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1923 fuhr ich mit dem Zug von Budapest zurück nach Berlin. Ich war elf Jahre alt. Meine Mutter gab mir 40.000 Mark, ein fast zwanzig Zentimeter dickes Bündel Geldscheine, und schickte mich ins Lebensmittelgeschäft an der Ecke um ein Pfund Butter. Vor dem Geschäft stand eine lange Schlange von Menschen, die verzweifelt versuchten hineinzukommen. Sie kämpften mit Zähnen und Klauen. Ständig drängten sich mir Erwachsene vor und stießen mich zurück. Männer und Frauen rempelten einander fluchend und kreischend beiseite. Ich brauchte länger als eine Stunde, bis ich endlich an der Reihe war. Hinter der Verkäuferin stand eine große Tafel, auf der mit Kreide geschrieben stand: Dollarkurs 9 Uhr 1 Dollar = 40.000 Mark. "Ein Pfund Butter, bitte", sagte ich und schob ihr mein Bündel Geldscheine hin. "Einen Augenblick, Kleiner, muß erst noch ans Telefon." Sie hob ab, hörte aufmerksam zu, machte sich Notizen und legte auf. Sie nahm einen großen Schwamm und löschte die Worte auf der Tafel. Mit einem Stück Kreide schrieb sie: Dollarkurs 12 Uhr mittags 1 Dollar = 80.000 Mark Um mich herum brach ein großes Stöhnen aus. Ich verstand nicht, was los war. "Ein Pfund Teebutter", erinnerte ich die Frau. Sie zählte mein Geld: "Tut mir leid, Kleiner. Vor zehn Minuten hätte ich dir's noch gegeben, aber jetzt ..." Sie zeigte auf die Tafel: "Für dein Geld kriegst du nur noch drei Eier. Der Dollar ist wieder gestiegen." "Ich werde meine Mutter fragen, ob das in Ordnung ist." Du solltest dich aber beeilen, Kleiner." Die anderen brüllten mich an, daß ich aus dem Weg gehen sollte. Ich rannte heim und erzählte meiner Mutter, was passiert war. "Lauf, lauf", meinte sie, "sonst bekommst du nicht einmal mehr die Eier." Sie hatte recht. Alles, was ich schließlich und endlich für meine 40.000 Mark bekam, war eine Schachtel Zündhölzer. So lernte ich die große Inflation kennen, die in den frühen Zwanzigern in Deutschland wütete. (S. 108f.)
© 1999, Picus, Wien. Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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