Ich bin ganz langsam, und so unauffällig wie möglich, zu ihm hinspaziert. Ich habe währenddessen sogar einen Schaumbecher gegessen, den ich mir vorher an einem Süßwarenstand gekauft habe. Ich wollte ja nichts übereilen und, dass niemand Verdacht schöpft. Eigentlich mag ich ja Schaumbecher gar nicht. Aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Quasi als Henkersmahlzeit oder so.
Ich bin mit dem Schaumbecher in der einen und der Sporttasche in der anderen Hand zum Christbaum hin und zirka fünf Meter vor ihm stehen geblieben. Habe die Sporttasche, in der sich die Kettensäge befunden hat, neben mich auf den Boden gestellt und den Schaumbecher aufgegessen. Ich habe ihn regelrecht verschlungen, weil ich es schon nicht mehr erwarten habe können, den Baum zur Verantwortung zu ziehen. Er selbst kann ja einen Schaumbecher nicht essen. Also habe ich mir gedacht: Ich verzehre die Henkersmahlzeit für ihn. Aber klarerweise nicht etwas, das mir schmeckt, sondern etwas, das mir unsympathisch ist. Ich habe sofort an Schaumbecher gedacht. Es gibt nichts, was abscheulicher ist. Außer Gummibären vielleicht, und Mozartkugeln natürlich. Jedenfalls habe ich nicht lange herumüberlegt, was einem Baum schmecken könnte, und mir nicht. Es wäre auch hirnrissig gewesen. Denn was sollte einem Baum schon anderes schmecken als Wasser. Aber Wasser schmeckt mir auch. Deshalb habe ich mich für etwas entschieden, das mir nicht schmeckt und diesen Schaumbecher als Henkersmahlzeit gewählt. Während ich ihn verspeist habe, habe ich dem Baum erklärt, was in den nächsten Sekunden mit ihm passieren wird. Ich war richtig unverschämt, denn ich habe nicht solange gewartet, bis ich mit dem Hinunterschlingen fertig gewesen bin. Ich habe schon darauf los und zu ihm hinauf zu reden begonnen, wie mein Mund noch mit Schaumbecherstücken voll gewesen ist. Eigentlich war es mehr ein Murmeln, weil ich während dem Reden ja auch gekaut habe. Aber der Baum hat schon verstanden. Wahrscheinlich auch gespürt. Gezittert wie Espenlaub hat er allerdings nicht. Auch sonst keinerlei Regung gezeigt. Doch gehört das hat er mich ganz bestimmt. Ich weiß es. Hat doch Ohren wie ein Luchs. Dem war nur völlig egal, was ich gesagt habe. Aber ich habe mich von seiner Überheblichkeit und Präpotenz nicht verunsichern und entmutigen lassen. Den letzten Bissen noch im Mund habe ich schließlich den Reißverschluss der Sporttasche aufgezogen, die Kettensäge gepackt, sie durch kräftiges Ziehen am Startseil noch im Bücken in Gang gebracht und mit aller Kraft in den Baumstamm gedrückt. Der Motorenlärm hat jedes Trommelfell in der Umgebung gelähmt, das Sägeblatt sich zügig durch das Holz gefräst. Späne sind durch die Luft gewirbelt, und dann: dieses wundervolle, herzerwärmende Knacken und Krachen. Es war eine Befreiung. Ich habe vor lauter Freude anfangen müssen zu juchzen und zu lachen. Ich habe nicht mehr aufhören können. Auch dann nicht, wie man mich bereits auf das Heftigste attackiert hat, mir die noch eingeschaltete Säge brutal aus der Hand gerissen hat, Tritt um Tritt, Schlag um Schlag auf mich niedergehagelt sind: Ich habe weiterlachen müssen. Auch wie mir längst Tränen über die Wangen gelaufen sind vor Schmerz, habe ich noch gelacht. Angesichts meines überwältigenden Triumphes habe ich lachen müssen. Diese Gefühl der Befreiung war riesengroß. Denn ich hatte es geschafft. Jaaa!
Ich habe es geschafft, kann ich jetzt voller Stolz sagen. Denn immer nur brav sein, sich keinen Muckser machen trauen; immer nur das tun, was angeschafft ist; immer nur nicken und ja ja sagen zu allem; das geht doch nicht! Es muss auch widersprochen sein. Und zwar laut und deutlich. Damit es jeder hört. Grund, mich zu schämen, habe ich aus meiner Sicht nicht. Ich bin doch nur meiner inneren Stimme, meinem Glauben gefolgt. Ich habe aus tiefster Überzeugung gehandelt. Und wer aus Überzeugung handelt, handelt gut. Es spielt keine Rolle, ob die Handlung sinnvoll ist oder nicht. Darum geht es nicht. Es geht alleine ums Tun. Eine Handlung kann keinen Sinn haben und trotzdem gut sein und richtig. Den Sinn muss immer der einzelne für sich finden. Objektiv mag etwas idiotisch erscheinen, aber für den, der es tut, ist es das nicht, sondern das Sinnvollste und Beste, was es gibt.
© 2012 Kitab Verlag, Klagenfurt.