast ... du kannst dir deine Zeit einteilen, meine ich.
– Du meinst, ich habe keinen richtigen Job.
– Nein, das natürlich nicht. Ich weiß, dass du hart arbeitest. Ich wünschte nur, ich dürfte dir helfen.
– Ich will nicht zum Fernsehen, nur weil Opa dort war.
– Ich verstehe das schon. Sicher. Und jetzt gehst du ohnehin nach Brüssel. Du hast immer schon sehr gut reden können. Aber ich weiß nicht, ob ich es gut finden soll, wenn du Politiker wirst.
– Ich bin dort als Praktikant. Bei einem Parlamentarier. Ich werde nicht Politiker, das kann ich dir versprechen. Ich will Journalist sein, nur eben nicht so wie Opa. Brüssel ist gut, um Kontakte zu knüpfen. Frau Klein kichert.
– Lobbyist in eigener Sache?
– Sozusagen. Man sollte Oma nie unterschätzen, denkt er.
Sie weiß viel mehr, als es den Anschein hat. Eine kleine, zarte, alte Frau. Aber mit einem wachen Verstand. Nur manchmal irritierend ausufernd. – Sina. Du hast etwas von Sina gesagt.
– Du bist doch noch nicht ganz wach, oder?
David streckt sich und sieht auf das Glas mit Chiliflocken. Cem hat vor ihm gefrühstückt. Dass es Menschen gibt, die schon zum Frühstück Chili brauchen. Er braucht bloß Kaffee. Gute Croissants wären fein. Aber die, die man üblicherweise in Österreich bekommt, sind scheußlich. – Was ist mit Sina?
– Ihr Mann ist weg. David spürt, wie er munter wird.
– Er hat sie verlassen?
– Nein, er ist verschwunden. Sie hat mich in der Nacht angerufen. Sie ist ganz verzweifelt, sie sagt, so etwas macht er nicht.
– Habt ihr bei der Fremdenpolizei angerufen? Die schieben Leute ab, auch wenn sie schon ewig bei uns sind. Aber dann hätten sie wohl auch Sina und ihren Sohn abgeschoben. Ich kenne wen, der kennt sich da aus. Ich frage ihn. David spürt, wie er wieder müde wird. Die gestrige Nacht war lang. Er hat den Großteil davon am Laptop verbracht.
– Weißt du, dass sie den Sessler ans Kreuz geschlagen haben? Den Obermacher der Patrioten. Sie haben das wirklich getan, ihn ans Kreuz genagelt.
– Da war keine Polizei. Rami hat den Sohn zur Nachbarin gebracht und gesagt, dass er fortmuss. Ich habe es in den Nachrichten gehört. Im Fernsehen haben sie es nicht gezeigt, das heißt, sie haben nur den Hügel gezeigt, auf dem es offenbar passiert ist. Bei mir in der Gegend. Ich meine, dort, wo meine Großeltern her sind. Weinviertel. Du kannst dich an deine Uroma nicht mehr erinnern ... Eine komische Sache.
– Komisch?
– Eigenartig, wollte ich sagen, wer tut so etwas? Auch wenn mir dieser Sessler nie sympathisch war. Er war so ein Tausendprozentiger, wenn du verstehst, was ich meine. Anderswo hätte er eine Sekte gegründet.
– Das hat was. Eine Partei zu gründen bringt mehr.
– Und was tun seine Anhänger? Die glauben, dass er sie rettet. Da ist mir der Herrgott schon lieber. Ich mag diese Patrioten nicht. Die lügen, wenn sie sich sozial nennen. Richard sagt, die stiften überall Unfrieden und sie wollen die europäische Idee zerstören.
– Dein Richard ist Kommunist.
– Er ist nicht "mein" Richard. David kann nicht sehen, dass sie dabei lächelt und denkt: Es gibt sie, die guten Seiten meines Lebens.
– Und er ist nicht mehr dabei, seit die Russen den Prager Frühling niedergeschlagen haben. Das war lang, bevor du geboren wurdest. Er ist schon länger kein Kommunist mehr, als du lebst.
– Ich habe nichts dagegen.
