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Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut


Leseprobe:

Arian rollte eine der Planen zusammen, sie war fast zwei Meter lang und war unhandlich, er allein würde sie nicht tragen können. Er zog sie über die Ladefläche. Yiza folgte ihm. Wieder wimmerte sie. Das konnte Arian nicht leiden. Aber es war keine Zeit, ihr das klarzumachen, ohne ihr eine Hand auf den Mund zu legen, und das wollte er nicht. Er spähte durch die Abdeckung und sprang vom Laster. Yiza hob er herunter. Er klemmte ihr ein Ende der Plane unter den Arm, das andere hielt er fest. So gingen sie über den Platz.
Sie wussten nicht, wo sie waren. Sie sahen die Menschen, die bei einem breiten Tor standen und rauchten. Die schauten zu ihnen herüber. Das war gefährlich. Sie sahen andere Lastwagen und sahen den Hubstapler, der zwischen den Lastwagen herumfuhr. Alle Menschen schauten zu ihnen herüber. Aber sie schienen sich nicht für sie zu interessieren. Arian glaubte, das liege an der Plane. Es sah gut aus, wie sie mit der Plane über den Platz gingen. Es sah aus, als hätten sie eine Aufgabe zu erfüllen. Darum ging Arian nun langsamer. In seinen Taschen steckten die Konserven. Die zogen seine Jacke nach unten. Yiza jammerte nicht mehr.
Auf einer Seite des Platzes konnten sie an der Betonwand des Gebäudes entlangsehen, sie sahen viele Autos stehen. An der oberen Kante des Gebäudes war eine riesige Leuchtschrift. Arian wusste nun, dass sie hinter einem Supermarkt waren. Dass es hier viel zu essen gab. Dass es hier Toiletten gab mit Wasserhähnen, aus denen man trinken konnte. Dass es hier vielleicht einen Nagel finden würde. Einen Stein würde er überall finden.
Gut? , fragte er.
Yiza antwortete nicht.

Als sie getrunken hatten, war Yiza glücklich. Arian hatte noch nie in seinem Leben ein so glückliches Gesicht gesehen. Er hätte sein eigenes Gesicht im Toilettenspiegel sehen können. Es interessierte ihn nicht.

Die Plane war gelb. Schmutzig gelb. Sie war aus Gewebe mit Kunststoff überzogen. Schwarze Buchstaben waren darauf. Arian konnte nicht lesen. Auch in seiner Sprache konnte er nicht lesen: Aber was Buchstaben sind, wusste er. An den Seiten der Plane waren Ösen, so groß wie Münzen. Die Plane beschützte sie. Sie sahen damit aus, als hätte ihnen ein Erwachsener einen Auftrag erteilt. Sie trugen die Plane, und die Menschen dachten, diese Kinder seien gebeten worden, eine Plane zu tragen, man darf sie nicht daran hindern. Das sah Arian in den Gesichtern, die sich ihnen zuwandten.

Sie trugen die Plane durch den Supermarkt, fuhren mit ihr über Rolltreppen nach oben und nach unten.Sie spazierten mit der Plane durch die Lebensmittelabteilung. Einmal blieb Arian stehen und sah Yiza an. Sie war ernst und müde. Er schüttelte den Kopf. Er hielt sein Gesicht nahe an ihres. Und lächelte. Er hatte ernste Augen, aber einen lächelnden Mund.
So, sagte er. Mach so!
Mach so, sagte sie in ihrer Sprache.
So, sagte er und zeigte auf sein Lächeln. Mach so!
Mach so, sagte sie. Aber sie lächelte nicht.
Er hob mit Daumen und Zeigefinger ihre Mundwinkel.
So, sagte er, mach so!
Da lächelte Yiza. Ihr Mund lächelte und ihre Augen lächelten. Mach so, sagte sie in Arians Sprache. Mach so.
Mach so, sagte er.
Dann gingen sie weiter durch die Lebensmittelabteilung, machten so und trugen ihre Plane.

In die zusammengerollte Plane ließ sich viel hineinstecken. Erst schob Arian die Konserven hinein, die seine Jacke so schwer nach unten zogen. Die Plane bog sich in der Mitte durch, aber das machte nichts. Wenn er und Yiza zusammenrückten, war sie wieder gerade.

(S. 91-94)

© 2016 Carl Hanser Verlag, München.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 





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