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Leseprobe: Susanne Scholl - "Reise nach Karaganda."



Die Stadt, die keine mehr ist und doch eine zu sein hat. An jeder Straßenecke sind Sandsäcke aufgebaut, hinter denen Bewaffnete lauern. Bewaffnete mit ausdruckslosen Gesichtern. Kräftige junge Männer mit leeren Augen. Wenn diese leeren Augen die Mädchen betrachten, die in ihren langen Röcken und mit den flott um das dichte Haar geschlungenen Tüchern vorbeigehen, wird es Miriam ängstlich zumute. Sie will nicht wissen, welche Gedanken sich hinter den leeren Augen verbergen. In dieser Stadt, die keine mehr ist und in der doch Menschen leben.
Miriam ist nur zwei kurze Tage lang dort gewesen, mit Viktor, der damals die Fotos machte, mit anderen, für die die Reise in die Stadt, die keine mehr ist, ein wenig Abenteuer im Alltagsleben zu sein schien. Miriam hat die schönen, stolzen Frauen angesehen und sich gefragt, wie sie trotz allem immer noch so schön und stolz und hocherhobenen Hauptes durch ihr elendes Leben gehen konnten.
Woran haben sich ihr Vater und ihre Mutter dort im abweisenden England ihres Exils nur angehalten, fragt sich Miriam, als sie mit Viktor durch die Stadt geht, die keine mehr ist. Woran nur. Die Ruinen, über die sie sich jetzt mühsam ihren Weg bahnt. Die Menschen mit den von Unrecht und Elend hart und unwiederbringlich gewordenen Gesichtern. Die Panzer mit den Männern voller Waffen, die aus leeren Augen auf die Ruinen schauen. All das, so denkt Miriam, hat wohl schon damals begonnen. Sie, das oft beneidete Nachkriegskind, sie weiß das. Die Eltern aber im kalten Exil, ohne Nachricht von den Lieben, die sie zurückgelassen hatten: Die wollten vielleicht auch gar nicht wissen, was geschah in jenem Land, das ihre einzige Hoffnung zu sein schien. Wer sich nicht anhalten konnte an dieser einzigen Hoffnung, der ging unter. So wie jener Cousin, der in Frankreich verschwand, als habe es ihn nie gegeben. So wie jene Cousine, die mit achtzehn Jahren zu alt war, um ein rettendes Schiff besteigen zu dürfen, und deren Spuren sich am Hafen verloren, an jenem Tag, als ihre kleine Schwester sich retten konnte. Die Angst, keine Hoffnung mehr zu haben, keinen Halt, die muss sie wohl dazu gebracht haben zu glauben, ohne zu fragen. Zu glauben auch dann noch, als die braune Barbarei besiegt war.
(S. 63-65)

© 2006, Molden Verlag, Wien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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