Warum jeder auf diese Bühne muss, die nur von Scham, Adrenalin und Nacktheit erzählt, weiß ich auch nicht. Auch nicht, warum man nicht sitzen bleiben kann in der ersten Reihe, um sich anzusehen, wie die Anderen sich so machen bei dieser unermesslich pathetischen, mentalen Entblößung. Wir müssen da alle raus, in diese Manege, und unser Bestes geben, dabei hoffen, unser Bestes ist gut genug, um geliebt zu werden und damit leben, wenn die Jury namens „Leben“ uns in die Schranken weist und für nicht gut genug befindet. Die Jury sagt dir dann vielleicht, du solltest noch mehr üben, zudem noch wachsen, dich ein bisschen vorteilhafter kleiden und das nächste Mal wiederkommen, während andere Schauspieler hinter dir bereits das Bühnenbild abbauen. Vielleicht hast du ja dann mehr Glück. Glück im Spiel. Und da ist genau der Punkt. Es ist ein Spiel. Ein bizarres zwar, weil um echte Herzen gepokert wird, aber wir spielen alle mit. Etwas wo alle mitmachen, hinterfragt man schwer. Ein Spiel hat Regeln. Ein Spiel hat immer Regeln, sonst kann man es nicht spielen. Und deshalb müssen die Dinge eben verlaufen, wie sie es immer tun. Es ist eine regelgeleitete Struktur. Wie langweilig und zwecklos wäre eine Partie Schach, wenn man nicht wüsste, wie der Turm den Bauern schlägt. Wir würden vor diesem schwarz-weiß karierten Brett sitzen und uns fragen, was wir mit diesen komischen kleinen Figuren machen sollen, die unterschiedlich aussehen und unterschiedliche Eigenschaften haben. Aber das tun wir nicht. Wir stellen die Figuren in Position, wissen, wo die wertvollen Figuren stehen und ob wir selbst Dame oder doch der Bauer sind. (S. 9f)
© 2011 Epidu Verlag, Aachen.