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Walter Grond: Drei Lieben.


Leseprobe (S. 40-43):


Ja die Welt schien zu verstummen, als der Zug abfuhr. Ihr Ziel würde ein Anderswo-Baku sein. Nun aber bewegte sich der Mund eines Sitznachbarn, ohne dass ein Laut aus ihm kam. Die Lippen meines Großvaters blieben geschlossen, und seine Augen regungslos. Sie wusste nicht, ob die Kälte von ihrem Inneren ausging und sich auf die anderen übertrug, oder ob er sie an der Hand genommen und eingefroren hatte.
Auf dem Schiff, das sie über das Schwarze Meer nach Istanbul brachte (meine Großmutter Jale sprach noch von Konstantinopel), war die Stille noch unheimlicher, umso mehr, weil es im Sturm schwankte und meterhohe Wellen auf das Deck schlugen. Die Welt war von streitenden und drängelnden Flüchtlingen voll. Alles schwankte. Am schlimmsten pendelten die bläulichen Lampen unter Deck hin und her. Es quälte sie, nicht zu wissen, ob sie schlief oder wach war. Sie blickte ins Schwarze. Mein Großvater hatte im Zug die ganze Zeit über aus dem Fenster gestarrt, und starrte nun auf dem Schiff auf den endlosen Horizont. Sie konnte in seinen trüben Augen nicht lesen, warum er auf diese Ebene aus Wasser glotzte, die in den Himmel überging.
In Istanbul mussten sie auf das Visum und auf den Tag warten, da sie den Orientexpress nach Paris besteigen dürften. Sie staunte über die fast hysterische Ausgelassenheit vieler Mitreisender. Männer, in Baku noch Herren, feilschten und randalierten in den russischen Lokalen, die sich etabliert hatten, und nicht wenige Frauen, in Baku überaus damenhaft, boten sich als Kurtisanen an. Champagner floss, melancholische Lieder erfüllten die Gaststuben, die Sehnsucht nach dem verlorenen Vermögen, nach dem verlorenen Vaterland, nach dem verlorenen Zaren und der verlorenen Kirche.
Mein Großvater hätte es sich nie träumen lassen, einmal im Orientexpress, dem König der Züge und Zug der Könige, Europa zu durchqueren. Obwohl die Schlaf- und Speisewagen völlig überfüllt waren, Chaos herrschte und jegliche Hygiene unmöglich war, ließ sich das Flair von Samt und edlem Holz erahnen, all der Luxus, der in diesem fahrenden Hotel geboten worden war. Über Sofia und Belgrad und Budapest näherte sich der Express Wien, durch verwüstetes Land, und da er in der Stadt des abgedankten Kaisers ankam, spürte mein Großvater einen Schmerz in seiner Brust. Drängte es ihn hinaus auf den Bahnsteig, wo er einen Zug in sein Dorf hätte nehmen können? Brannte das Heimweh in ihm?
Meine Großmutter Jale sah nur sein versteinertes Gesicht, kalkweiß, und die Schweißperlen auf der Stirn. Er schien zu verfallen. Viel später gestand er ihr, sich in diesen Augenblicken das Foto vorgestellt zu haben, das gewiss in der Gemeindestube hing, Frauen und Männer, die vor einem Pferdekarren posieren, bereit für den Aufbruch, vor der Dorflinde, dahinter ist ein Bach zu erkennen. Am unteren Rand steht in fein säuberlicher Handschrift geschrieben, "Abschied aus dem Dorf". Die Männer tragen ihren besten Gehrock und einen mächtigen Schnurrbart, die Frauen ihre Sonntagstracht. In ihren Augen spiegeln sich die Ehrfurcht vor dem Fotografen hinter der imposanten Plattenkamera gleich wie ihr Stolz, mit dem sie dem Kaiser in den Krieg folgen, und wiederum gleich wie die Angst um ihr Leben.
Ungepflasterte Wege führen durch das Dorf. Pferde und Ochsen sind vor die Karren gespannt. Die niederen Häuser mit ihren steilen Dächern und kleinen Fenstern wirken verlassen, und das Amtshaus und die Schule wie steinerne Boten einer anderen Welt. Sobald der Gutsherr ins Bild tritt, gibt es ein Auto, Fahrräder und junge Leute in Tenniskleidung. Es ist ein Dorf in einem engen Tal, die steilen Hänge werden mühsam bewirtschaftet, an den Wegen Obstbäume gepflanzt. Im Winter liegt Nebel über dem Tal, dann verwandeln sich die entlaubten Buchen zu Wächtern und die Nadelbäume zu Schirmherren gegen ein Heer von bösen Geistern, das von hinter dem Berg heranrückt.
Und vor seinen Augen, erzählte er ihr, war nun der Novembertag vor drei Jahren aufgetaucht, als er sich früher als üblich auf den Heimweg vom Gemeindeamt zu seinem Haus gemacht und eine böse Überraschung erlebt hatte. Auf der Ablage des Sekretärs war nämlich ein offenes Briefchen gelegen, das ihn ins kalte Nichts hinauskatapultierte.

© 2017 Haymon Verlag, Innsbruck - Wien







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