"Das menschliche Leben ist ein geheimnisvolles Gespinst aus schicksalhaften Begegnungen. Und es währt ewig..."
Maria wohnte mit ihren Eltern in einer kleinen Grenzstadt. Sie war dreizehn Jahre alt, als sie an Leukämie starb. Ihre Geschichte erregte bis kurz nach ihrem Tod kein Interesse. Da allerdings wurden drei Briefe bekannt, die sie in den letzten Tagen ihres Lebens an ihre Eltern schrieb - und eine unglaubliche Begebenheit, die sich dahinter verbarg....
An meine Eltern (2)
Mama! Papa!
Ihr müsst mir versprechen, mich nicht für verrückt zu halten! Ich dachte zunächst auch, dass ich träume oder dass ich vom Arzt zu viel Medizin bekommen habe.
Ihr werdet es nicht glauben, dennoch ist es wahr. Auf dem mittleren der Bäume auf dem Hügel vor unserem Haus sitzt ein Mann.
Eigentlich ist es kein Mann. Es ist der Geist eines Soldaten, der im letzten Krieg gefallen ist. Und ich kann ihn sehen. Ich habe keine Ahnung, warum, aber ich sehe ihn. Bitte, bitte, glaubt mir!
Natürlich hatte ich zuerst Angst und war recht misstrauisch, weil ich nicht wusste, wer er ist und was er von mir will. Aber ich denke, er hat nichts Böses im Sinn. Er spricht mit seinen Gedanken zu mir und ich bin sicher, dass er ebenso verwirrt war wie ich, als wir uns zum ersten Mal sahen.
Erst die Begegnung mit mir hat ihm klargemacht, dass er nicht mehr lebt und schon lange gestorben ist. Nun ist er verzweifelt und weiß nicht weiter. Er sagte mir, dass er meine Hilfe brauche. Er spricht von einem Licht, das er unbedingt erreichen müsse, und dass ich ihm vielleicht helfen könne, seinen Weg dorthin zu finden. Ich habe ihm das versprochen und ich will tun, was ich für ihn tun kann.
Mama! Papa!
Ich kann euch nicht sagen, wie glücklich ich bin! Seit ich diesen Soldaten traf, fürchte ich mich viel weniger vor dem Sterben. Der Tod scheint nur ein Durchgang zu sein. Ich weiß jetzt, dass unser Leben weitergeht, auch wenn nachher alles unvorstellbar anders ist.
Das gibt mir Kraft und Zuversicht. Es sollte euch ebenso Mut machen und euch trösten. Wir werden uns alle einmal wieder sehen, irgendwann und irgendwo! Ich habe das immer gehofft und glaube daran. Wir werden in dem Licht vereint sein, das mir der Soldat beschrieb. Vertraut mir!
Ich sehe, was ich sehe!
Ich weiß jetzt auch, warum ich neulich so aufgeregt war: Ich musste hinaus zu den Bäumen. Ich musste diesen Soldaten treffen. Ich bin sicher, dass er mich, ohne es vielleicht selbst zu wissen, gerufen hat. Neugierig wie ich bin, will ich mehr über ihn erfahren. Ich habe euch auf innigste Weise lieb!
Eure Maria
© 2002, Kremayr & Scheriau, Wien. Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.