– Wer, meinst du, hat ihn ans Kreuz geschlagen?
– Im Netz ist wieder einmal von Islamisten die Rede.
– Kein Wunder bei den Anschlägen.
– Oma, heute nennen sie jeden Durchgeknallten einen Islamisten. Der letzte Attentäter war ein Verehrer des Ku-Klux-Klans und hatte Hitlerbilder in der Wohnung.
– Jedenfalls war Sessler sehr anti.
– Anti?
– Anti-Islam. Kannst du nachsehen, was mit Rami los ist?
– Rami?
– Sinas Mann.
– War er radikal? Nicht anti, sondern pro? Islam?
– Quatsch, David, nimm mich nicht auf den Arm. Der ist sicher kein Radikaler.
– Ich hole dich ab, okay? Wir fahren zu Sina. Ich muss erst später in die Redaktion.
– Die können dir überhaupt keine Vorschriften machen, du bist bei denen nicht angestellt. David seufzt.
– Wenn ich einen fixen Job will, dann können sie alles Mögliche verlangen, auch wenn sie es nicht zahlen.
– Du solltest dir doch von mir helfen lassen.
– Oma!
– In Ordnung. Ich brauche noch ein bisschen, aber in einer halben Stunde kannst du mich abholen.
Sina sucht nach Nachrichten. Das Smartphone ist zu klein dafür. Ramis Laptop und Ramis Fotoapparat waren die ersten Dinge, die auf der Flucht verloren gingen. Verloren. Die Türken haben sie einfach genommen. Ohne Erklärung. Rami sieht nicht aus wie einer, der kräftige Männer niederschlägt.
Sie kann zu schlecht Deutsch. Die Augen tränen. Die Schrift ist so klein. Und die Bilder sind es auch. Aber wenn Rami irgendetwas zugestoßen ist, dann steht das vielleicht im Internet. "Flüchtling erschlagen in Wien aufgefunden." "Araber bewusstlos im Straßengraben. Wer ist dieser Mann?" Warum sollte ihn jemand angreifen? Er hat keinem etwas getan. Er sei leider kein Macher, hat Vater gesagt. Sie hat er für ihren starken Willen kritisiert. Sie war eine, die nie stillsitzen konnte. Wie sie gelaufen ist, einfach so, wenn alles aus ihr rausmusste. So lange, bis sie keinen Atem mehr hatte, bis mit der Luft auch die Wut weg war. In den Hügeln rund um das Haus ihrer Großeltern. Ein Mädchen macht das nicht, hat es geheißen, und sie hat sie wieder gehört, die Geschichte von Zenobia, der Königin von Palmyra. Sina kommt von Zenobia, dieser sagenhaften Königin, die sie schon als Kind nicht ausstehen konnte. Weil eine mit so einem Namen natürlich nicht wütend sein darf. Sie darf auch nicht zu laut lachen und schon gar nicht darf sie mit dem Sohn vom Mechaniker heimliche Blicke tauschen. Zenobia hätte auch nie in der Nacht ferngesehen. Was soll das für eine Königin sein, wenn sie nichts macht und nichts darf? Sina wartet, während die nächste Seite lädt. Sie haben ihnen Internet-Verbindungen geschenkt. Das war sehr nett. Man kann sich nicht beschweren, dass sie nicht besonders schnell sind. Das sagenhafte Palmyra. Als die Daesh Palmyra überfallen haben, waren sie gerade auf der Flucht. Man hat Gerüchte gehört. Man hat die Nachrichten in den europäischen Medien herumgereicht und weitererzählt. Es schien, als wäre Europa viel mehr über die Zerstörungen in Palmyra entsetzt als über die Zustände in Homs. In Homs wurde ihr Bruder getötet. Nicht von den Daesh, die sie hier IS nennen, "Islamischer Staat" – als ob diese Mörderbande für den Islam stünde –, sondern von Regierungstruppen. In Homs hatte der Protest gegen Assad begonnen. Omar hat gesagt, der wird aufgeben, der hat in London studiert.
(S. 31-33)
© 2017 Folio Verlag, Wien-Bozen